Das demnächst in der 3. Auflage erscheinende, hochgelobte und längst zum Standardwerk avancierte Buch gibt einen umfassenden und aktuellen Überblick über das gesamte Gebiet der musikalischen Begabungs- und Entwicklungsforschung. Dabei wird nicht nur auf die Berücksichtigung der jüngsten Forschungsergebnisse Wert gelegt, sondern auch auf die Bezüge zu Musikkultur und Musikpädagogik. Als verständlich geschriebenes und übersichtlich aufgebautes Lehrbuch soll es zu musikalischer Begabung und Entwicklung zuverlässig Auskunft und Orientierung geben. Der Adressatenkreis umfasst Musikpädagogen, Musikwissenschaftler, Pädagogen, Musiker, Psychologen, Musiktherapeuten und musikinteressierte Laien.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1999Schrille, wem Geschrill gegeben
Heiner Gembris erklärt, warum es keinen objektiven Begriff der musikalischen Begabung gibt
Im biblischen Palästina und im antiken Griechenland war das Talent als höchste Gewichts- und Maßeinheit eine exakt messbare Größe. Das Bibelgleichnis vom aktiv vermehrten Geld und vom nutzlos verborgenen Talent ist auf die überragende Begabung übertragbar, für die das Wort seit dem Verschwinden der materiellen Grundbedeutung ausschließlich gilt. Leider ist die Geistesgabe, die musikalische zumal, (noch) nicht präzis messbar, und da "Musikalität" sich im durchrationalisierten, pragmatischen Gesellschaftsleben heute nicht konkret nutzbar machen lässt, gilt sie für entbehrlich. Dieselben Politiker, die an der Musik sparen, möchten doch, fragt man sie "als Menschen", auf sie nicht verzichten. Sie befriedigt offenbar ein Grundbedürfnis.
Aber was ist denn eigentlich Musikalität? Der Chirurg Theodor Billroth musste nach eigenen Theorie- und Definitionsversuchen gegenüber dem Wiener Kritiker Eduard Hanslick bekennen, "wie compliciert dieser Begriff" doch sei. Robert Schumann hat in seinen "Musikalischen Haus- und Lebensregeln" immerhin die sensumotorische, kognitive und emotionale Komponente klar benannt: "Was heißt denn aber musikalisch sein? Wenn du Musik nicht allein in den Fingern, sondern auch im Kopf und Herzen hast." Und er deutet auch schon den heute heiß umstrittenen Anteil von Erbanlage und Umwelt an: "Liebes Kind, die Hauptsache, ein scharfes Ohr, schnelle Auffassungskraft, kommt von Oben. Aber es lässt sich die Anlage bilden und erhöhen."
Trotz aller Anschaulichkeit ist Schumanns treffende Begriffsbestimmung wissenschaftlich natürlich viel zu grobkörnig. Wie komplex und dynamisch musikalische Begabung eigentlich ist, wie stark historische, ideologische, wertorientierte, lebensalterliche Kräfte verändernd hineinspielen, hat Heiner Gembris, Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, in seinem - im deutschsprachigen Raum derzeit wohl umfassendsten und aktuellsten - Überblick über die Begabungsforschung dargestellt. Empirische Untersuchungen, mit denen musikalische Begabung möglichst dingfest gemacht werden soll, beschreibt er nicht nur klar und fast gar nicht umständlich, er bewertet sie auch in ihrer kulturellen, historischen, lebensprägenden Bedeutung. Der Verfasser entwickelt so aus Robert Schumanns gedanklichen Grundpfeilern ein Themengebäude, in dem er immer wieder auch auf Leerstellen, Forschungsdefizite, verweist, etwa bei der erst in den letzten Jahren aufgegriffenen Begabungsentwicklung im höheren Alter.
Alltagsvorurteil (etwa vom angeblich unmusikalischen "Brummer") und wissenschaftliche Einsicht, die dennoch mitunter von der Erfahrung - etwa des Musiklernenden oder des Berufsmusikers - ausgeht, klaffen weit auseinander. Die Wandelbarkeit des Phänomens wird auch im Blick auf die Geschichte der Forschung und ihrer Theoriesysteme selbst deutlich. Kritisch überprüft der Autor Testmethoden und Erklärungsmodelle für musikalische Leistungen. Er kreist das Wechselverhältnis von Vererbung und Umwelt, musikalischer Begabung und Persönlichkeitsprofil, theoretischer und empirischer Befunde gewissenhaft ein. In der Forschung bisher vernachlässigte Bereiche wie Popkultur, das Verhältnis kompositorischer Kreativität zum Lebensalter oder musikalische Entwicklungsphasen in verschiedenen Altersstufen werden besonders berücksichtigt.
Auch auf die Bedeutung der Musikalitätsforschung für die Musikpraxis, ja für die Kulturpolitik geht Gembris ausführlich ein. Am Ende der anregenden, mitunter spannenden interdisziplinären Lektüre hat der Leser Einblick gewonnen in ein Netzwerk aus Kultur- und Forschungsgeschichte, Physiologie, Psychologie und nicht zuletzt Musik. Mitten in diesem an sich schon unauslotbaren Themenkomplex bewegt sich, spinnenartig, schillernd, die "Musikalität". Auch nach fast fünfhundert Seiten weiß der Leser noch nicht, was Musikalität "eigentlich" ist, und er ist versucht, mit Billroth auszurufen: "In mir ist alles Chaos." Doch das liegt nicht an Gembris, dem geschickten Führer durch das Labyrinth der Begriffe und Methoden. Die Musikalität bildet eben, als unlösbarer Bestandteil des Menschen, dessen Vieldeutigkeit ab.
ELLEN KOHLHAAS
Heiner Gembris: "Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung". Reihe Wißner Lehrbuch Band 1 / Forum Musikpädagogik, Band 20. Verlag Bernd Wißner, Augsburg 1998. 482 S., br., 59,- DM.
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Heiner Gembris erklärt, warum es keinen objektiven Begriff der musikalischen Begabung gibt
Im biblischen Palästina und im antiken Griechenland war das Talent als höchste Gewichts- und Maßeinheit eine exakt messbare Größe. Das Bibelgleichnis vom aktiv vermehrten Geld und vom nutzlos verborgenen Talent ist auf die überragende Begabung übertragbar, für die das Wort seit dem Verschwinden der materiellen Grundbedeutung ausschließlich gilt. Leider ist die Geistesgabe, die musikalische zumal, (noch) nicht präzis messbar, und da "Musikalität" sich im durchrationalisierten, pragmatischen Gesellschaftsleben heute nicht konkret nutzbar machen lässt, gilt sie für entbehrlich. Dieselben Politiker, die an der Musik sparen, möchten doch, fragt man sie "als Menschen", auf sie nicht verzichten. Sie befriedigt offenbar ein Grundbedürfnis.
Aber was ist denn eigentlich Musikalität? Der Chirurg Theodor Billroth musste nach eigenen Theorie- und Definitionsversuchen gegenüber dem Wiener Kritiker Eduard Hanslick bekennen, "wie compliciert dieser Begriff" doch sei. Robert Schumann hat in seinen "Musikalischen Haus- und Lebensregeln" immerhin die sensumotorische, kognitive und emotionale Komponente klar benannt: "Was heißt denn aber musikalisch sein? Wenn du Musik nicht allein in den Fingern, sondern auch im Kopf und Herzen hast." Und er deutet auch schon den heute heiß umstrittenen Anteil von Erbanlage und Umwelt an: "Liebes Kind, die Hauptsache, ein scharfes Ohr, schnelle Auffassungskraft, kommt von Oben. Aber es lässt sich die Anlage bilden und erhöhen."
Trotz aller Anschaulichkeit ist Schumanns treffende Begriffsbestimmung wissenschaftlich natürlich viel zu grobkörnig. Wie komplex und dynamisch musikalische Begabung eigentlich ist, wie stark historische, ideologische, wertorientierte, lebensalterliche Kräfte verändernd hineinspielen, hat Heiner Gembris, Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, in seinem - im deutschsprachigen Raum derzeit wohl umfassendsten und aktuellsten - Überblick über die Begabungsforschung dargestellt. Empirische Untersuchungen, mit denen musikalische Begabung möglichst dingfest gemacht werden soll, beschreibt er nicht nur klar und fast gar nicht umständlich, er bewertet sie auch in ihrer kulturellen, historischen, lebensprägenden Bedeutung. Der Verfasser entwickelt so aus Robert Schumanns gedanklichen Grundpfeilern ein Themengebäude, in dem er immer wieder auch auf Leerstellen, Forschungsdefizite, verweist, etwa bei der erst in den letzten Jahren aufgegriffenen Begabungsentwicklung im höheren Alter.
Alltagsvorurteil (etwa vom angeblich unmusikalischen "Brummer") und wissenschaftliche Einsicht, die dennoch mitunter von der Erfahrung - etwa des Musiklernenden oder des Berufsmusikers - ausgeht, klaffen weit auseinander. Die Wandelbarkeit des Phänomens wird auch im Blick auf die Geschichte der Forschung und ihrer Theoriesysteme selbst deutlich. Kritisch überprüft der Autor Testmethoden und Erklärungsmodelle für musikalische Leistungen. Er kreist das Wechselverhältnis von Vererbung und Umwelt, musikalischer Begabung und Persönlichkeitsprofil, theoretischer und empirischer Befunde gewissenhaft ein. In der Forschung bisher vernachlässigte Bereiche wie Popkultur, das Verhältnis kompositorischer Kreativität zum Lebensalter oder musikalische Entwicklungsphasen in verschiedenen Altersstufen werden besonders berücksichtigt.
Auch auf die Bedeutung der Musikalitätsforschung für die Musikpraxis, ja für die Kulturpolitik geht Gembris ausführlich ein. Am Ende der anregenden, mitunter spannenden interdisziplinären Lektüre hat der Leser Einblick gewonnen in ein Netzwerk aus Kultur- und Forschungsgeschichte, Physiologie, Psychologie und nicht zuletzt Musik. Mitten in diesem an sich schon unauslotbaren Themenkomplex bewegt sich, spinnenartig, schillernd, die "Musikalität". Auch nach fast fünfhundert Seiten weiß der Leser noch nicht, was Musikalität "eigentlich" ist, und er ist versucht, mit Billroth auszurufen: "In mir ist alles Chaos." Doch das liegt nicht an Gembris, dem geschickten Führer durch das Labyrinth der Begriffe und Methoden. Die Musikalität bildet eben, als unlösbarer Bestandteil des Menschen, dessen Vieldeutigkeit ab.
ELLEN KOHLHAAS
Heiner Gembris: "Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung". Reihe Wißner Lehrbuch Band 1 / Forum Musikpädagogik, Band 20. Verlag Bernd Wißner, Augsburg 1998. 482 S., br., 59,- DM.
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