Als Instanzen der Beschreibung moderner Gesellschaften gewinnen die Kulturwissenschaften immer mehr an Bedeutung. Rund 100 Autoren aus diversen Fachgebieten haben in diesem Handbuch ihre Forschungen zu den Methoden und Themen der Kulturwissenschaft zusammengetragen. Sie stellen damit die junge Disziplin auf ein theoretisches Fundament und geben einen Ausblick auf künftige Entwicklungen. Der erste Band "Grundlagen und Schlüsselbegriffe" thematisiert die wesentlichen Gesichtspunkte wie Erfahrung, Sprache, Handlung, Identität, Geschichte und Zeit und setzt sie der "gelebten" Kultur und ihren lebenspraktischen Auswirkungen gegenüber.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2004Etwas mehr Disziplin, meine Herren aus Essen!
Das Handbuch der Kulturwissenschaften hantiert mit einem erfahrungsarmen Erfahrungsbegriff
Handbücher sind heute nur als das Produkt einer Vielzahl von Autoren möglich. Kein einzelner wäre in der Lage, über alle Spezialgebiete einer Wissenschaft informiert Auskunft zu geben und die unterschiedlichen Paradigmen zur Einheit einer übergreifenden Theorie zusammenzuführen. Was für die Wissenschaften generell gilt, gilt zumal für den jungen Sproß der "Kulturwissenschaften". Wohl taucht dieser Name zum ersten Mal bereits an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, vor allem im Umkreis des Neukantianismus, auf - und schon damals als Alternative zum Konzept der Geisteswissenschaften. Mit dem Verblassen der neukantianischen formalistischen Fundierungsversuche gerät aber auch das neue Konzept wieder aus dem Blick. Erst in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts bricht es sich Bahn, nun vor allem im Umkreis der in Birmingham begründeten "Cultural Studies". Eine vom Wissenschaftsrat und der Westdeutschen Rektorenkonferenz eingesetzte Projektgruppe argumentiert zu dieser Zeit wissenschaftspolitisch. Vom Konzept der Kulturwissenschaften verspricht man sich hier die Modernisierung und Internationalisierung der Geisteswissenschaften.
Die Situation ist seither durch eine prekäre Zwischenlage gekennzeichnet. Einerseits haben kulturalistische Deutungen zunehmend an Gewicht gewonnen. Daß Gesellschaften auch und vor allem als "symbolische Ordnungen" und "Interpretationsgemeinschaften" zu verstehen sind, in denen es fortwährend darum geht, Bedeutungen und Sinn auszuhandeln, ist nicht zuletzt in Zeiten aktuell, in denen interkulturelle Verständigung und ein drohender "Kampf der Kulturen" zur Alltagserfahrung gehören. Andererseits ist das Selbstverständnis der sogenannten Kulturwissenschaften nach wie vor nicht geklärt. Dazu gehört auch die Frage, ob man von ihnen im Plural sprechen oder sie in den Singular überführen sollte. Letzteres bedeutete, den Versuch einer systematischen Grundlegung wieder aufzugreifen, wie er sich von Dilthey über Rickert und Cassirer bis hin zu Gadamer und der Semiotik zieht.
Diese Fundierungsunternehmungen müssen aber wohl als eine große Geschichte des Scheiterns angesehen werden. Daher wäre ein Ansatz, der zunächst einmal von der Pluralität der Fachwissenschaften ausgeht, allemal vorzuziehen. Die zentrale Gefahr liegt hier allerdings darin, daß der Kulturbegriff und die ihm zugeordneten Wissenschaften restlos zersplittern.
Als ein Ausweg aus dieser unergiebigen Alternative bietet sich freilich an, bestimmte Fragestellungen und Forschungsperspektiven herauszustellen und sie in den verschiedenen Disziplinen fruchtbar zu machen. Ebendies ist das Plädoyer des Handbuchs, das aus dem Arbeitszusammenhang des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen hervorgegangen ist. In drei voluminösen Bänden versucht es, die inter- oder gar transdisziplinäre "Vernetzung" durch die Bündelung heuristischer Perspektiven voranzubringen. Am Ende hält man aber leider doch wieder viele unverbundene Stränge und lose Fäden in der Hand.
Sehr plausibel ist zunächst der Einstieg über sechs "Schlüsselbegriffe" und gelungen dabei vor allem die Explikation von "Geschichte". Aber für alle anderen Begriffe gilt die Formel: Weniger wäre mehr. Für "Sprache", "Handlung", "Geltung" und "Identität" wären die informativen und uneitlen Artikel von John Michael Krois, Karl Hörning, Christoph Jamme, Matthias Kettner und Jürgen Straub ausreichend gewesen. Und der Begriff der "Erfahrung", den die Herausgeber an die erste Stelle gesetzt haben, um daran zu erinnern, daß die Kulturwissenschaften auf die lebensweltlichen Herausforderungen des zwanzigsten Jahrhunderts zu reagieren haben, bleibt vollends konturlos.
Gleiches läßt sich für den zweiten Band konstatieren. Er stellt zu Recht die leitenden Paradigmen der Sprache und der Handlung im Kontext unterschiedlicher Theorien vor, von der Systemtheorie über die Hermeneutik bis zur Diskursanalyse. Er bietet zudem ein sehr aufschlußreiches Kapitel, das die verschiedenen Disziplinen, von der Ethnologie über die Psychologie und Pädagogik bis zur Philosophie, aus kulturwissenschaftlicher Perspektive vorstellt. Die anderen Kapitel muß man jedoch eher als eine Verlegenheit auffassen, mit Beiträgen am falschen Ort und Autoren, die zum x-ten Male nur ihre eigene Theorie unters Volk bringen wollen.
Diese Tendenz steigert sich mit dem dritten Band, der "Themen und Tendenzen" der aktuellen kulturwissenschaftlichen Forschung beleuchtet. Und dies unter ausdrücklichem Verzicht darauf, sie auf die Schlüsselbegriffe des ersten Bandes zu beziehen. So muß das Handbuch sein selbstgestecktes Ziel verfehlen, einen "Überblick" zu bieten, "der mehr ist als nur eine Bestandsaufnahme", und eine "Ordnung in die Debatte zu bringen". Etwas mehr konzeptuelle Durchdringung und etwas mehr Disziplin hätten dem Buch gewiß gutgetan. In seiner jetzigen Form kann man ihm den Vorwurf nicht ersparen, es widerstehe zu wenig der modischen Tendenz zur - im doppelten Sinn des Wortes - Entdisziplinierung.
JOSEF FRÜCHTL
"Handbuch der Kulturwissenschaften". Herausgegeben von Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch, Jörn Rüsen, Jürgen Straub. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Band 2: Paradigmen und Disziplinen. Band 3: Themen und Tendenzen. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart, Weimar 2004. Zus. XLI, 1783 S., geb., 179,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Handbuch der Kulturwissenschaften hantiert mit einem erfahrungsarmen Erfahrungsbegriff
Handbücher sind heute nur als das Produkt einer Vielzahl von Autoren möglich. Kein einzelner wäre in der Lage, über alle Spezialgebiete einer Wissenschaft informiert Auskunft zu geben und die unterschiedlichen Paradigmen zur Einheit einer übergreifenden Theorie zusammenzuführen. Was für die Wissenschaften generell gilt, gilt zumal für den jungen Sproß der "Kulturwissenschaften". Wohl taucht dieser Name zum ersten Mal bereits an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, vor allem im Umkreis des Neukantianismus, auf - und schon damals als Alternative zum Konzept der Geisteswissenschaften. Mit dem Verblassen der neukantianischen formalistischen Fundierungsversuche gerät aber auch das neue Konzept wieder aus dem Blick. Erst in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts bricht es sich Bahn, nun vor allem im Umkreis der in Birmingham begründeten "Cultural Studies". Eine vom Wissenschaftsrat und der Westdeutschen Rektorenkonferenz eingesetzte Projektgruppe argumentiert zu dieser Zeit wissenschaftspolitisch. Vom Konzept der Kulturwissenschaften verspricht man sich hier die Modernisierung und Internationalisierung der Geisteswissenschaften.
Die Situation ist seither durch eine prekäre Zwischenlage gekennzeichnet. Einerseits haben kulturalistische Deutungen zunehmend an Gewicht gewonnen. Daß Gesellschaften auch und vor allem als "symbolische Ordnungen" und "Interpretationsgemeinschaften" zu verstehen sind, in denen es fortwährend darum geht, Bedeutungen und Sinn auszuhandeln, ist nicht zuletzt in Zeiten aktuell, in denen interkulturelle Verständigung und ein drohender "Kampf der Kulturen" zur Alltagserfahrung gehören. Andererseits ist das Selbstverständnis der sogenannten Kulturwissenschaften nach wie vor nicht geklärt. Dazu gehört auch die Frage, ob man von ihnen im Plural sprechen oder sie in den Singular überführen sollte. Letzteres bedeutete, den Versuch einer systematischen Grundlegung wieder aufzugreifen, wie er sich von Dilthey über Rickert und Cassirer bis hin zu Gadamer und der Semiotik zieht.
Diese Fundierungsunternehmungen müssen aber wohl als eine große Geschichte des Scheiterns angesehen werden. Daher wäre ein Ansatz, der zunächst einmal von der Pluralität der Fachwissenschaften ausgeht, allemal vorzuziehen. Die zentrale Gefahr liegt hier allerdings darin, daß der Kulturbegriff und die ihm zugeordneten Wissenschaften restlos zersplittern.
Als ein Ausweg aus dieser unergiebigen Alternative bietet sich freilich an, bestimmte Fragestellungen und Forschungsperspektiven herauszustellen und sie in den verschiedenen Disziplinen fruchtbar zu machen. Ebendies ist das Plädoyer des Handbuchs, das aus dem Arbeitszusammenhang des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen hervorgegangen ist. In drei voluminösen Bänden versucht es, die inter- oder gar transdisziplinäre "Vernetzung" durch die Bündelung heuristischer Perspektiven voranzubringen. Am Ende hält man aber leider doch wieder viele unverbundene Stränge und lose Fäden in der Hand.
Sehr plausibel ist zunächst der Einstieg über sechs "Schlüsselbegriffe" und gelungen dabei vor allem die Explikation von "Geschichte". Aber für alle anderen Begriffe gilt die Formel: Weniger wäre mehr. Für "Sprache", "Handlung", "Geltung" und "Identität" wären die informativen und uneitlen Artikel von John Michael Krois, Karl Hörning, Christoph Jamme, Matthias Kettner und Jürgen Straub ausreichend gewesen. Und der Begriff der "Erfahrung", den die Herausgeber an die erste Stelle gesetzt haben, um daran zu erinnern, daß die Kulturwissenschaften auf die lebensweltlichen Herausforderungen des zwanzigsten Jahrhunderts zu reagieren haben, bleibt vollends konturlos.
Gleiches läßt sich für den zweiten Band konstatieren. Er stellt zu Recht die leitenden Paradigmen der Sprache und der Handlung im Kontext unterschiedlicher Theorien vor, von der Systemtheorie über die Hermeneutik bis zur Diskursanalyse. Er bietet zudem ein sehr aufschlußreiches Kapitel, das die verschiedenen Disziplinen, von der Ethnologie über die Psychologie und Pädagogik bis zur Philosophie, aus kulturwissenschaftlicher Perspektive vorstellt. Die anderen Kapitel muß man jedoch eher als eine Verlegenheit auffassen, mit Beiträgen am falschen Ort und Autoren, die zum x-ten Male nur ihre eigene Theorie unters Volk bringen wollen.
Diese Tendenz steigert sich mit dem dritten Band, der "Themen und Tendenzen" der aktuellen kulturwissenschaftlichen Forschung beleuchtet. Und dies unter ausdrücklichem Verzicht darauf, sie auf die Schlüsselbegriffe des ersten Bandes zu beziehen. So muß das Handbuch sein selbstgestecktes Ziel verfehlen, einen "Überblick" zu bieten, "der mehr ist als nur eine Bestandsaufnahme", und eine "Ordnung in die Debatte zu bringen". Etwas mehr konzeptuelle Durchdringung und etwas mehr Disziplin hätten dem Buch gewiß gutgetan. In seiner jetzigen Form kann man ihm den Vorwurf nicht ersparen, es widerstehe zu wenig der modischen Tendenz zur - im doppelten Sinn des Wortes - Entdisziplinierung.
JOSEF FRÜCHTL
"Handbuch der Kulturwissenschaften". Herausgegeben von Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch, Jörn Rüsen, Jürgen Straub. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Band 2: Paradigmen und Disziplinen. Band 3: Themen und Tendenzen. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart, Weimar 2004. Zus. XLI, 1783 S., geb., 179,- [Euro].
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"Erfahrung, Sprache, Handlung, Geltung und Geschichte - eine Klärung der analytischen Kraft dieser Begriffe strebt der erste von drei Bänden eines großen Vorhabens an, des 'Handbuchs der Kulturwissenschaften', den Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch herausgegeben haben. Nach zwei Jahrzehnten intensiver Debatten über 'Kultur' sei es weder gelungen, das theoretische Gerüst gefestigt, noch den Mehrwert gegenüber anderen geisteswissenschaftlichen Theorien nachgewiesen zu haben, heißt es. Deshalb ist ein Sammelwerk über die Schlüsselbegriffe der Kulturwissenschaften eine willkommene Bestimmung ihrer Leistungsfähigkeit. Jaeger und Liebsch setzen auf die Vielfalt der Ansätze..." - Süddeutsche Zeitung