Zum Jubiläum von Immanuel Kants 200. Todestag erscheint Dieter Henrichs umfassende Rekonstruktion der Vorgeschichte des Deutschen Idealismus, die ein Ereignis der Philosophiegeschichtsschreibung ist: Dieter Henrich zeichnet die für die Entstehung des Deutschen Idealismus entscheidende Rezeption des Kantischen Denkens gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach und liefert damit einen maßgeblichen Beitrag zu einer der zentralen Phasen der Philosophiegeschichte überhaupt. Ausgangs-und Bezugspunkt ist dabei das Denken Immanuel Kants: In den beiden Jahrzehnten, in denen Kant sein Werk vollendete, durchlief auch die Bewegung des nachkantischen Denkens ihren Weg bis zum Zenit. Eine große Zahl gänzlich neuer philosophischer Entwürfe ist in kurzer Zeit entstanden. In der Geschichte des Denkens ist eine solche Kreativität ohne Beispiel. Grundlegung aus dem Ich versucht, diese außergewöhnliche theoretische Produktivität im konkreten Zusammenhang mit den individuellen Lebenssituationen der Protagonisten zu vergegenwärtigen, aus denen sich diese Dynamik erklärt. Zu den Rätseln, welche sie seit langem aufgibt, gehört die Tatsache, daß sich die kreative Kraft der nachkantischen Entwicklung vor allem an zwei Orten entfaltete: im Tübinger Stift und an der Universität Jena. Die Untersuchungen decken - weitgehend aus unbekannten Dokumenten - die Diskussionslage an diesen Orten und die Verbindungen zwischen ihnen auf. Dabei konzentrieren sie sich auf Denkversuche und Debatten von Kantianern der Generation, die Hegel, Hölderlin und Schelling um wenige Jahre vorausging. Dieser Prozeß vollzog sich in einer ständigen Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Werk Kants zu verstehen und neu zu formulieren sei.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2004Das Ich des Repetenten
Am Ursprung des Idealismus: Dieter Henrichs Opus magnum
Es war vor gut dreißig Jahren. Jürgen Habermas sprach öffentlich über die richtige philosophische Position und fand, wir bewegten uns doch alle "auf dem Bindestrich zwischen Kant und Hegel". So einfach war das damals: Es gab Kant, und es gab Hegel, und zwischen beiden sah Habermas einen "Bindestrich". Natürlich wußte man etwas von Fichte und Schelling; Wolfgang Cramer sprach in seinen Frankfurter Vorlesungen der fünfziger Jahr ausführlich und intensiv über Karl Leonhard Reinhold und den Anaesidemus-Schulze. Es erschien dann eine Anzahl von Untersuchungen zur Entwicklung Fichtes; es gab Diskussionen über das älteste "Systemfragment" des deutschen Idealismus und damit über Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dem jungen Schelling, Hölderlin und Hegel. Man wurde aufmerksam auf die schultreuen Kantianer und auf die Gegner Kants. Kants Kritik der reinen Vernunft erschien 1781 in der ersten Auflage. Es folgten einige Jahre perplexen Staunens der Fachkollegen über die neuartige Konzeption und das Achthundert-Seiten-Buch, aber gegen Ende des Jahrzehnts war die Debatte für und gegen Kant voll im Gange. Während Frankreich die Republik erkämpfte, diskutierten die Deutschen ihre neue "Kopernikanische Wende".
Wo Habermas einen Bindestrich sah, stehen heute ein Dutzend Personen, manche von ihnen in rasanter intellektueller Entwicklung; wir sehen komplizierte Netze der Kommunikation und wechselseitiger Kritik. Spötter machten sich schon lustig über die zur Mode gewordene übergenaue Differenzierung, die es erforderte, von der "Spätphase des frühen Schelling" zu sprechen. Kurz: das Zwischengelände ist heute unübersichtlicher, als man sich das früher vorstellen konnte. Der Reichtum intellektueller Positionen der Zeit von 1789 bis 1799 und die Vielzahl neuer Forschungsergebnisse schreien geradezu nach einem souveränen Kenner, der die Entwicklung überschaut und die Gewichte mit philosophischer Einsicht neu verteilt. Niemand wäre berufener als Dieter Henrich für die erforderliche differenzierende Neugewichtung, aber wer seine Ankündigung des monumentalen Werkes "Grundlegung aus dem Ich" dahin verstanden hätte, jetzt endlich habe ein Meister des Fachs die Frühgeschichte des Idealismus geschrieben, muß noch einmal umlernen. Das Riesenbuch behandelt die Vorgeschichte des Idealismus, nicht seine erste Entfaltung. Henrichs großer Wurf ist ein Unikum: Er erörtert auf 1740 Seiten die Philosophiegeschichte der Jahre 1790 bis 1794 und stellt dabei einen Philosophen in den Mittelpunkt, der in keinem Philosophenlexikon vorkommt und der kein philosophisches Buch geschrieben hat, einen gewissen Immanuel Carl Diez.
Dieser Diez wird hier zur Schlüsselfigur einer philosophischen Entwicklung, die von Kant zu Schelling, Hölderlin und Hegel geführt hat, aber dieser Nachweis erfolgt in einer Art detektivischer Kleinarbeit, denn es gibt von Diez nur Briefe und kein einziges Buch, wohl aber eine knappe Abhandlung (in zwei Fassungen) über die "Möglichkeit einer Offenbarung". In ihr weist Diez ihre Unmöglichkeit nach, aufgrund der Kantischen Philosophie, die keinen Schluß von irgend einem Detail der äußeren Welt, etwa einer übernatürlichen Stimme oder einem Wunder, auf ein "Ding an sich" erlaube. Außer diesem Text gibt es von Diez noch eine kleine Schrift, in der er gegen die Verpflichtung protestiert, daß protestantische Pfarrer die amtlichen Fassungen der Kirchenlehre, die sogenannten "symbolischen Bücher", unterschreiben müssen. Diese Texte zeigen den Lebenszusammenhang, in dem die Beschäftigung des Tübinger Theologen mit Kant und Reinhold stand: Diez suchte Orientierung in einer Glaubenskrise. Er war Vikar in Bebenhausen, lebte im Tübinger Stift, empfand die protestantische Orthodoxie als Beengung, studierte im Revolutionsjahr 1789 Kant und Reinhold und entfernt sich immer mehr vom Christentum. Er wird 1790 Repetent im Tübinger Stift, entdeckt die theoretischen Defizite in Reinholds Versuch einer Verbesserung der Kantischen Philosophie und gerät in immer schärferen Gegensatz zur Tübinger Theologie. Er gibt 1792 seine Stelle auf, wird Arzt. Bei der Arbeit im Wiener Allgemeinen Krankenhaus holt er sich eine Ansteckung, der er erliegt. Er ist 1796 dreißigjährig in Wien gestorben.
Henrich verknüpft diese biographische und kirchengeschichtliche Situation mit einer akribischen Rekonstruktion der originellen philosophischen Position des engagierten Kantianers, der zwei Jahre als Repetent in Tübingen für eine freiere Lebens- und Denkart, für die Fortführung Kants und gegen die Orthodoxie gekämpft und eine Gruppe von Freunden und Studenten beeinflußt hat. Er kann nachweisen: Reinhold selbst bezeugt, der junge Diez habe ihn zu einem Umbau seines Systems veranlaßt. Mit Scharfsinn und historischer Differenzierungskunst arbeitet Henrich das theoretische Hauptmotiv heraus, das die Reinhold-Kritik antreibt und auch zu einer gewissen Distanzierung von Kants transzendentaler Ästhetik führte: die Selbsttätigkeit. Diese Einsicht bezeichnet die Richtung, in der Diez die Weiterentwicklung der Philosophie Kants beeinflußte: Sowohl die Theorie der Erkenntnis wie die praktische Philosophie wollte er erneuern als Grundlegung aus dem Ich. In diese Richtung drängten die ersten Publikationen Fichtes, und damit stehen wir vor der Entstehung des Idealismus bei den Junggenies des Tübinger Stifts, beim jungen Schelling, bei Hölderlin und Hegel.
Henrichs Opus magnum ist kein Buch für rasche Leser. Es ist von einem Reichtum der Argumentation und einer Strenge der Reflexion, daß es sich jeder abkürzenden Zusammenfassung widersetzt. Es stellt eine lebendige Person, den um seinen Glauben ringenden Tübinger Repetenten, in den Mittelpunkt und rekonstruiert aus dessen Briefen eine weiterführende und weiterwirkende Philosophie. Er verfolgt den Weg von Zweifeln an der Orthodoxie bis zur Diskussion mit Kant und Reinhold über das Konzept von Kausalität, über die Erkennbarkeit des Dings an sich. Diez suchte mit Kant den Einheitspunkt von theoretischer und praktischer Philosophie. Henrich folgt ihm bei seinen Detailuntersuchungen der Beweise für die Wahrheit des Christentums - der theoretischen Gottesbeweise aus dem Aufbau der Welt, des von Kant geführten moralischen Gottesbeweises, der Möglichkeit oder vielmehr Unmöglichkeit von Wundern und Weissagungen.
Die Stärke von Henrichs Buch liegt in den präzisen Nachweisen von Konstellationen; sein Blick bleibt nicht auf Diez fixiert; er blickt immer wieder über seine argumentationsanalytischen Rekonstruktionen hinaus auf Situationen in Tübingen und Jena, auf die Entwicklungen in Kirche und Politik, in der deutschen philosophischen Öffentlichkeit überhaupt. Um Konstellationen sichtbar zu machen, muß er unerforschte Gebiete betreten und philologische Vorarbeiten machen; dies erklärt den Aufbau des Buches aus relativ separaten Blöcken. Zuweilen übertreibt er den detektivischen Scharfsinn, mit dem er das nur Angedeutete expliziert; er nervt den Leser, muß er doch zu oft bei Vermutungen haltmachen. Aber noch diese Situation des Forschers beschreibt er mit hervorragender methodischer Bewußtheit und sprachlicher Klarheit. Es gibt, scheint mir, zur Zeit kein besseres Beispiel einer philosophisch ertragreichen Quellensuche, Theorienkonstruktion und Konstellationsforschung als Henrichs Buch. Er präsentiert nicht nur einen Fund, sondern ein Netzwerk von Funden. Man hat sich schon oft gewundert, wie sich die philosophische Entwicklung der dramatischen Jahre von 1789 bis 1806 in Tübingen und Jena konzentrieren konnte. Manche Forscher sprachen von einem "Rätsel", aber Henrich löst dieses Rätsel mindestens teilweise auf, indem er vorab am Briefwechsel von Diez mit Niethammer und Süßkind die Fäden verfolgt, die zwischen Jena und Tübingen hin und her gingen.
Henrichs Buch sprengt die gewohnten Maße. Seine methodische Finesse entzieht es der Alternative, eine Monographie über den unbekannten Immanuel Carl Diez zu sein oder eine souveräne Vorgeschichte des Idealismus. Sein Umfang verweigert sich dem flüchtigen Konsum. Wer es sinnvoll lesen will, muß zu den 1740 Seiten noch die Briefe und Kantischen Schriften von Diez hinzunehmen, die Henrich 1997 herausgegeben hat, auf die er ständig verweist und die zusammen mit Einleitungen und Erklärungen 1214 Seiten umfassen. Das macht zusammen 2954 Seiten und gibt Henrichs Studien zur Vorgeschichte des Idealismus geradezu fortifikatorisch-abweisenden Charakter. War das wirklich nötig?
Gewiß gewinnen durch die Subtilität der Untersuchungen eine Reihe von Denkern mittlerer Größe Profil, zum Beispiel Niethammer, Süßkind und Erhard; wir lernen die Protagonisten der Tübinger Orthodoxie näher kennen; die fruchtbaren Rückblicke auf Kant und die Vorblicke auf die frühen Schriften von Fichte und Schelling schaffen einen weiten geschichtlichen Raum, den kein Leser missen möchte. Der Hauptgewinn der Breite liegt in der geduldigen Explikation der philosophischen Fragen nach dem Verhältnis von "Ich denke" zu den Kategorien, nach der Begründbarkeit der Funktion des "Ding an sich", nach der Kausalität, nach dem Vorrang der praktischen Philosophie. Und dies in ständiger Korrelation zu der Frage des Repetenten Diez, ob er als mitdenkender Leser Kants noch Christ sein könne.
So legt man denn dieses Über-Buch, dem ein wenig mehr schriftstellerische Strategie gutgetan hätte, mit Bewunderung aus der Hand. Trotz einiger Sackgassen der Argumentation, trotz einer wenig überzeugenden Gliederung und vermeidbaren Wiederholungen ist dieses Werk durch seinen Gegenstand, seine Forschungshaltung und Sprache ein seltener Glücksfall. Jetzt erwarten wir vom Autor nur noch, daß er uns nach der Vorgeschichte des Idealismus auch noch dessen Frühgeschichte schreibt. Niemand ist dazu qualifiziert wie er.
KURT FLASCH
Dieter Henrich: "Grundlegung des Ich". Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus.Tübingen-Jena 1790-1794. 2 Bände. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Zusammen 1744 S., br., 56,- [Euro]; geb., 85,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Am Ursprung des Idealismus: Dieter Henrichs Opus magnum
Es war vor gut dreißig Jahren. Jürgen Habermas sprach öffentlich über die richtige philosophische Position und fand, wir bewegten uns doch alle "auf dem Bindestrich zwischen Kant und Hegel". So einfach war das damals: Es gab Kant, und es gab Hegel, und zwischen beiden sah Habermas einen "Bindestrich". Natürlich wußte man etwas von Fichte und Schelling; Wolfgang Cramer sprach in seinen Frankfurter Vorlesungen der fünfziger Jahr ausführlich und intensiv über Karl Leonhard Reinhold und den Anaesidemus-Schulze. Es erschien dann eine Anzahl von Untersuchungen zur Entwicklung Fichtes; es gab Diskussionen über das älteste "Systemfragment" des deutschen Idealismus und damit über Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dem jungen Schelling, Hölderlin und Hegel. Man wurde aufmerksam auf die schultreuen Kantianer und auf die Gegner Kants. Kants Kritik der reinen Vernunft erschien 1781 in der ersten Auflage. Es folgten einige Jahre perplexen Staunens der Fachkollegen über die neuartige Konzeption und das Achthundert-Seiten-Buch, aber gegen Ende des Jahrzehnts war die Debatte für und gegen Kant voll im Gange. Während Frankreich die Republik erkämpfte, diskutierten die Deutschen ihre neue "Kopernikanische Wende".
Wo Habermas einen Bindestrich sah, stehen heute ein Dutzend Personen, manche von ihnen in rasanter intellektueller Entwicklung; wir sehen komplizierte Netze der Kommunikation und wechselseitiger Kritik. Spötter machten sich schon lustig über die zur Mode gewordene übergenaue Differenzierung, die es erforderte, von der "Spätphase des frühen Schelling" zu sprechen. Kurz: das Zwischengelände ist heute unübersichtlicher, als man sich das früher vorstellen konnte. Der Reichtum intellektueller Positionen der Zeit von 1789 bis 1799 und die Vielzahl neuer Forschungsergebnisse schreien geradezu nach einem souveränen Kenner, der die Entwicklung überschaut und die Gewichte mit philosophischer Einsicht neu verteilt. Niemand wäre berufener als Dieter Henrich für die erforderliche differenzierende Neugewichtung, aber wer seine Ankündigung des monumentalen Werkes "Grundlegung aus dem Ich" dahin verstanden hätte, jetzt endlich habe ein Meister des Fachs die Frühgeschichte des Idealismus geschrieben, muß noch einmal umlernen. Das Riesenbuch behandelt die Vorgeschichte des Idealismus, nicht seine erste Entfaltung. Henrichs großer Wurf ist ein Unikum: Er erörtert auf 1740 Seiten die Philosophiegeschichte der Jahre 1790 bis 1794 und stellt dabei einen Philosophen in den Mittelpunkt, der in keinem Philosophenlexikon vorkommt und der kein philosophisches Buch geschrieben hat, einen gewissen Immanuel Carl Diez.
Dieser Diez wird hier zur Schlüsselfigur einer philosophischen Entwicklung, die von Kant zu Schelling, Hölderlin und Hegel geführt hat, aber dieser Nachweis erfolgt in einer Art detektivischer Kleinarbeit, denn es gibt von Diez nur Briefe und kein einziges Buch, wohl aber eine knappe Abhandlung (in zwei Fassungen) über die "Möglichkeit einer Offenbarung". In ihr weist Diez ihre Unmöglichkeit nach, aufgrund der Kantischen Philosophie, die keinen Schluß von irgend einem Detail der äußeren Welt, etwa einer übernatürlichen Stimme oder einem Wunder, auf ein "Ding an sich" erlaube. Außer diesem Text gibt es von Diez noch eine kleine Schrift, in der er gegen die Verpflichtung protestiert, daß protestantische Pfarrer die amtlichen Fassungen der Kirchenlehre, die sogenannten "symbolischen Bücher", unterschreiben müssen. Diese Texte zeigen den Lebenszusammenhang, in dem die Beschäftigung des Tübinger Theologen mit Kant und Reinhold stand: Diez suchte Orientierung in einer Glaubenskrise. Er war Vikar in Bebenhausen, lebte im Tübinger Stift, empfand die protestantische Orthodoxie als Beengung, studierte im Revolutionsjahr 1789 Kant und Reinhold und entfernt sich immer mehr vom Christentum. Er wird 1790 Repetent im Tübinger Stift, entdeckt die theoretischen Defizite in Reinholds Versuch einer Verbesserung der Kantischen Philosophie und gerät in immer schärferen Gegensatz zur Tübinger Theologie. Er gibt 1792 seine Stelle auf, wird Arzt. Bei der Arbeit im Wiener Allgemeinen Krankenhaus holt er sich eine Ansteckung, der er erliegt. Er ist 1796 dreißigjährig in Wien gestorben.
Henrich verknüpft diese biographische und kirchengeschichtliche Situation mit einer akribischen Rekonstruktion der originellen philosophischen Position des engagierten Kantianers, der zwei Jahre als Repetent in Tübingen für eine freiere Lebens- und Denkart, für die Fortführung Kants und gegen die Orthodoxie gekämpft und eine Gruppe von Freunden und Studenten beeinflußt hat. Er kann nachweisen: Reinhold selbst bezeugt, der junge Diez habe ihn zu einem Umbau seines Systems veranlaßt. Mit Scharfsinn und historischer Differenzierungskunst arbeitet Henrich das theoretische Hauptmotiv heraus, das die Reinhold-Kritik antreibt und auch zu einer gewissen Distanzierung von Kants transzendentaler Ästhetik führte: die Selbsttätigkeit. Diese Einsicht bezeichnet die Richtung, in der Diez die Weiterentwicklung der Philosophie Kants beeinflußte: Sowohl die Theorie der Erkenntnis wie die praktische Philosophie wollte er erneuern als Grundlegung aus dem Ich. In diese Richtung drängten die ersten Publikationen Fichtes, und damit stehen wir vor der Entstehung des Idealismus bei den Junggenies des Tübinger Stifts, beim jungen Schelling, bei Hölderlin und Hegel.
Henrichs Opus magnum ist kein Buch für rasche Leser. Es ist von einem Reichtum der Argumentation und einer Strenge der Reflexion, daß es sich jeder abkürzenden Zusammenfassung widersetzt. Es stellt eine lebendige Person, den um seinen Glauben ringenden Tübinger Repetenten, in den Mittelpunkt und rekonstruiert aus dessen Briefen eine weiterführende und weiterwirkende Philosophie. Er verfolgt den Weg von Zweifeln an der Orthodoxie bis zur Diskussion mit Kant und Reinhold über das Konzept von Kausalität, über die Erkennbarkeit des Dings an sich. Diez suchte mit Kant den Einheitspunkt von theoretischer und praktischer Philosophie. Henrich folgt ihm bei seinen Detailuntersuchungen der Beweise für die Wahrheit des Christentums - der theoretischen Gottesbeweise aus dem Aufbau der Welt, des von Kant geführten moralischen Gottesbeweises, der Möglichkeit oder vielmehr Unmöglichkeit von Wundern und Weissagungen.
Die Stärke von Henrichs Buch liegt in den präzisen Nachweisen von Konstellationen; sein Blick bleibt nicht auf Diez fixiert; er blickt immer wieder über seine argumentationsanalytischen Rekonstruktionen hinaus auf Situationen in Tübingen und Jena, auf die Entwicklungen in Kirche und Politik, in der deutschen philosophischen Öffentlichkeit überhaupt. Um Konstellationen sichtbar zu machen, muß er unerforschte Gebiete betreten und philologische Vorarbeiten machen; dies erklärt den Aufbau des Buches aus relativ separaten Blöcken. Zuweilen übertreibt er den detektivischen Scharfsinn, mit dem er das nur Angedeutete expliziert; er nervt den Leser, muß er doch zu oft bei Vermutungen haltmachen. Aber noch diese Situation des Forschers beschreibt er mit hervorragender methodischer Bewußtheit und sprachlicher Klarheit. Es gibt, scheint mir, zur Zeit kein besseres Beispiel einer philosophisch ertragreichen Quellensuche, Theorienkonstruktion und Konstellationsforschung als Henrichs Buch. Er präsentiert nicht nur einen Fund, sondern ein Netzwerk von Funden. Man hat sich schon oft gewundert, wie sich die philosophische Entwicklung der dramatischen Jahre von 1789 bis 1806 in Tübingen und Jena konzentrieren konnte. Manche Forscher sprachen von einem "Rätsel", aber Henrich löst dieses Rätsel mindestens teilweise auf, indem er vorab am Briefwechsel von Diez mit Niethammer und Süßkind die Fäden verfolgt, die zwischen Jena und Tübingen hin und her gingen.
Henrichs Buch sprengt die gewohnten Maße. Seine methodische Finesse entzieht es der Alternative, eine Monographie über den unbekannten Immanuel Carl Diez zu sein oder eine souveräne Vorgeschichte des Idealismus. Sein Umfang verweigert sich dem flüchtigen Konsum. Wer es sinnvoll lesen will, muß zu den 1740 Seiten noch die Briefe und Kantischen Schriften von Diez hinzunehmen, die Henrich 1997 herausgegeben hat, auf die er ständig verweist und die zusammen mit Einleitungen und Erklärungen 1214 Seiten umfassen. Das macht zusammen 2954 Seiten und gibt Henrichs Studien zur Vorgeschichte des Idealismus geradezu fortifikatorisch-abweisenden Charakter. War das wirklich nötig?
Gewiß gewinnen durch die Subtilität der Untersuchungen eine Reihe von Denkern mittlerer Größe Profil, zum Beispiel Niethammer, Süßkind und Erhard; wir lernen die Protagonisten der Tübinger Orthodoxie näher kennen; die fruchtbaren Rückblicke auf Kant und die Vorblicke auf die frühen Schriften von Fichte und Schelling schaffen einen weiten geschichtlichen Raum, den kein Leser missen möchte. Der Hauptgewinn der Breite liegt in der geduldigen Explikation der philosophischen Fragen nach dem Verhältnis von "Ich denke" zu den Kategorien, nach der Begründbarkeit der Funktion des "Ding an sich", nach der Kausalität, nach dem Vorrang der praktischen Philosophie. Und dies in ständiger Korrelation zu der Frage des Repetenten Diez, ob er als mitdenkender Leser Kants noch Christ sein könne.
So legt man denn dieses Über-Buch, dem ein wenig mehr schriftstellerische Strategie gutgetan hätte, mit Bewunderung aus der Hand. Trotz einiger Sackgassen der Argumentation, trotz einer wenig überzeugenden Gliederung und vermeidbaren Wiederholungen ist dieses Werk durch seinen Gegenstand, seine Forschungshaltung und Sprache ein seltener Glücksfall. Jetzt erwarten wir vom Autor nur noch, daß er uns nach der Vorgeschichte des Idealismus auch noch dessen Frühgeschichte schreibt. Niemand ist dazu qualifiziert wie er.
KURT FLASCH
Dieter Henrich: "Grundlegung des Ich". Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus.Tübingen-Jena 1790-1794. 2 Bände. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Zusammen 1744 S., br., 56,- [Euro]; geb., 85,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zwei Bände, insgesamt 1740 Seiten, das rechtfertigt wohl eine ausführliche Rezension wie diese von Jürgen Busche, der sich an keiner Stelle über Längen oder Stofffülle beklagt. Im Gegenteil: der Rezensent ist begeistert. Er preist den Philosophen Dieter Henrich als umtriebigen Akademiker, der "eine glückhafte Leidenschaft" für die historische Forschung besitzt. Denn Henrich hat ein historisches Buch geschrieben, betont Busche, worin dieser der Frage nachgehe, wie es dazu kam, dass in der kurzen Zeit von 1790 bis 1793 im Tübinger Stift die drei Studenten Hegel, Hölderlin und Schelling und andere Altersgenossen eine Diskussion und eine Denkbewegung in Gang setzten, die als "spekulativer Idealismus" bis heute wirksam geblieben ist. Der deutsche Idealismus, erklärt der Rezensent, ist nur als Gegenreaktion auf die Kant'sche Aufklärungsphilosophie zu verstehen. Praktisch bedeutete das, erläutert Busche weiter, dass sich die Theologiestudenten, die im Stift für das evangelische Pfarramt vorbereitet wurden, der Frage stellen mussten, ob sie denn weiterhin guten Gewissens die Offenbarung verkünden konnten? Nicht alle konnten und taten das, weiß Busche. Seines Erachtens hat Henrich eine ausgesprochen spannende Rekonstruktion der Diskussionen damals geleistet, obwohl die Quellenlage - ganz im Gegensatz zur Wirksamkeit dieser Ideen- ausgesprochen dürftig gewesen sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.09.2004Punktlandung im Ich
Eine Reflexion zu Dieter Henrichs epochaler „Grundlegung aus dem Ich”
Ein Großwerk der Gelehrsamkeit, die Summe von vier Jahren in Tübingen und Jena und die Summe eines Lebenswerks des Autors. Es werden in einer mikrologischen Untersuchung die gedanklichen Austauschprozesse einer Gruppe von hochmotivierten und gebildeten Dichtern und Denkern durchleuchtet, auf Tag und Stunde, Brief um Brief, Rezensionen und eigenständige Veröffentlichungen im Gravitationsfeld des Reflexionsmassiv, das sich von Königsberg aus über alle Domänen der Philosophie ausbreitete. Henrich ist der Seismograph dieser Erschütterungen in einer bislang nicht dokumentierten Weise. Der Erregungszustand, der hier registriert und geordnet und kommentiert wird, bezieht sich im Zentrum auf das Subjekt und seine Selbsttätigkeit, durch die alle Erkenntnis und alles Denken, alles Vorstellen und alles Handeln gehen muss: Will die Philosophie bestehen, so muss sie sich durch dieses Nadelöhr hindurchdenken. Aber wie kam es dazu?
Die Konstellationen sind die mündlichen und schriftlichen Beziehungen lebender Philosophen (hier besonders: Diez, Süsskind, Niethammer, Schelling, Erhard) - aber jeder gebildete Kopf ist schon für sich eine Karawanserei, in der viele scheintote Autoren und gedachte Gedanken ein- und ausgehen und den Gedanken- und Redefluss mitbestimmen. Was im Zentrum gesagt und geschrieben wird, entstammt zum größten Teil dem Hintergrundgemurmel von Homer und unzählig vielen anderen, die auf ihn folgen. Das alles ist gut dokumentiert, jedoch nicht in einzelnen Büchern, sondern in den zeitgenössischen Bibliotheken, deren gespeicherte Gedanken ins Unendliche gehen.
Zwischen der Punktlandung in Tübingen und Jena und den fünf Protagonisten des 1740-seitigen philosophischen Bühnenspiels auf der einen Seite und den Mitgedanken aller einfließenden Denker und Dichter gibt es irgendwo eine tolerierbare Mitte, von der her die philosophische Urbanistik besser verständlich wird - konkret in diesem Fall: Wie kommt es zu der Ich-Fixierung? Welche Hauptentscheidungen sind wann gefallen, die zu der Konzentration „Ich oder Nichts” geführt haben, historisch und damit natürlich systematisch? Gab es Alternativen?
Jede Kulturgeschichte ist die Geschichte von Gewinn und Verlust - zu welchen Verlusten waren die Vorautoren bereit, um den Tübingen-Jena-Gipfel philosophisch zu besetzen? Diese Geschäftsakten mitzupräsentieren, ist eine der beiden Möglichkeiten, der höchst künstlichen Isolierung einer Konstellation in fünf Köpfen in Richtung Wahrheit entgegen zu steuern.
Die zweite Möglichkeit bietet sich dem, der sich vor das doppelte Nadelöhr setzt und dort Entdeckungen macht, die dem Fischzug von Henrich entgangen sind. Ich will hier nur zwei nennen, nicht in der Meinung, dass Henrich sie nicht kannte, sondern zur Erleichterung des Verständnisses des Punkt- und Grundereignisses selbst. Da sind einmal die englischen und schottischen Autoren, die vor der Verachtungskampagne der deutschen Idealisten hoch geschätzt und intensiv gelesen wurden. Das beginnt mit John Lockes De intellectu humano von 1690; es ist die Gründungsschrift der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie, will man Kant glauben: „Lock hat den allerwesentlichsten Schritt gethan dem Verstand den Weg zu bahnen. Er hat ganz neue Criteria angegeben. Er philosophirt subjective, da Wolff und alle vor ihm objective philosophirten. Er hat die Genesin die Abstammung und den Ursprung der Begriffe untersucht. Seine Logic ist nicht dogmatisch, sondern kritisch. Wolf frägt: was ist ein Geist? Lock: wo kommt die Idee vom Geist in meiner Seele her?”
Im Mai 2004 erschien bei Suhrkamp das große Werk Dieter Henrichs über die Frühgeschichte jenes subjektzentrierten Philosophierens, das als „Deutscher Idealismus” bekannt geworden ist. („Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen - Jena 1790-1794”). Am 12. Mai rezensierte es Jürgen Busche auf dieser Seite. Reinhard Brandt, emeritierter Professor der Philosophie in Marburg, setzt sich hier erneut mit diesem Meilenstein der Philosophiegeschichte auseinander.
SZ
Descartes hatte im „Cogito” nur eine zweifelsimmune Mustererkenntnis entdeckt, nach deren Vorbild nun alle andere Erkenntnis sich richten konnte; mit dem „Cogito” als Muster ließ sich gewisse Erkenntnis von bloßer Meinung methodisch scheiden. Locke trennt jedoch als erster subjektives Bewusstsein und objektive Erkenntnis und sucht im ersten, im eigenen Bewusstsein, den Ursprung und die Begrenzung der letzteren, der Gottes- und vor allem der Welterkenntnis, zu begründen. Das ist der erste Akt der „kopernikanischen Revolution”, von der Locke und Kant meinen, sie sei zirkelfrei möglich, aber es bleibt natürlich die Frage, die das Henrichsche Buch mitbestimmt: Wie lässt sich das Bewusstsein seinerseits zum Gegenstand des Wissens machen und als Grundlage aller Erkenntnis bestimmen? So weit John Lockes Initiierung der kritischen Philosophie.
Und dann die Schriften des Skeptikers David Hume; er nimmt groß und korpulent auch an allen Auseinandersetzungen 1792-1794 teil, ohne ihn und seine Ich-Auflösung in der theoretischen Philosophie als eines Bündels von Vorstellungen und Assoziationen läuft gar nichts.
Andere Ko-Autoren stammen aus einem Lager, das noch große Macht besaß, sich dann aber auflöste und dem idealistischen Geschichtsdiktat zum Opfer fiel. Es sind die Neostoiker der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die die Szene beherrschten und die auch in Tübingen und Jena schon aus Gründen der geistigen Selbsterhaltung gut bekannt waren. Johann Jacob Spalding publizierte 1748 die Programmschrift der deutschen nach-wolffischen Aufklärung Die Bestimmung des Menschen, er lebte noch in Berlin; seine Schrift wurde zu Beginn der neunziger Jahre in 13. oder 14. Auflage neu verbreitet, und die Frage der Bestimmung des Menschen und des Gelehrten war eine Frage, die in Jena die Studenten und auch Fichte umtrieb - der Name Spaldings fehlt im Namensverzeichnis, und die stoisch grundierte Frage nach dem Wozu unserer Existenz (statt der Definition unseres Wesens) ist kein Thema in der Henrichschen Selbstklärung. Mit dem Neustoizismus lebte die Kultur der lateinischen und griechischen stoischen Autoren in unmittelbarer Ko-Präsenz, denn erst der allmählich einsetzende Historismus schuf die Distanz, die wir so schwer wegdenken können. Gegen die Mentalgeographie, die die deutschen Idealisten entwarfen, sollten die angelsächsischen und die stoischen Philosophen wieder an den Platz in allen Konstellationen gerückt werden, den sie im Urteil des 18. Jahrhunderts hatten.
Ein wacher Zeitgenosse der Jahre 1792-1794 in Tübingen und Jena hätte sich bei der Lektüre des Henrichschen Werks im übrigen die Augen gerieben: Wie - wo ist die Französische Revolution? Der Freiheitsbaum? Die praktische Philosophie? Und die Naturphilosophie, die auf die Riesenschritte der Chemie reagiert? Georg Forsters Weltreise? Sollen die Theologen aus Tübingen, beschäftigt mit den heute grundlegend vergessenen Storr und Flatt etc. und ihrer Suche nach dem Absoluten, das alles verschlafen haben? Aber Wissenschaft lebt von der künstlichen Isolierung, und die rasche Kritik ruft dann unbillig heraus, was alles fehlt.
REINHARD BRANDT
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eine Reflexion zu Dieter Henrichs epochaler „Grundlegung aus dem Ich”
Ein Großwerk der Gelehrsamkeit, die Summe von vier Jahren in Tübingen und Jena und die Summe eines Lebenswerks des Autors. Es werden in einer mikrologischen Untersuchung die gedanklichen Austauschprozesse einer Gruppe von hochmotivierten und gebildeten Dichtern und Denkern durchleuchtet, auf Tag und Stunde, Brief um Brief, Rezensionen und eigenständige Veröffentlichungen im Gravitationsfeld des Reflexionsmassiv, das sich von Königsberg aus über alle Domänen der Philosophie ausbreitete. Henrich ist der Seismograph dieser Erschütterungen in einer bislang nicht dokumentierten Weise. Der Erregungszustand, der hier registriert und geordnet und kommentiert wird, bezieht sich im Zentrum auf das Subjekt und seine Selbsttätigkeit, durch die alle Erkenntnis und alles Denken, alles Vorstellen und alles Handeln gehen muss: Will die Philosophie bestehen, so muss sie sich durch dieses Nadelöhr hindurchdenken. Aber wie kam es dazu?
Die Konstellationen sind die mündlichen und schriftlichen Beziehungen lebender Philosophen (hier besonders: Diez, Süsskind, Niethammer, Schelling, Erhard) - aber jeder gebildete Kopf ist schon für sich eine Karawanserei, in der viele scheintote Autoren und gedachte Gedanken ein- und ausgehen und den Gedanken- und Redefluss mitbestimmen. Was im Zentrum gesagt und geschrieben wird, entstammt zum größten Teil dem Hintergrundgemurmel von Homer und unzählig vielen anderen, die auf ihn folgen. Das alles ist gut dokumentiert, jedoch nicht in einzelnen Büchern, sondern in den zeitgenössischen Bibliotheken, deren gespeicherte Gedanken ins Unendliche gehen.
Zwischen der Punktlandung in Tübingen und Jena und den fünf Protagonisten des 1740-seitigen philosophischen Bühnenspiels auf der einen Seite und den Mitgedanken aller einfließenden Denker und Dichter gibt es irgendwo eine tolerierbare Mitte, von der her die philosophische Urbanistik besser verständlich wird - konkret in diesem Fall: Wie kommt es zu der Ich-Fixierung? Welche Hauptentscheidungen sind wann gefallen, die zu der Konzentration „Ich oder Nichts” geführt haben, historisch und damit natürlich systematisch? Gab es Alternativen?
Jede Kulturgeschichte ist die Geschichte von Gewinn und Verlust - zu welchen Verlusten waren die Vorautoren bereit, um den Tübingen-Jena-Gipfel philosophisch zu besetzen? Diese Geschäftsakten mitzupräsentieren, ist eine der beiden Möglichkeiten, der höchst künstlichen Isolierung einer Konstellation in fünf Köpfen in Richtung Wahrheit entgegen zu steuern.
Die zweite Möglichkeit bietet sich dem, der sich vor das doppelte Nadelöhr setzt und dort Entdeckungen macht, die dem Fischzug von Henrich entgangen sind. Ich will hier nur zwei nennen, nicht in der Meinung, dass Henrich sie nicht kannte, sondern zur Erleichterung des Verständnisses des Punkt- und Grundereignisses selbst. Da sind einmal die englischen und schottischen Autoren, die vor der Verachtungskampagne der deutschen Idealisten hoch geschätzt und intensiv gelesen wurden. Das beginnt mit John Lockes De intellectu humano von 1690; es ist die Gründungsschrift der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie, will man Kant glauben: „Lock hat den allerwesentlichsten Schritt gethan dem Verstand den Weg zu bahnen. Er hat ganz neue Criteria angegeben. Er philosophirt subjective, da Wolff und alle vor ihm objective philosophirten. Er hat die Genesin die Abstammung und den Ursprung der Begriffe untersucht. Seine Logic ist nicht dogmatisch, sondern kritisch. Wolf frägt: was ist ein Geist? Lock: wo kommt die Idee vom Geist in meiner Seele her?”
Im Mai 2004 erschien bei Suhrkamp das große Werk Dieter Henrichs über die Frühgeschichte jenes subjektzentrierten Philosophierens, das als „Deutscher Idealismus” bekannt geworden ist. („Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen - Jena 1790-1794”). Am 12. Mai rezensierte es Jürgen Busche auf dieser Seite. Reinhard Brandt, emeritierter Professor der Philosophie in Marburg, setzt sich hier erneut mit diesem Meilenstein der Philosophiegeschichte auseinander.
SZ
Descartes hatte im „Cogito” nur eine zweifelsimmune Mustererkenntnis entdeckt, nach deren Vorbild nun alle andere Erkenntnis sich richten konnte; mit dem „Cogito” als Muster ließ sich gewisse Erkenntnis von bloßer Meinung methodisch scheiden. Locke trennt jedoch als erster subjektives Bewusstsein und objektive Erkenntnis und sucht im ersten, im eigenen Bewusstsein, den Ursprung und die Begrenzung der letzteren, der Gottes- und vor allem der Welterkenntnis, zu begründen. Das ist der erste Akt der „kopernikanischen Revolution”, von der Locke und Kant meinen, sie sei zirkelfrei möglich, aber es bleibt natürlich die Frage, die das Henrichsche Buch mitbestimmt: Wie lässt sich das Bewusstsein seinerseits zum Gegenstand des Wissens machen und als Grundlage aller Erkenntnis bestimmen? So weit John Lockes Initiierung der kritischen Philosophie.
Und dann die Schriften des Skeptikers David Hume; er nimmt groß und korpulent auch an allen Auseinandersetzungen 1792-1794 teil, ohne ihn und seine Ich-Auflösung in der theoretischen Philosophie als eines Bündels von Vorstellungen und Assoziationen läuft gar nichts.
Andere Ko-Autoren stammen aus einem Lager, das noch große Macht besaß, sich dann aber auflöste und dem idealistischen Geschichtsdiktat zum Opfer fiel. Es sind die Neostoiker der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die die Szene beherrschten und die auch in Tübingen und Jena schon aus Gründen der geistigen Selbsterhaltung gut bekannt waren. Johann Jacob Spalding publizierte 1748 die Programmschrift der deutschen nach-wolffischen Aufklärung Die Bestimmung des Menschen, er lebte noch in Berlin; seine Schrift wurde zu Beginn der neunziger Jahre in 13. oder 14. Auflage neu verbreitet, und die Frage der Bestimmung des Menschen und des Gelehrten war eine Frage, die in Jena die Studenten und auch Fichte umtrieb - der Name Spaldings fehlt im Namensverzeichnis, und die stoisch grundierte Frage nach dem Wozu unserer Existenz (statt der Definition unseres Wesens) ist kein Thema in der Henrichschen Selbstklärung. Mit dem Neustoizismus lebte die Kultur der lateinischen und griechischen stoischen Autoren in unmittelbarer Ko-Präsenz, denn erst der allmählich einsetzende Historismus schuf die Distanz, die wir so schwer wegdenken können. Gegen die Mentalgeographie, die die deutschen Idealisten entwarfen, sollten die angelsächsischen und die stoischen Philosophen wieder an den Platz in allen Konstellationen gerückt werden, den sie im Urteil des 18. Jahrhunderts hatten.
Ein wacher Zeitgenosse der Jahre 1792-1794 in Tübingen und Jena hätte sich bei der Lektüre des Henrichschen Werks im übrigen die Augen gerieben: Wie - wo ist die Französische Revolution? Der Freiheitsbaum? Die praktische Philosophie? Und die Naturphilosophie, die auf die Riesenschritte der Chemie reagiert? Georg Forsters Weltreise? Sollen die Theologen aus Tübingen, beschäftigt mit den heute grundlegend vergessenen Storr und Flatt etc. und ihrer Suche nach dem Absoluten, das alles verschlafen haben? Aber Wissenschaft lebt von der künstlichen Isolierung, und die rasche Kritik ruft dann unbillig heraus, was alles fehlt.
REINHARD BRANDT
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