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Zum Jubiläum von Immanuel Kants 200. Todestag erscheint Dieter Henrichs umfassende Rekonstruktion der Vorgeschichte des Deutschen Idealismus, die ein Ereignis der Philosophiegeschichtsschreibung ist: Dieter Henrich zeichnet die für die Entstehung des Deutschen Idealismus entscheidende Rezeption des Kantischen Denkens gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach und liefert damit einen maßgeblichen Beitrag zu einer der zentralen Phasen der Philosophiegeschichte überhaupt. Ausgangs- und Bezugspunkt ist dabei das Denken Immanuel Kants: In den beiden Jahrzehnten, in denen Kant sein Werk vollendete,…mehr

Produktbeschreibung
Zum Jubiläum von Immanuel Kants 200. Todestag erscheint Dieter Henrichs umfassende Rekonstruktion der Vorgeschichte des Deutschen Idealismus, die ein Ereignis der Philosophiegeschichtsschreibung ist: Dieter Henrich zeichnet die für die Entstehung des Deutschen Idealismus entscheidende Rezeption des Kantischen Denkens gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach und liefert damit einen maßgeblichen Beitrag zu einer der zentralen Phasen der Philosophiegeschichte überhaupt. Ausgangs- und Bezugspunkt ist dabei das Denken Immanuel Kants: In den beiden Jahrzehnten, in denen Kant sein Werk vollendete, durchlief auch die Bewegung des nachkantischen Denkens ihren Weg bis zum Zenit. Eine große Zahl gänzlich neuer philosophischer Entwürfe ist in kurzer Zeit entstanden. In der Geschichte des Denkens ist eine solche Kreativität ohne Beispiel.

Grundlegung aus dem Ich versucht, diese außergewöhnliche theoretische Produktivität im konkreten Zusammenhang mit den individuellen Lebenssituationen der Protagonisten zu vergegenwärtigen, aus denen sich diese Dynamik erklärt. Zu den Rätseln, welche sie seit langem aufgibt, gehört die Tatsache, daß sich die kreative Kraft der nachkantischen Entwicklung vor allem an zwei Orten entfaltete: im Tübinger Stift und an der Universität Jena. Die Untersuchungen decken - weitgehend aus unbekannten Dokumenten - die Diskussionslage an diesen Orten und die Verbindungen zwischen ihnen auf. Dabei konzentrieren sie sich auf Denkversuche und Debatten von Kantianern der Generation, die Hegel, Hölderlin und Schelling um wenige Jahre vorausging. Dieser Prozeß vollzog sich in einer ständigen Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Werk Kants zu verstehen und neu zu formulieren sei.
Autorenporträt
Geboren am 5. Januar 1927 in Marburg, studierte Dieter Henrich von 1946 bis 1950 in Marburg, Frankfurt und Heidelberg (u.a. bei Hans-Georg Gadamer) Philosophie. Seine Dissertationsschrift aus dem Jahr 1950 trägt den Titel Die Grundlagen der Wissenschaftslehre Max Webers. Nach der Habilitation 1955/56 lehrte Henrich in Berlin, Heidelberg und den USA, bevor er 1981 als Ordinarius für Philosophie an die Ludwig-Maximilians-Universität in München berufen wurde. Seit 1997 war er Honorarprofessor an der Berliner Humboldt-Universität. Dieter Henrich verstarb am 17. Dezember 2022 im Alter von 95 Jahren.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2004

Das Ich des Repetenten
Am Ursprung des Idealismus: Dieter Henrichs Opus magnum

Es war vor gut dreißig Jahren. Jürgen Habermas sprach öffentlich über die richtige philosophische Position und fand, wir bewegten uns doch alle "auf dem Bindestrich zwischen Kant und Hegel". So einfach war das damals: Es gab Kant, und es gab Hegel, und zwischen beiden sah Habermas einen "Bindestrich". Natürlich wußte man etwas von Fichte und Schelling; Wolfgang Cramer sprach in seinen Frankfurter Vorlesungen der fünfziger Jahr ausführlich und intensiv über Karl Leonhard Reinhold und den Anaesidemus-Schulze. Es erschien dann eine Anzahl von Untersuchungen zur Entwicklung Fichtes; es gab Diskussionen über das älteste "Systemfragment" des deutschen Idealismus und damit über Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dem jungen Schelling, Hölderlin und Hegel. Man wurde aufmerksam auf die schultreuen Kantianer und auf die Gegner Kants. Kants Kritik der reinen Vernunft erschien 1781 in der ersten Auflage. Es folgten einige Jahre perplexen Staunens der Fachkollegen über die neuartige Konzeption und das Achthundert-Seiten-Buch, aber gegen Ende des Jahrzehnts war die Debatte für und gegen Kant voll im Gange. Während Frankreich die Republik erkämpfte, diskutierten die Deutschen ihre neue "Kopernikanische Wende".

Wo Habermas einen Bindestrich sah, stehen heute ein Dutzend Personen, manche von ihnen in rasanter intellektueller Entwicklung; wir sehen komplizierte Netze der Kommunikation und wechselseitiger Kritik. Spötter machten sich schon lustig über die zur Mode gewordene übergenaue Differenzierung, die es erforderte, von der "Spätphase des frühen Schelling" zu sprechen. Kurz: das Zwischengelände ist heute unübersichtlicher, als man sich das früher vorstellen konnte. Der Reichtum intellektueller Positionen der Zeit von 1789 bis 1799 und die Vielzahl neuer Forschungsergebnisse schreien geradezu nach einem souveränen Kenner, der die Entwicklung überschaut und die Gewichte mit philosophischer Einsicht neu verteilt. Niemand wäre berufener als Dieter Henrich für die erforderliche differenzierende Neugewichtung, aber wer seine Ankündigung des monumentalen Werkes "Grundlegung aus dem Ich" dahin verstanden hätte, jetzt endlich habe ein Meister des Fachs die Frühgeschichte des Idealismus geschrieben, muß noch einmal umlernen. Das Riesenbuch behandelt die Vorgeschichte des Idealismus, nicht seine erste Entfaltung. Henrichs großer Wurf ist ein Unikum: Er erörtert auf 1740 Seiten die Philosophiegeschichte der Jahre 1790 bis 1794 und stellt dabei einen Philosophen in den Mittelpunkt, der in keinem Philosophenlexikon vorkommt und der kein philosophisches Buch geschrieben hat, einen gewissen Immanuel Carl Diez.

Dieser Diez wird hier zur Schlüsselfigur einer philosophischen Entwicklung, die von Kant zu Schelling, Hölderlin und Hegel geführt hat, aber dieser Nachweis erfolgt in einer Art detektivischer Kleinarbeit, denn es gibt von Diez nur Briefe und kein einziges Buch, wohl aber eine knappe Abhandlung (in zwei Fassungen) über die "Möglichkeit einer Offenbarung". In ihr weist Diez ihre Unmöglichkeit nach, aufgrund der Kantischen Philosophie, die keinen Schluß von irgend einem Detail der äußeren Welt, etwa einer übernatürlichen Stimme oder einem Wunder, auf ein "Ding an sich" erlaube. Außer diesem Text gibt es von Diez noch eine kleine Schrift, in der er gegen die Verpflichtung protestiert, daß protestantische Pfarrer die amtlichen Fassungen der Kirchenlehre, die sogenannten "symbolischen Bücher", unterschreiben müssen. Diese Texte zeigen den Lebenszusammenhang, in dem die Beschäftigung des Tübinger Theologen mit Kant und Reinhold stand: Diez suchte Orientierung in einer Glaubenskrise. Er war Vikar in Bebenhausen, lebte im Tübinger Stift, empfand die protestantische Orthodoxie als Beengung, studierte im Revolutionsjahr 1789 Kant und Reinhold und entfernt sich immer mehr vom Christentum. Er wird 1790 Repetent im Tübinger Stift, entdeckt die theoretischen Defizite in Reinholds Versuch einer Verbesserung der Kantischen Philosophie und gerät in immer schärferen Gegensatz zur Tübinger Theologie. Er gibt 1792 seine Stelle auf, wird Arzt. Bei der Arbeit im Wiener Allgemeinen Krankenhaus holt er sich eine Ansteckung, der er erliegt. Er ist 1796 dreißigjährig in Wien gestorben.

Henrich verknüpft diese biographische und kirchengeschichtliche Situation mit einer akribischen Rekonstruktion der originellen philosophischen Position des engagierten Kantianers, der zwei Jahre als Repetent in Tübingen für eine freiere Lebens- und Denkart, für die Fortführung Kants und gegen die Orthodoxie gekämpft und eine Gruppe von Freunden und Studenten beeinflußt hat. Er kann nachweisen: Reinhold selbst bezeugt, der junge Diez habe ihn zu einem Umbau seines Systems veranlaßt. Mit Scharfsinn und historischer Differenzierungskunst arbeitet Henrich das theoretische Hauptmotiv heraus, das die Reinhold-Kritik antreibt und auch zu einer gewissen Distanzierung von Kants transzendentaler Ästhetik führte: die Selbsttätigkeit. Diese Einsicht bezeichnet die Richtung, in der Diez die Weiterentwicklung der Philosophie Kants beeinflußte: Sowohl die Theorie der Erkenntnis wie die praktische Philosophie wollte er erneuern als Grundlegung aus dem Ich. In diese Richtung drängten die ersten Publikationen Fichtes, und damit stehen wir vor der Entstehung des Idealismus bei den Junggenies des Tübinger Stifts, beim jungen Schelling, bei Hölderlin und Hegel.

Henrichs Opus magnum ist kein Buch für rasche Leser. Es ist von einem Reichtum der Argumentation und einer Strenge der Reflexion, daß es sich jeder abkürzenden Zusammenfassung widersetzt. Es stellt eine lebendige Person, den um seinen Glauben ringenden Tübinger Repetenten, in den Mittelpunkt und rekonstruiert aus dessen Briefen eine weiterführende und weiterwirkende Philosophie. Er verfolgt den Weg von Zweifeln an der Orthodoxie bis zur Diskussion mit Kant und Reinhold über das Konzept von Kausalität, über die Erkennbarkeit des Dings an sich. Diez suchte mit Kant den Einheitspunkt von theoretischer und praktischer Philosophie. Henrich folgt ihm bei seinen Detailuntersuchungen der Beweise für die Wahrheit des Christentums - der theoretischen Gottesbeweise aus dem Aufbau der Welt, des von Kant geführten moralischen Gottesbeweises, der Möglichkeit oder vielmehr Unmöglichkeit von Wundern und Weissagungen.

Die Stärke von Henrichs Buch liegt in den präzisen Nachweisen von Konstellationen; sein Blick bleibt nicht auf Diez fixiert; er blickt immer wieder über seine argumentationsanalytischen Rekonstruktionen hinaus auf Situationen in Tübingen und Jena, auf die Entwicklungen in Kirche und Politik, in der deutschen philosophischen Öffentlichkeit überhaupt. Um Konstellationen sichtbar zu machen, muß er unerforschte Gebiete betreten und philologische Vorarbeiten machen; dies erklärt den Aufbau des Buches aus relativ separaten Blöcken. Zuweilen übertreibt er den detektivischen Scharfsinn, mit dem er das nur Angedeutete expliziert; er nervt den Leser, muß er doch zu oft bei Vermutungen haltmachen. Aber noch diese Situation des Forschers beschreibt er mit hervorragender methodischer Bewußtheit und sprachlicher Klarheit. Es gibt, scheint mir, zur Zeit kein besseres Beispiel einer philosophisch ertragreichen Quellensuche, Theorienkonstruktion und Konstellationsforschung als Henrichs Buch. Er präsentiert nicht nur einen Fund, sondern ein Netzwerk von Funden. Man hat sich schon oft gewundert, wie sich die philosophische Entwicklung der dramatischen Jahre von 1789 bis 1806 in Tübingen und Jena konzentrieren konnte. Manche Forscher sprachen von einem "Rätsel", aber Henrich löst dieses Rätsel mindestens teilweise auf, indem er vorab am Briefwechsel von Diez mit Niethammer und Süßkind die Fäden verfolgt, die zwischen Jena und Tübingen hin und her gingen.

Henrichs Buch sprengt die gewohnten Maße. Seine methodische Finesse entzieht es der Alternative, eine Monographie über den unbekannten Immanuel Carl Diez zu sein oder eine souveräne Vorgeschichte des Idealismus. Sein Umfang verweigert sich dem flüchtigen Konsum. Wer es sinnvoll lesen will, muß zu den 1740 Seiten noch die Briefe und Kantischen Schriften von Diez hinzunehmen, die Henrich 1997 herausgegeben hat, auf die er ständig verweist und die zusammen mit Einleitungen und Erklärungen 1214 Seiten umfassen. Das macht zusammen 2954 Seiten und gibt Henrichs Studien zur Vorgeschichte des Idealismus geradezu fortifikatorisch-abweisenden Charakter. War das wirklich nötig?

Gewiß gewinnen durch die Subtilität der Untersuchungen eine Reihe von Denkern mittlerer Größe Profil, zum Beispiel Niethammer, Süßkind und Erhard; wir lernen die Protagonisten der Tübinger Orthodoxie näher kennen; die fruchtbaren Rückblicke auf Kant und die Vorblicke auf die frühen Schriften von Fichte und Schelling schaffen einen weiten geschichtlichen Raum, den kein Leser missen möchte. Der Hauptgewinn der Breite liegt in der geduldigen Explikation der philosophischen Fragen nach dem Verhältnis von "Ich denke" zu den Kategorien, nach der Begründbarkeit der Funktion des "Ding an sich", nach der Kausalität, nach dem Vorrang der praktischen Philosophie. Und dies in ständiger Korrelation zu der Frage des Repetenten Diez, ob er als mitdenkender Leser Kants noch Christ sein könne.

So legt man denn dieses Über-Buch, dem ein wenig mehr schriftstellerische Strategie gutgetan hätte, mit Bewunderung aus der Hand. Trotz einiger Sackgassen der Argumentation, trotz einer wenig überzeugenden Gliederung und vermeidbaren Wiederholungen ist dieses Werk durch seinen Gegenstand, seine Forschungshaltung und Sprache ein seltener Glücksfall. Jetzt erwarten wir vom Autor nur noch, daß er uns nach der Vorgeschichte des Idealismus auch noch dessen Frühgeschichte schreibt. Niemand ist dazu qualifiziert wie er.

KURT FLASCH

Dieter Henrich: "Grundlegung des Ich". Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus.Tübingen-Jena 1790-1794. 2 Bände. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Zusammen 1744 S., br., 56,- [Euro]; geb., 85,- [Euro].

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