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Ernst Kapp hat mit den Grundlinien einer Philosophie der Technik 1877 einen der Gründungstexte der Medienwissenschaft vorgelegt. Sein Entwurf einer 'Organprojection', der von Marshall McLuhan als 'Extension of Man' aufgegriffen wurde, hat die Medientheorie des 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst. Nachdem Kapps Schrift seit Jahrzehnten vegriffen war, liegt sie nun erstmals in einer neugesetzten, zugänglichen Studienausgabe vor.

Produktbeschreibung
Ernst Kapp hat mit den Grundlinien einer Philosophie der Technik 1877 einen der Gründungstexte der Medienwissenschaft vorgelegt. Sein Entwurf einer 'Organprojection', der von Marshall McLuhan als 'Extension of Man' aufgegriffen wurde, hat die Medientheorie des 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst. Nachdem Kapps Schrift seit Jahrzehnten vegriffen war, liegt sie nun erstmals in einer neugesetzten, zugänglichen Studienausgabe vor.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2015

Die Axt im Hirn erspart den Philosophen

Die Maschinen wissen Dinge über uns, die wir nicht ahnten: Ernst Kapps Ideen zum Wesen der Technik sind wiederzuentdecken.

Von Dietmar Dath

Ein noch recht junger Aberglaube will, dass wir das von uns technisch Hergestellte erst dann als vollwertiges Gegenüber ernst nehmen sollen, wenn es dereinst ein künstliches Selbstbewusstsein spazieren führt oder wenigstens maschinelle Gedanken äußert: Nichts, das nicht mindestens Meinungen hat, soll uns als Spiegel zeigen dürfen, wer und wie wir sind.

Über die Grundbausteine des Technischen sollen wir also auch in einem Zeitalter, in dem diese Bausteine Nickelschaum, Lithiumfolie, Buckyball oder Platintinte heißen, nur unter der Bedingung philosophieren dürfen, dass das Zeug in irgendeinem wenigstens metaphorischen Sinn "intelligent" ist. Von der "smart structure" der neueren Werkstoffkunde bis zum Rasierapparat, der merkt, was man von ihm will, hält sich selbst die Industrie an diesen Unfug, so als wäre das einzig Belangvolle an der Technik ihr Potential, irgendwann mal genauso bewusst zu existieren, wie wir das angeblich tun.

Man stellt sich an, als hätte der von so grundverschiedenen Köpfen wie dem Dichter Gottfried Benn und dem Science-Fiction-Konstruktivisten Carl Schroeder mitgeteilte Einfall gar nichts für sich, das Bewusstsein könnte auch eine Fehlentwicklung der Naturgeschichte sein. Handlungen, die man ohne Nachdenken vollziehen kann, erfüllen ihren Zweck ja immerhin nicht selten effektiver als jene, die erst bedacht sein wollen. Aber vom Gedanken als höchstem Ziel des Stoffwechsels von Mensch und Natur kann weder die Forschung (Stichwort Künstliche Intelligenz) noch der animistische Kitsch des Computerspielwesens die Finger lassen.

Dabei war ein Philosoph namens Ernst Kapp schon 1877 klüger und nannte ein Schlüsselkapitel seiner "Grundlinien einer Philosophie der Technik" eben nicht "Das Maschinendenken" sondern "Das Unbewusste". Dieses, so erklärte er, komme "gleichermaßen in der Leiblichkeit wie im Geist zur Erscheinung" und schlage sich also auch in unseren Versuchen nieder, Nichtmenschliches unter die Bestimmungen des gewussten Menschenwillens zu setzen, kurz: in der Technik. Durchdrungen von vielem, das wir über uns selbst (noch) nicht wissen, ist jedes von uns erdachte und gemachte Ding - nicht erst der Computer, sondern schon die Axt - damit auch eine potentielle Erkenntnismaschine für die Menschen, die dieses Ding entwerfen, bauen und benutzen. Und umgekehrt haftet jedem der von uns entwickelten Verfahren der Selbst- und Welterschließung, selbst den freien Künsten, immer auch etwas Automatenhaftes an.

Wo immer wir unseren Körper ergänzen, lehrt Kapp, erweitern wir auch unsere imaginäre eigene Idealgestalt; und wenn wir andererseits unsere Gedanken über das bisher schon Gedachte hinausschießen lassen, so setzen wir stets bald auch neue praktische, materielle Tatsachen. Das ist eine Regel wie von Hegel, aber kein Automatismus, sondern eine zutiefst störanfällige Dynamik.

Dass Technik sowohl ein gesellschaftliches Verhältnis von Menschen untereinander wie ein Verhältnis der Gesellschaft zu ihrer Umwelt ist, wussten zwar auch Autoren wie Heidegger und Adorno, die erst nach Kapp kamen. Aber von ihnen entwickelte Begriffe wie "Gestell" oder "instrumentelle Vernunft" haben die Widersprüche, in denen diese beiden Verhältnisse einander wechselseitig verstärken, schwächen oder gar aufheben, oft übereilt stillgestellt, um zu eindeutigen Bewertungen zu gelangen - deren bloße Umkehrung in der vielberedeten "kalifornischen Ideologie" der letzten fünfundzwanzig Jahre, im Medientheoriegehuber und Silicon-Valley-Denken, jedenfalls keinen Niveauzugewinn gebracht hat.

Ernst Kapp dagegen hat jene Widersprüche nicht nur gedacht, sondern auch erlebt: als liberaler Deutscher des gescheiterten bürgerlichen Revolutionsversuchs von 1848 und zeitweiliger Mitlenker einer sozialutopischen Siedlung in Nordamerika wusste er, wovon er schrieb, wenn er sich Chancen und Fallen der Umgestaltung der Welt zur Domäne tätig aufgeklärten Willens vornahm.

Die Neuausgabe seiner wertvollen Abhandlung, die Harun Maye und Leander Scholz nun besorgt haben, reißt Kapps Denken aus einem gesellschaftlichen Unbewussten, das nicht naturnotwendig ist, sondern von einer Maschine erzeugt wurde, der ein Wiener Arzt namens Sigmund Freud wenige Jahre nach dem Erscheinen der "Grundlinien" einen prägnanten Namen gab: Verdrängung.

Ernst Kapp: "Grundlinien einer Philosophie der Technik".

Hrsg. von Harun Maye und Leander Scholz. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2015. 318 S., geb., 48,- [Euro].

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