Was kann eine Phänomenologie des Fremden sein? In pointierter Form werden in dem neuen Buch des herausragenden deutschen Phänomenologen Bernhard Waldenfels ihre zentralen Motive vorgeführt. Die Schlüsselthemen lauten: Ordnung, Pathos, Antwort, Leib, Aufmerksamkeit, Interkulturalität. Als Außerordentliches taucht Fremdes in Form von Störungen, Abweichungen und Überschüssen an den Grenzen der Ordnungen auf. So stellt sich die Frage, wie wir auf Fremdes eingehen können, ohne ihm den Stachel zu nehmen. Daraus erwächst eine responsive Art von Phänomenologie, die über alle Intentionen und Regelungen hinaus von Widerfahrnissen und Ansprüchen ausgeht. Ein antwortendes Selbst stellt sich dar als leibliches Selbst, das nie ganz und gar bei sich ist. Die Fremdheit beginnt im eigenen Haus. Sie beginnt bereits bei der Aufmerksamkeit, wenn uns etwas auffällt. Und sie endet nicht zuletzt bei einer Interkulturalität, die auch für die Philosophie zur Herausforderung wird. Ein globales Denken ist dabei weder zu erwarten noch zu wünschen. Der Versuch, Grenzen zu überschreiten, ohne sie aufzuheben, gehört zu den Abenteuern einer Fremdheit zwischen den Kulturen. Es sind Autoren wie Bachtin, Freud und Mauss, wie Calvino, Kafka, Musil und Valéry, die der Phänomenologie des Fremden ihre besondere Würze geben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.09.2006Man ist doch viel zu sehr unter seinesgleichen
Warnung vor Anwälten und Liebhabern: Bernhard Waldenfels’ Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden
In einem modernen Seelenhaushalt kann der Platz für Fremdheit recht paradox ausschauen. Da gibt es einerseits die Fremden, die unsere Arbeitsplätze wegnehmen und deshalb am besten wieder dorthin verschwänden, wo sie herkommen. In die Fremde also. Denn sie ist deren Heimat.
Ausgerechnet in die Fremde zieht es aber denselben Fremdenverächter in regelmäßigen Abständen. Für den Sommerurlaub sind die Seychellen gerade noch fern genug; je weiter weg man war, desto besser.
Ist dies eine ‚kognitive Dissonanz‘: ein Beieinander von Widersprüchen, die man in all ihren Teilen einfach nicht missen möchte? Die Wahrheit dürfte weniger fremdwortverdächtig reizvoll sein. Vermutlich ist es mit der Fremdheit hier wie dort nicht weit her. Fremde, bei denen man auch nur auf den falschen Gedanken kommen kann, sie würden einem den Arbeitsplatz wegnehmen, müssen ja annähernd schon die gleichen langweiligen Autofahrer, Fernsehzuschauer, Steuerzahler sein wie man selber.
Konkurriert wird nämlich nur zwischen denen, die in etwa gleiche Normalitätserwartungen erfüllen. Und das Hotel auf den Seychellen unterscheidet sich kaum von einem in der Frankfurter Innenstadt. In einem Kaff des Bayerischen Waldes wäre man fremder gewesen. So sind, scheint es, wenn man die Fremden beschimpft und die Fremde rühmt, ganz andere Motive im Spiel als deren fremde Züge.
Hat die Philosophie dazu etwas zu bemerken? Ja, aber auf ihre Art. „Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden” heißt Bernhard Waldenfels’ neues Buch.
„Des Fremden” ist der Genitiv von „das Fremde”, nicht von „der Fremde”. Am nominalisierten Adjektiv erkennt man den Philosophen, seit Sokrates seinen Mitbürgern mit der Frage auf die Nerven fiel, was to agathon, das Gute sei – statt eben bloß: was gut sei.
Das nominalisierte Adjektiv ist eine Verfremdung. Denn statt mit den vielen wirklich oder vermeintlich fremden Dingen hat man es nun mit einer veritablen Abstraktion zu tun. „Verfremdungsverfahren” heißt auch der abschließende Paragraf des Bandes von Bernhard Waldenfels, und Sokrates ist einer der verfremdenden Geister, die er beschwört. Dessen Kunst war eine von Frage und Antwort, keine Theorie. Eine Theorie erklärt ihren Gegenstand, und das hieße im Fall des Fremden: sie brächte ihn zum Verschwinden.
Die Erwartung, in Waldenfels’ Phänomenologie eine Theorie des Fremden zu erhalten, wird enttäuscht. Diese Enttäuschung tut not. Sie lehrt, oder könnte eine Kunst von Frage und Antwort lehren, die mit einer Vorliebe des Zeitalters bricht: der Aneignung. Den Feind des Fremden zu verabscheuen ist intellektuell die leichteste Übung. Doch wer warnt vor dem Anwalt des Fremden?
ANDREAS DORSCHEL
BERNHARD WALDENFELS: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 134 Seiten, 14,80 Euro.
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Warnung vor Anwälten und Liebhabern: Bernhard Waldenfels’ Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden
In einem modernen Seelenhaushalt kann der Platz für Fremdheit recht paradox ausschauen. Da gibt es einerseits die Fremden, die unsere Arbeitsplätze wegnehmen und deshalb am besten wieder dorthin verschwänden, wo sie herkommen. In die Fremde also. Denn sie ist deren Heimat.
Ausgerechnet in die Fremde zieht es aber denselben Fremdenverächter in regelmäßigen Abständen. Für den Sommerurlaub sind die Seychellen gerade noch fern genug; je weiter weg man war, desto besser.
Ist dies eine ‚kognitive Dissonanz‘: ein Beieinander von Widersprüchen, die man in all ihren Teilen einfach nicht missen möchte? Die Wahrheit dürfte weniger fremdwortverdächtig reizvoll sein. Vermutlich ist es mit der Fremdheit hier wie dort nicht weit her. Fremde, bei denen man auch nur auf den falschen Gedanken kommen kann, sie würden einem den Arbeitsplatz wegnehmen, müssen ja annähernd schon die gleichen langweiligen Autofahrer, Fernsehzuschauer, Steuerzahler sein wie man selber.
Konkurriert wird nämlich nur zwischen denen, die in etwa gleiche Normalitätserwartungen erfüllen. Und das Hotel auf den Seychellen unterscheidet sich kaum von einem in der Frankfurter Innenstadt. In einem Kaff des Bayerischen Waldes wäre man fremder gewesen. So sind, scheint es, wenn man die Fremden beschimpft und die Fremde rühmt, ganz andere Motive im Spiel als deren fremde Züge.
Hat die Philosophie dazu etwas zu bemerken? Ja, aber auf ihre Art. „Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden” heißt Bernhard Waldenfels’ neues Buch.
„Des Fremden” ist der Genitiv von „das Fremde”, nicht von „der Fremde”. Am nominalisierten Adjektiv erkennt man den Philosophen, seit Sokrates seinen Mitbürgern mit der Frage auf die Nerven fiel, was to agathon, das Gute sei – statt eben bloß: was gut sei.
Das nominalisierte Adjektiv ist eine Verfremdung. Denn statt mit den vielen wirklich oder vermeintlich fremden Dingen hat man es nun mit einer veritablen Abstraktion zu tun. „Verfremdungsverfahren” heißt auch der abschließende Paragraf des Bandes von Bernhard Waldenfels, und Sokrates ist einer der verfremdenden Geister, die er beschwört. Dessen Kunst war eine von Frage und Antwort, keine Theorie. Eine Theorie erklärt ihren Gegenstand, und das hieße im Fall des Fremden: sie brächte ihn zum Verschwinden.
Die Erwartung, in Waldenfels’ Phänomenologie eine Theorie des Fremden zu erhalten, wird enttäuscht. Diese Enttäuschung tut not. Sie lehrt, oder könnte eine Kunst von Frage und Antwort lehren, die mit einer Vorliebe des Zeitalters bricht: der Aneignung. Den Feind des Fremden zu verabscheuen ist intellektuell die leichteste Übung. Doch wer warnt vor dem Anwalt des Fremden?
ANDREAS DORSCHEL
BERNHARD WALDENFELS: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 134 Seiten, 14,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Andreas Cremonini empfiehlt dieses "Büchlein" als Einführung in die von Bernhard Waldenfels geprägte "Bochumer Phänomenologie". Knapp und kompakt werde auf die Betrachtungen des Fremden von Autoren wie Bachtin, Freud, Calvino, Kafka, Musil und Valery eingegangen. Wer es freilich genauer wissen wolle, müsse zu umfassenderen Werken dieser Schule greifen. Dennoch hat das Buch Cremonini zufolge einige kompakte Thesen zu bieten, die reichlich Stoff für inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser philosophischen Richtung und ihrer Theoreme bieten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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