Philosophische Theorien der Gerechtigkeit nehmen die Vielfalt alltäglicher Gerechtigkeitsurteile selten zur Kenntnis. Anders dagegen David Miller: Ausgehend von einer Analyse der Kontexte, in denen die in der Gesellschaft kursierenden Gerechtigkeitsvorstellungen entstehen, zeigt er deren Vielgestaltigkeit - und ihren philosophischen Gehalt. Er identifiziert drei Grundsätze, die allen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit zugrunde liegen: Bedarf, Verdienst und Gleichheit. Seine zentrale These ist, dass mit den unterschiedlichen Formen menschlicher Beziehungen der jeweilige Stellenwert dieser Grundsätze variiert. Millers klar und unprätentiös geschriebenes Buch verdient es, in einem Atemzug mit den Werken von Rawls und Walzer genannt zu werden. Glanzstücke seiner Argumentation sind unter anderem seine Bemerkungen zur Rolle von Glück bei der Beurteilung von Leistungen für das Gerechtigkeitsempfinden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2008Nicht jedem die gleiche Schnitte
Eine Pflichtlektüre für alle, die den Kuchen verteilen: Endlich liegt David Millers Standardwerk über Grundsätze sozialer Gerechtigkeit auch auf Deutsch vor.
Manche sagen, sie wollten die alte Pendlerpauschale wieder einführen, um eine Gerechtigkeitslücke zu schließen. Andere behaupten, die Gerechtigkeitslücke sei die Lücke zwischen Brutto und Netto. Wieder andere entdecken die Gerechtigkeitslücke im Unterschied zwischen Ost- und Westlöhnen. Schenkte man all diesen Wortführern Glauben, dann müsste die moralische Ordnung dieser Gesellschaft so viele Löcher haben, dass von ihr, wäre sie ein Schweizer Käse, kaum mehr etwas Essbares übrig bliebe. Aber vielleicht ist etwas faul an der Rhetorik der Gerechtigkeitslücke, mit der jetzt so viele das Sommerloch füllen.
Wer von einer Gerechtigkeitslücke redet, muss sich die Gerechtigkeit als ein geschlossenes Gebäude vorstellen, in dem sich verschiedene moralische Ansprüche ohne Naht und Bruch zusammenfügen. Favorisiert wird hier, architektonisch gesprochen, das Konzept der Blockbebauung. Viele Anhänger dieses Konzepts versuchen, die Verteilungsmechanismen in diesem großen Gebäude zu optimieren; sie halten sich an die Gleichheit, in der die Gerechtigkeit gipfeln soll. Andere warnen davor, dass man unter der Flagge der Gleichheit auf die schiefe Ebene gerate und geradewegs zur Gleichmacherei hinunterbrause. Sie wollen die Gleichheit wie auch die Gerechtigkeit nur noch mit spitzen Fingern anfassen.
So oder so sind all diese eifrigen Verteidiger und kritischen Eiferer Anhänger derselben Blockpartei: der Vorstellung nämlich, die Gerechtigkeit sei ein Gebäude aus einem Guss. In seinem Standardwerk "Grundsätze sozialer Gerechtigkeit", das nun knapp zehn Jahre nach der Originalausgabe auf Deutsch vorliegt, räumt der englische Philosoph David Miller mit dieser Vorstellung auf. Er lädt uns ein zur Besichtigung einer Gerechtigkeit, die aus einem Ensemble verschiedener Gebäude besteht und unterschiedliche Werte hochhält. Lücken und Leerstellen sind bei dieser Anlage unvermeidlich, ja notwendig. Das Bild, das Miller entwirft, ist - leider! - komplizierter, als es sich all jene Verteidiger und Kritiker der Gerechtigkeit als Gleichheit vorstellen, aber es ist - zum Glück! - näher an der Wirklichkeit und den alltäglichen Intuitionen.
Was missfällt Miller an jenem Gerechtigkeitsblock, der dem Gesetz der Gleichheit gehorcht? Wir müssten dann, so schreibt er, "viele der gegenwärtig üblichen menschlichen Praxen - Familienleben, wirtschaftliche Kooperation unter anderen als Gleichheitsbedingungen, Wettkampfsport, die Ehrung und Auszeichnung besonderer Leistungen in verschiedenen Bereichen - schlicht als Hindernisse für die soziale Gerechtigkeit" ansehen. Statt in diesen Phänomenen nur Störfaktoren zu sehen, will Miller sie einbeziehen - auch deshalb, weil die Frage, was daran nun gerecht und gerechtfertigt sei, regelmäßig zum Gegenstand heftiger öffentlicher Debatten wird.
Miller erinnert an den alten Grundsatz Justinians, "jedem das Seine" zu geben, was "sowohl auf gleiche wie auf ungleiche Behandlung verschiedener Personen" hinauslaufen könne: "Gerechtigkeit bedeutet dabei im Kern, dass jeder auf die seiner individuellen Persönlichkeit angemessenen Weise zu behandeln ist." Wem die in Eisen geschmiedete Inschrift am Tor des Konzentrationslagers Buchenwald "Suum cuique" nicht aus dem Kopf geht, der tut sich schwer, sich mit dem Spruch "Jedem das Seine" anzufreunden. Vielleicht ist eine gewisse egalitaristische Neigung in Deutschland (etwa im Umgang mit sogenannten "Eliten") auch darauf zurückzuführen, dass die Beachtung der Besonderheiten hierzulande von einer Geschichte der Sonderbehandlung und Ausgrenzung überschattet ist. Bei dem Vorschlag David Millers, das "Suum cuique" zu rehabilitieren, geht es nun aber um eine Sonderbehandlung im Guten, nicht im Schlechten: eine Sonderbehandlung im Namen der Gerechtigkeit.
Das klingt zunächst ganz ungerecht. Doch gestützt von Experimenten der empirischen Sozialforschung, stellt Miller fest, dass "die Urteile, die Menschen fällen, und die Verteilungsprozeduren, die sie anwenden, sich nicht auf einen einzigen Grundsatz zurückführen" lassen, also vor allem nicht auf die Gleichung Gerechtigkeit-Gleichheit. Millers "pluralistisches" Gerechtigkeitsensemble besteht stattdessen aus drei Gebäuden: Neben das Kriterium der "Gleichheit" treten der "Bedarf" und der "Verdienst".
So kann es gehen: Das Kind ist gerade vom Sport nach Hause gekommen und sitzt mit Bärenhunger am Tisch. Sein Lieblingskuchen wird serviert, jeder bekommt fein säuberlich ein gleich großes Stück, auch der Onkel, der sich aus dem Kuchen gar nichts macht. Wer solch eine Verteilung wählt, muss auf den Vorwurf gefasst sein, er gehe gemein oder eben ungerecht mit dem Kind um. Die Intuition besagt: Wenn die Bedürfnisse dieses Kindes so herausstechen, sollte man sie auch besonders berücksichtigen. Es gibt nach Miller eine bestimmte "Grundform sozialer Beziehung", die vor allem am Bedarf orientiert ist, nämlich die "solidarische Gemeinschaft". In vielen Fällen wird man hier dem einen mehr geben als dem anderen, ohne dass jemand daran Anstoß nähme. Der Bedarf macht sich aber nicht nur an individuellen Vorlieben fest, sondern kommt auch dort ins Spiel, wo man sich auf "eine gemeinsame Konzeption" dessen stützt, was zu "einem normalen menschlichen Leben" gehört. Nicht nur aus Gründen der Barmherzigkeit, sondern um der Gerechtigkeit willen ist es nach Miller geboten, diejenigen, die besonders schlecht gestellt sind, bevorzugt zu behandeln. Deshalb geht die Bedarfsgerechtigkeit über die familiäre Kaffeetafel hinaus und kann sich zur Solidargemeinschaft weiten.
Nun werden die Verteidiger der Gerechtigkeit als Gleichheit sagen, sie selbst seien längst schon dort, wo die Advokaten des Bedarfs mühsam hinstreben. Schließlich bekomme der Schlechtergestellte ja mehr als die anderen, um am Ende gleich viel zu haben wie sie. Miller befasst sich mit diesem Einwand nicht ausführlich genug, aber mit guten Gründen hält er daran fest, dass die Gleichheit hier nur hilfsweise zum Einsatz kommen kann - nämlich erst dann, wenn die Frage des Grundbedarfs geklärt ist.
Zu dieser Frage fällt dem Gleichheitstheoretiker aber nicht viel ein. Nebenbei räumt Miller übrigens mit dem Vorurteil auf, dass ein Sozialstaat, der allen Menschen einen gewissen Lebensstandard sichert, nur die Freiheit vernichtet und Massenkonsum organisiert. Nicht um den Konsum soll es dem Sozialstaat zu tun sein, sondern um eine Ausweitung von "Handlungsoptionen" für Bedürftige, also um nichts als eine Beseitigung von Freiheitshindernissen.
Millers Ensemble der Gerechtigkeit besteht aber nicht nur aus Gleichheit und Bedarf, sondern auch aus Verdienst. Viele Gerechtigkeitstheoretiker sind emsig darum bemüht, die Verdienste, die sich jemand zuschreiben kann, kleinzureden, denn wenn sie einmal anerkannt sind, dann liegt die Belohnung nahe - sei es nun in Gestalt einer öffentlichen Ehrung oder eines fetten Schecks. Was aber, so lautet der Einwand, wenn derjenige, der eine Leistung erbringt, einfach Glück mit seinen Gaben hat und für seine Exzellenz gar nichts kann? Nach Millers Beispiel könnte die Belohnung eines auf diese Weise "Begabten" auf dasselbe hinauslaufen, wie wenn man "die schönste Dahlie in der jährlichen Blumenschau" prämiert. Folgt man diesem Beispiel, so ist man auf dem besten Wege dahin, den Verdienst zu "annullieren" oder zu "sabotieren". Doch diese Konsequenz will Miller vermeiden; er will den Verdienst nicht aus der Gerechtigkeitstheorie kürzen.
Zwar mag es schwierig sein, Gaben und Leistungen auseinanderzuhalten, aber es läge doch eine seltsame Demütigung des Menschen darin, wenn man ihm bei all dem, worum er sich bemüht und was er erreicht hat, vorhalten würde, er könne eigentlich gar nichts dafür. Stattdessen plädiert Miller für eine Rehabilitierung nicht nur des Bedarfs, sondern auch des Verdienstes. Sogar ein "Hochruf auf die Meritokratie" wird angestimmt. Dieser Hochruf ist freilich kein blindes Jubelgeschrei: Weil eben doch nicht alles, was getan und erreicht wird, auf individuelle Leistungen zurückgeführt werden kann, bleibt Spielraum "für das Wirken anderer Gerechtigkeitsgrundsätze".
Wie lebt es sich in dieser Welt, in der die Gerechtigkeit nicht aus einem Guss ist? Man könnte befürchten, die Unübersichtlichkeit nehme in ihr so weit überhand, dass man von der Beurteilung des kleinsten moralischen Dilemmas überfordert ist. Diese Befürchtung ist unberechtigt. Miller gibt klug ausgewählte Beispiele dafür, wie wir mit verschiedenen Maßstäben operieren und gekonnt vermeiden, alles über einen Leisten zu schlagen. Was ist zum Beispiel, wenn Männer bei Einstellungstests besser abschneiden als Frauen? Gebietet das Verdienstkriterium dann, die Männer einzustellen? Nicht unbedingt, denn wenn man davon ausgeht, dass Frauen Benachteiligungen ausgesetzt waren, dann ist anzunehmen, dass sie ihr Potential noch nicht ganz ausgeschöpft haben. Man darf sie nicht pauschal bevorzugen, aber man darf ihnen eine Art Bonus geben.
Die Festlegung solcher Kriterien und Regeln funktioniert dann am besten, wenn die Menschen in ein fortdauerndes Gespräch über Ziele und Werte verwickelt sind. Deshalb bemüht sich Miller auch um das Recycling einer Instanz, die von vielen vorschnell zum alten Eisen der Politik geworfen worden ist: nämlich des Nationalstaats. Dieser bietet, anders als bislang noch die globalisierte Weltgesellschaft, einen Rahmen, der die Verständigung über moralische Prinzipien fördern kann; in seiner Einleitung zu Millers Buch streicht Axel Honneth diesen "Republikanismus" besonders heraus.
Was bleibt von der Gleichheit? Sie spielt bei Bedarf und Verdienst eine Hilfs- und Nebenrolle. Ihre eigenste Stunde schlägt dann, wenn die individuellen Besonderheiten ganz zurücktreten, wenn es also um die allgemeinen Rechte von Staatsbürgern geht - oder auch dann, wenn etwas zu verteilen ist, für das keiner etwas kann. Miller spricht hier von "Manna-vom-Himmel-Fällen", die freilich ziemlich "außergewöhnlich" seien. In anderer Weise außergewöhnlich ist dieses Buch: Es ist gesättigt von Empirie, lakonisch, manchmal spröde im Ton, scharf in der Argumentation, zart im Umgang mit unseren Schwächen, aber auch unseren Stärken.
DIETER THOMÄ
David Miller: "Grundsätze sozialer Gerechtigkeit". Mit einem Vorwort des Autors zur deutschen Ausgabe und einer Einleitung von Axel Honneth. Aus dem Englischen von Ulrike Berger. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008. 382 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Pflichtlektüre für alle, die den Kuchen verteilen: Endlich liegt David Millers Standardwerk über Grundsätze sozialer Gerechtigkeit auch auf Deutsch vor.
Manche sagen, sie wollten die alte Pendlerpauschale wieder einführen, um eine Gerechtigkeitslücke zu schließen. Andere behaupten, die Gerechtigkeitslücke sei die Lücke zwischen Brutto und Netto. Wieder andere entdecken die Gerechtigkeitslücke im Unterschied zwischen Ost- und Westlöhnen. Schenkte man all diesen Wortführern Glauben, dann müsste die moralische Ordnung dieser Gesellschaft so viele Löcher haben, dass von ihr, wäre sie ein Schweizer Käse, kaum mehr etwas Essbares übrig bliebe. Aber vielleicht ist etwas faul an der Rhetorik der Gerechtigkeitslücke, mit der jetzt so viele das Sommerloch füllen.
Wer von einer Gerechtigkeitslücke redet, muss sich die Gerechtigkeit als ein geschlossenes Gebäude vorstellen, in dem sich verschiedene moralische Ansprüche ohne Naht und Bruch zusammenfügen. Favorisiert wird hier, architektonisch gesprochen, das Konzept der Blockbebauung. Viele Anhänger dieses Konzepts versuchen, die Verteilungsmechanismen in diesem großen Gebäude zu optimieren; sie halten sich an die Gleichheit, in der die Gerechtigkeit gipfeln soll. Andere warnen davor, dass man unter der Flagge der Gleichheit auf die schiefe Ebene gerate und geradewegs zur Gleichmacherei hinunterbrause. Sie wollen die Gleichheit wie auch die Gerechtigkeit nur noch mit spitzen Fingern anfassen.
So oder so sind all diese eifrigen Verteidiger und kritischen Eiferer Anhänger derselben Blockpartei: der Vorstellung nämlich, die Gerechtigkeit sei ein Gebäude aus einem Guss. In seinem Standardwerk "Grundsätze sozialer Gerechtigkeit", das nun knapp zehn Jahre nach der Originalausgabe auf Deutsch vorliegt, räumt der englische Philosoph David Miller mit dieser Vorstellung auf. Er lädt uns ein zur Besichtigung einer Gerechtigkeit, die aus einem Ensemble verschiedener Gebäude besteht und unterschiedliche Werte hochhält. Lücken und Leerstellen sind bei dieser Anlage unvermeidlich, ja notwendig. Das Bild, das Miller entwirft, ist - leider! - komplizierter, als es sich all jene Verteidiger und Kritiker der Gerechtigkeit als Gleichheit vorstellen, aber es ist - zum Glück! - näher an der Wirklichkeit und den alltäglichen Intuitionen.
Was missfällt Miller an jenem Gerechtigkeitsblock, der dem Gesetz der Gleichheit gehorcht? Wir müssten dann, so schreibt er, "viele der gegenwärtig üblichen menschlichen Praxen - Familienleben, wirtschaftliche Kooperation unter anderen als Gleichheitsbedingungen, Wettkampfsport, die Ehrung und Auszeichnung besonderer Leistungen in verschiedenen Bereichen - schlicht als Hindernisse für die soziale Gerechtigkeit" ansehen. Statt in diesen Phänomenen nur Störfaktoren zu sehen, will Miller sie einbeziehen - auch deshalb, weil die Frage, was daran nun gerecht und gerechtfertigt sei, regelmäßig zum Gegenstand heftiger öffentlicher Debatten wird.
Miller erinnert an den alten Grundsatz Justinians, "jedem das Seine" zu geben, was "sowohl auf gleiche wie auf ungleiche Behandlung verschiedener Personen" hinauslaufen könne: "Gerechtigkeit bedeutet dabei im Kern, dass jeder auf die seiner individuellen Persönlichkeit angemessenen Weise zu behandeln ist." Wem die in Eisen geschmiedete Inschrift am Tor des Konzentrationslagers Buchenwald "Suum cuique" nicht aus dem Kopf geht, der tut sich schwer, sich mit dem Spruch "Jedem das Seine" anzufreunden. Vielleicht ist eine gewisse egalitaristische Neigung in Deutschland (etwa im Umgang mit sogenannten "Eliten") auch darauf zurückzuführen, dass die Beachtung der Besonderheiten hierzulande von einer Geschichte der Sonderbehandlung und Ausgrenzung überschattet ist. Bei dem Vorschlag David Millers, das "Suum cuique" zu rehabilitieren, geht es nun aber um eine Sonderbehandlung im Guten, nicht im Schlechten: eine Sonderbehandlung im Namen der Gerechtigkeit.
Das klingt zunächst ganz ungerecht. Doch gestützt von Experimenten der empirischen Sozialforschung, stellt Miller fest, dass "die Urteile, die Menschen fällen, und die Verteilungsprozeduren, die sie anwenden, sich nicht auf einen einzigen Grundsatz zurückführen" lassen, also vor allem nicht auf die Gleichung Gerechtigkeit-Gleichheit. Millers "pluralistisches" Gerechtigkeitsensemble besteht stattdessen aus drei Gebäuden: Neben das Kriterium der "Gleichheit" treten der "Bedarf" und der "Verdienst".
So kann es gehen: Das Kind ist gerade vom Sport nach Hause gekommen und sitzt mit Bärenhunger am Tisch. Sein Lieblingskuchen wird serviert, jeder bekommt fein säuberlich ein gleich großes Stück, auch der Onkel, der sich aus dem Kuchen gar nichts macht. Wer solch eine Verteilung wählt, muss auf den Vorwurf gefasst sein, er gehe gemein oder eben ungerecht mit dem Kind um. Die Intuition besagt: Wenn die Bedürfnisse dieses Kindes so herausstechen, sollte man sie auch besonders berücksichtigen. Es gibt nach Miller eine bestimmte "Grundform sozialer Beziehung", die vor allem am Bedarf orientiert ist, nämlich die "solidarische Gemeinschaft". In vielen Fällen wird man hier dem einen mehr geben als dem anderen, ohne dass jemand daran Anstoß nähme. Der Bedarf macht sich aber nicht nur an individuellen Vorlieben fest, sondern kommt auch dort ins Spiel, wo man sich auf "eine gemeinsame Konzeption" dessen stützt, was zu "einem normalen menschlichen Leben" gehört. Nicht nur aus Gründen der Barmherzigkeit, sondern um der Gerechtigkeit willen ist es nach Miller geboten, diejenigen, die besonders schlecht gestellt sind, bevorzugt zu behandeln. Deshalb geht die Bedarfsgerechtigkeit über die familiäre Kaffeetafel hinaus und kann sich zur Solidargemeinschaft weiten.
Nun werden die Verteidiger der Gerechtigkeit als Gleichheit sagen, sie selbst seien längst schon dort, wo die Advokaten des Bedarfs mühsam hinstreben. Schließlich bekomme der Schlechtergestellte ja mehr als die anderen, um am Ende gleich viel zu haben wie sie. Miller befasst sich mit diesem Einwand nicht ausführlich genug, aber mit guten Gründen hält er daran fest, dass die Gleichheit hier nur hilfsweise zum Einsatz kommen kann - nämlich erst dann, wenn die Frage des Grundbedarfs geklärt ist.
Zu dieser Frage fällt dem Gleichheitstheoretiker aber nicht viel ein. Nebenbei räumt Miller übrigens mit dem Vorurteil auf, dass ein Sozialstaat, der allen Menschen einen gewissen Lebensstandard sichert, nur die Freiheit vernichtet und Massenkonsum organisiert. Nicht um den Konsum soll es dem Sozialstaat zu tun sein, sondern um eine Ausweitung von "Handlungsoptionen" für Bedürftige, also um nichts als eine Beseitigung von Freiheitshindernissen.
Millers Ensemble der Gerechtigkeit besteht aber nicht nur aus Gleichheit und Bedarf, sondern auch aus Verdienst. Viele Gerechtigkeitstheoretiker sind emsig darum bemüht, die Verdienste, die sich jemand zuschreiben kann, kleinzureden, denn wenn sie einmal anerkannt sind, dann liegt die Belohnung nahe - sei es nun in Gestalt einer öffentlichen Ehrung oder eines fetten Schecks. Was aber, so lautet der Einwand, wenn derjenige, der eine Leistung erbringt, einfach Glück mit seinen Gaben hat und für seine Exzellenz gar nichts kann? Nach Millers Beispiel könnte die Belohnung eines auf diese Weise "Begabten" auf dasselbe hinauslaufen, wie wenn man "die schönste Dahlie in der jährlichen Blumenschau" prämiert. Folgt man diesem Beispiel, so ist man auf dem besten Wege dahin, den Verdienst zu "annullieren" oder zu "sabotieren". Doch diese Konsequenz will Miller vermeiden; er will den Verdienst nicht aus der Gerechtigkeitstheorie kürzen.
Zwar mag es schwierig sein, Gaben und Leistungen auseinanderzuhalten, aber es läge doch eine seltsame Demütigung des Menschen darin, wenn man ihm bei all dem, worum er sich bemüht und was er erreicht hat, vorhalten würde, er könne eigentlich gar nichts dafür. Stattdessen plädiert Miller für eine Rehabilitierung nicht nur des Bedarfs, sondern auch des Verdienstes. Sogar ein "Hochruf auf die Meritokratie" wird angestimmt. Dieser Hochruf ist freilich kein blindes Jubelgeschrei: Weil eben doch nicht alles, was getan und erreicht wird, auf individuelle Leistungen zurückgeführt werden kann, bleibt Spielraum "für das Wirken anderer Gerechtigkeitsgrundsätze".
Wie lebt es sich in dieser Welt, in der die Gerechtigkeit nicht aus einem Guss ist? Man könnte befürchten, die Unübersichtlichkeit nehme in ihr so weit überhand, dass man von der Beurteilung des kleinsten moralischen Dilemmas überfordert ist. Diese Befürchtung ist unberechtigt. Miller gibt klug ausgewählte Beispiele dafür, wie wir mit verschiedenen Maßstäben operieren und gekonnt vermeiden, alles über einen Leisten zu schlagen. Was ist zum Beispiel, wenn Männer bei Einstellungstests besser abschneiden als Frauen? Gebietet das Verdienstkriterium dann, die Männer einzustellen? Nicht unbedingt, denn wenn man davon ausgeht, dass Frauen Benachteiligungen ausgesetzt waren, dann ist anzunehmen, dass sie ihr Potential noch nicht ganz ausgeschöpft haben. Man darf sie nicht pauschal bevorzugen, aber man darf ihnen eine Art Bonus geben.
Die Festlegung solcher Kriterien und Regeln funktioniert dann am besten, wenn die Menschen in ein fortdauerndes Gespräch über Ziele und Werte verwickelt sind. Deshalb bemüht sich Miller auch um das Recycling einer Instanz, die von vielen vorschnell zum alten Eisen der Politik geworfen worden ist: nämlich des Nationalstaats. Dieser bietet, anders als bislang noch die globalisierte Weltgesellschaft, einen Rahmen, der die Verständigung über moralische Prinzipien fördern kann; in seiner Einleitung zu Millers Buch streicht Axel Honneth diesen "Republikanismus" besonders heraus.
Was bleibt von der Gleichheit? Sie spielt bei Bedarf und Verdienst eine Hilfs- und Nebenrolle. Ihre eigenste Stunde schlägt dann, wenn die individuellen Besonderheiten ganz zurücktreten, wenn es also um die allgemeinen Rechte von Staatsbürgern geht - oder auch dann, wenn etwas zu verteilen ist, für das keiner etwas kann. Miller spricht hier von "Manna-vom-Himmel-Fällen", die freilich ziemlich "außergewöhnlich" seien. In anderer Weise außergewöhnlich ist dieses Buch: Es ist gesättigt von Empirie, lakonisch, manchmal spröde im Ton, scharf in der Argumentation, zart im Umgang mit unseren Schwächen, aber auch unseren Stärken.
DIETER THOMÄ
David Miller: "Grundsätze sozialer Gerechtigkeit". Mit einem Vorwort des Autors zur deutschen Ausgabe und einer Einleitung von Axel Honneth. Aus dem Englischen von Ulrike Berger. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008. 382 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Michael Schefczyk schätzt David Millers erstmals 1999 erschienenes, nun in deutscher Übersetzung vorliegendes Werk zur Theorie sozialer Gerechtigkeit, auch wenn er nicht in allen Punkten mit dem Autor einverstanden ist. Deutlich wird für ihn bei Miller zum einen, dass soziale Gerechtigkeit auf die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft bezogen ist, zum anderen, dass nur der Staat die Mittel hat, eine Gesellschaft im Sinne einer Theorie sozialer Gerechtigkeit zu gestalten. Er hebt den pluralistischen Ansatz von Millers Theorie hervor und betont ihre Unterfütterung durch empirische Befunde. Der Versuch des Autors, die Gerechtigkeitsprinzipien von Bedarf, Verdienst und Gleichheit den sozialen Beziehungen von solidarischer Gemeinschaft, Zweckverband und Staatsbürgerschaft zuzuordnen, scheint ihm allerdings nicht unproblematisch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Nicht jedem die gleiche Schnitte
"Eine Pflichtlektüre für alle, die den Kuchen verteilen: Endlich liegt David Millers Standardwerk über Grundsätze sozialer Gerechtigkeit auch auf Deutsch vor." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.08.2008)
"Eine Pflichtlektüre für alle, die den Kuchen verteilen: Endlich liegt David Millers Standardwerk über Grundsätze sozialer Gerechtigkeit auch auf Deutsch vor." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.08.2008)