Über die großen Texte unserer kulturellen Überlieferung von der Antike über das Mittelalter und die Renaissance bis zur Neuzeit - eine höchst spannende Lektüre.Die Schriften der griechischen und römischen Antike bilden neben den Geschichten der Bibel die zentrale Grundlage unserer literarischen Kultur, ja der kulturellen Überlieferung Überhaupt. Doch lässt sich nicht übersehen, dass das Erbe der Antike an Bedeutung verloren hat. Der oft beschworene Bildungskanon, die Schriften der antiken Welt und die großen Texte des Mittelalters, der Renaissance und der Neuzeit sind den meisten heutigen Lesern fremd.Hanjo Kesting befragt diese alten Texte neu, und es gelingt ihm, sie lebendig und aufregend werden zu lassen, uns neugierig zu machen. In drei Bänden widmet er sich den zentralen Werken aus Antike, Mittelalter und Renaissance sowie aus der Neuzeit. Er stellt jeweils neun Texte vor - vom GilgameshEpos bis zur »Germania« des Tacitus, vom Nibelungenlied bis zu Shakespeare und von den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht bis zu Marx und Nietzsche, den Meisterdenkern des 19. Jahrhunderts.Die Edition geht zurück auf eine ungewöhnlich erfolgreiche Vortragsreihe der Hamburger ZEITStiftung, in der Hanjo Kesting zunächst in Hamburg, später auch in Hannover und Lübeck, stets vor ausverkauften Sälen die zentralen Texte unserer kulturellen Überlieferung vorstellte.Inhalt:Bd. 1 AntikeDas Gilgamesh-EposDas Buch GenesisHomer - OdysseeAischylos - Die OrestieSophokles - König ÖdipusPlaton - Apologie des SokratesVergil - AeneisOvid - MetamorphosenTacitus - GermaniaBd. 2 Mittelalter und RenaissanceDas NibelungenliedHartmann von Aue - GregoriusGeschichten von König ArtusDante Alighieri - Die Göttliche KomödieGiovanni Boccaccio - Das DecameronFrançois Rabelais - Gargantua und PantagruelThomas Morus - UtopiaMichel de Montaigne - EssaisWilliam Shakespeare - HamletBd. 3 NeuzeitDie Erzählungen aus Tausendundeiner NachtVoltaire - Über die ToleranzJean-Jacques Rousseau - Abhandlung über die Wissenschaften und KünsteImmanuel Kant - Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?Johann Wolfgang Goethe - Reineke FuchsJacob und Wilhelm Grimm - Kinder- und HausmärchenHans Christian Andersen - Märchen, für Kinder erzähltKarl Marx und Friedrich Engels - Das Kommunistische ManifestFriedrich Nietzsche - Ecce homo
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2012Erklären, was kaum
noch einer liest
Was leistet ein Kanon der „Grundschriften“ Europas?
Wie würde es heute jemand anstellen, der herausfinden wollte, wer Sokrates war? Wikipedia bietet ihm einen Abriss, aber so kommt noch nicht die Figur des Philosophen zustande. Man würde ihm dann wohl raten: Fang doch mal mit der Verteidigungsrede an, die er bei seinem Prozess hielt, ehe er den Schierlingsbecher trank! Er würde sich das Reclam-Bändchen kaufen, zu lesen beginnen – und vielleicht nach kurzer Strecke stecken bleiben.
Denn es würde ihm, wenn er sonst nichts über Sokrates weiß, schwerfallen, diese Rede zu begreifen, und schon gar, wenn er dabei auf eine ältere Übersetzung stößt, die vieles für selbstverständlich hält. Und der mitgegebene Kommentar, steht zu befürchten, würde es auch nicht mehr richten. Eine lebendige Einführung müsste her, die auf ein paar Dutzend Seiten diese Welt vor 2400 Jahren erstehen und zugleich das Original so weit zu Wort kommen lässt, dass man seinen Ton, seine Art begreift, aber dann auch wieder das Zitierte erläutert.
Eine solche Einführung hat Hanjo Kesting verfasst. Er hat es vorzüglich gemacht. Die alten Texte – das heißt hier: solche, die mehr als zweihundert Jahre zurückreichen – sprechen zu einem unvorbereiteten Publikum kaum mehr von selbst. Kesting aber braucht im Schnitt vierzig Seiten, um die Gestalt eines kompletten Werks und seines Urhebers zu entwerfen, dazu seiner Zeit und der Wirkung, die es durch die Zeitalter gehabt hat; da wird auf knappem Raum viel geleistet.
Kestings dreibändiges Projekt „Grundschriften der europäischen Kultur“ – je ein Band für Antike, Mittelalter samt Renaissance und Neuzeit – umfasst drei mal neun solcher Werkporträts. Hervorgegangen ist es aus einer Reihe von Vorträgen, die der Kulturpublizist mit großem Erfolg im Hamburger Bucerius-Forum mit Unterstützung der Zeit-Stiftung gehalten hat. Nichts, so heißt es im Geleitwort, hatten die Zuschauer mitzubringen als Aufmerksamkeit und Interesse. Kesting kommt in der heutigen Bildungssituation offenbar gerade recht; er stillt ein Bedürfnis, er teilt seinen Schatz, er macht ein Geschenk.
Seine nützlichsten Stücke sind jene, wo ein Name ganz zum Gerücht abgeblasst ist, wie im Falle von Vergil und seiner Äneis; und da, wo von einer „Grundschrift“ eigentlich nicht die Rede sein kann, weil der Stoff wiederholt und widersprüchlich bearbeitet worden ist, etwa bei der Orestie oder dem Sagenkreis um König Artus. Wer Montaigne noch nicht kannte, wird gern den hier gegebenen Hinweisen folgen; wer mit Rousseau unvertraut war, lernt eben genug, um sich von dessen Büchern mit besserem Gewissen als bisher fernzuhalten. Ja, in einigen Fällen ersetzt Kestings Porträt geradezu die Selbst-Lektüre.
Doch kann man diesem verdienstvollen Kanon-Werk auch Einwände nicht ersparen. Die geringsten betreffen die Auswahl. Je näher wir der Gegenwart kommen, desto größer wird natürlich der Dissens darüber, was eine „Grundschrift“ sei, einfach deswegen, weil die Zahl der Bücher überhaupt immer mehr anwächst. Dass man nur entweder die „Odyssee“ oder die „Ilias“ nehmen kann, liegt auf der Hand. (Kesting entscheidet sich für die „Odyssee“). Aber warum unter den wichtigsten Schriften der letzten 300 Jahre gleich dreimal Märchen? Außer den Brüdern Grimm gibt es hier die Märchen aus Tausendundeiner Nacht und die Hans Christian Andersens. Warum von Goethe ausgerechnet den „Reineke Fuchs“ herausgreifen? Weil die Iphigenie schon bei der Orestie mitverarztet worden ist und der „Faust“ einer Einführung unbedürftig schien? Der Reineke ist trotzdem ein relativ schwaches Nebenwerk. Einen ähnlichen Streifschuss gibt Kesting auf Immanuel Kant ab, bei dem er sich, da er dessen Kritiken als in diesem Rahmen nicht verhandelbar deklariert, an die kleine Schrift „Was ist Aufklärung?“ hält und ansonsten viel anekdotisches Material präsentiert. Warum bei Nietzsche der schon den Wahnsinn anstreifende Spätling „Ecce Homo“, und nicht das offene, heitere, gedankenreiche Werk seiner mittleren Jahre? Hingegen leuchtet ein, dass Kesting mit Nietzsche die Reihe schließt. Seine Aufgabe als Vermittler hat sich hier, an der Schwelle zur Gegenwart, schon fast erübrigt.
Der bedenklichste Punkt tritt im Titel hervor: „Grundschriften der europäischen Kultur – Erfahren, woher wir kommen“. Dass hier Europa genannt wird und nicht das Abendland, ist soweit dankenswert. Eine Einengung des Horizonts bezeichnet es trotzdem. Und was heißt „Erfahren, woher wir kommen?“ Das will sich zwischen bloßer Kenntnisnahme und verpflichtendem Erbe nicht so recht entscheiden.
Am schlagendsten wird dieser Mangel bei zwei Schriften bemerkbar, die es bis heute dem Leser nicht erlassen, zu ihnen Stellung zu nehmen, und die dem gemütlichen Historismus die Hölle heiß machen: bei der Bibel und dem „Kommunistischen Manifest“. Von Ersterer hat Hanjo Kesting das Buch Genesis ausgesucht, wahrscheinlich, weil sich dem schlechthin fordernden Charakter der Bibel hier noch am ehesten ins Narrative ausweichen ließ. Über die Opferung des Sohnes Isaak, die Gott von Abraham verlangt, wird gesagt, es sei „eine der verstörendsten, aber großartigsten Episoden“ dieses Buchs. Einmal abgesehen davon, dass mit dieser Szene bestimmt keine Episode, sondern ein Kernstück vorliegt: In dem Maß, wie es mit dem Anspruch ernst ist, es handle sich um ein Stück göttlicher Offenbarung, schließen sich das Verstörende und das Großartige wechselseitig aus. Wenn Gott so etwas tun kann, muss man sich unterwerfen oder empören; für die ästhetische Wertung jedenfalls bleibt kein Platz.
In noch peinlichere Verlegenheit aber bringt den Einführungs-Autor das Kommunistische Manifest von Marx und Engels. Hier windet er sich geradezu. „Diese Geschichtsauffassung (. . .) stieß seinerzeit auf heftige Ablehnung und hartnäckigen Widerstand, und auch im Laufe von anderthalb Jahrhunderten ist sie, salopp gesprochen, nicht beliebter geworden.“ Ist das ein Gesichtspunkt? „Spätestens an diesem Punkt wird der historische Charakter der Schrift offenbar. Begriffe wie Bourgeoisie und Proletariat, mögen ihre Wesensmerkmale auch in ähnlicher oder verkleideter Form bis heute überlebt haben, sind kaum noch geeignet, die Wirklichkeit unserer modernen Geld-, Medien- und Dienstleistungsgesellschaft zu beschreiben, zumal in ihrer globalisierten Form.“
Wenn dem so ist und das Kommunistische Manifest bloß noch veraltet, warum es in einen Kanon der „Grundschriften“ aufnehmen? Doch dann heißt es wieder: „Die Analyse ist im Großen und Ganzen bis heute gültig geblieben, wie die Geschichte des Kapitalismus im zurückliegenden Jahrhundert zeigt.“ Was denn jetzt? Ist das Manifest nun historisch oder ist es aktuell? Darüber, wie diese beiden Dinge sich zueinander verhalten, hat sich Hanjo Kesting zu wenig Gedanken gemacht. Woher wir kommen, das langt nicht; um ein solches Projekt eines Kanon der „Grundschriften“ über die noch so respektable Darbietung eines Bestands hinaus mit der Energie des Zeitgenössischen und Relevanten aufzuladen, müsste man auch fragen, wo wir stehen, und vielleicht sogar, wohin wir wollen.
BURKHARD MÜLLER
Die heutige Bildungsfrage:
Wie kann die Einführung die
eigene Lektüre ersetzen?
Hanjo Kesting: Grundschriften der europäischen Kultur. Erfahren, woher wir kommen. 1. Band: Antike. 2. Band: Mittelalter und Renaissance. 3. Band: Neuzeit. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. Zusammen 1194 Seiten, 34,90 Euro.
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Was leistet ein Kanon der „Grundschriften“ Europas?
Wie würde es heute jemand anstellen, der herausfinden wollte, wer Sokrates war? Wikipedia bietet ihm einen Abriss, aber so kommt noch nicht die Figur des Philosophen zustande. Man würde ihm dann wohl raten: Fang doch mal mit der Verteidigungsrede an, die er bei seinem Prozess hielt, ehe er den Schierlingsbecher trank! Er würde sich das Reclam-Bändchen kaufen, zu lesen beginnen – und vielleicht nach kurzer Strecke stecken bleiben.
Denn es würde ihm, wenn er sonst nichts über Sokrates weiß, schwerfallen, diese Rede zu begreifen, und schon gar, wenn er dabei auf eine ältere Übersetzung stößt, die vieles für selbstverständlich hält. Und der mitgegebene Kommentar, steht zu befürchten, würde es auch nicht mehr richten. Eine lebendige Einführung müsste her, die auf ein paar Dutzend Seiten diese Welt vor 2400 Jahren erstehen und zugleich das Original so weit zu Wort kommen lässt, dass man seinen Ton, seine Art begreift, aber dann auch wieder das Zitierte erläutert.
Eine solche Einführung hat Hanjo Kesting verfasst. Er hat es vorzüglich gemacht. Die alten Texte – das heißt hier: solche, die mehr als zweihundert Jahre zurückreichen – sprechen zu einem unvorbereiteten Publikum kaum mehr von selbst. Kesting aber braucht im Schnitt vierzig Seiten, um die Gestalt eines kompletten Werks und seines Urhebers zu entwerfen, dazu seiner Zeit und der Wirkung, die es durch die Zeitalter gehabt hat; da wird auf knappem Raum viel geleistet.
Kestings dreibändiges Projekt „Grundschriften der europäischen Kultur“ – je ein Band für Antike, Mittelalter samt Renaissance und Neuzeit – umfasst drei mal neun solcher Werkporträts. Hervorgegangen ist es aus einer Reihe von Vorträgen, die der Kulturpublizist mit großem Erfolg im Hamburger Bucerius-Forum mit Unterstützung der Zeit-Stiftung gehalten hat. Nichts, so heißt es im Geleitwort, hatten die Zuschauer mitzubringen als Aufmerksamkeit und Interesse. Kesting kommt in der heutigen Bildungssituation offenbar gerade recht; er stillt ein Bedürfnis, er teilt seinen Schatz, er macht ein Geschenk.
Seine nützlichsten Stücke sind jene, wo ein Name ganz zum Gerücht abgeblasst ist, wie im Falle von Vergil und seiner Äneis; und da, wo von einer „Grundschrift“ eigentlich nicht die Rede sein kann, weil der Stoff wiederholt und widersprüchlich bearbeitet worden ist, etwa bei der Orestie oder dem Sagenkreis um König Artus. Wer Montaigne noch nicht kannte, wird gern den hier gegebenen Hinweisen folgen; wer mit Rousseau unvertraut war, lernt eben genug, um sich von dessen Büchern mit besserem Gewissen als bisher fernzuhalten. Ja, in einigen Fällen ersetzt Kestings Porträt geradezu die Selbst-Lektüre.
Doch kann man diesem verdienstvollen Kanon-Werk auch Einwände nicht ersparen. Die geringsten betreffen die Auswahl. Je näher wir der Gegenwart kommen, desto größer wird natürlich der Dissens darüber, was eine „Grundschrift“ sei, einfach deswegen, weil die Zahl der Bücher überhaupt immer mehr anwächst. Dass man nur entweder die „Odyssee“ oder die „Ilias“ nehmen kann, liegt auf der Hand. (Kesting entscheidet sich für die „Odyssee“). Aber warum unter den wichtigsten Schriften der letzten 300 Jahre gleich dreimal Märchen? Außer den Brüdern Grimm gibt es hier die Märchen aus Tausendundeiner Nacht und die Hans Christian Andersens. Warum von Goethe ausgerechnet den „Reineke Fuchs“ herausgreifen? Weil die Iphigenie schon bei der Orestie mitverarztet worden ist und der „Faust“ einer Einführung unbedürftig schien? Der Reineke ist trotzdem ein relativ schwaches Nebenwerk. Einen ähnlichen Streifschuss gibt Kesting auf Immanuel Kant ab, bei dem er sich, da er dessen Kritiken als in diesem Rahmen nicht verhandelbar deklariert, an die kleine Schrift „Was ist Aufklärung?“ hält und ansonsten viel anekdotisches Material präsentiert. Warum bei Nietzsche der schon den Wahnsinn anstreifende Spätling „Ecce Homo“, und nicht das offene, heitere, gedankenreiche Werk seiner mittleren Jahre? Hingegen leuchtet ein, dass Kesting mit Nietzsche die Reihe schließt. Seine Aufgabe als Vermittler hat sich hier, an der Schwelle zur Gegenwart, schon fast erübrigt.
Der bedenklichste Punkt tritt im Titel hervor: „Grundschriften der europäischen Kultur – Erfahren, woher wir kommen“. Dass hier Europa genannt wird und nicht das Abendland, ist soweit dankenswert. Eine Einengung des Horizonts bezeichnet es trotzdem. Und was heißt „Erfahren, woher wir kommen?“ Das will sich zwischen bloßer Kenntnisnahme und verpflichtendem Erbe nicht so recht entscheiden.
Am schlagendsten wird dieser Mangel bei zwei Schriften bemerkbar, die es bis heute dem Leser nicht erlassen, zu ihnen Stellung zu nehmen, und die dem gemütlichen Historismus die Hölle heiß machen: bei der Bibel und dem „Kommunistischen Manifest“. Von Ersterer hat Hanjo Kesting das Buch Genesis ausgesucht, wahrscheinlich, weil sich dem schlechthin fordernden Charakter der Bibel hier noch am ehesten ins Narrative ausweichen ließ. Über die Opferung des Sohnes Isaak, die Gott von Abraham verlangt, wird gesagt, es sei „eine der verstörendsten, aber großartigsten Episoden“ dieses Buchs. Einmal abgesehen davon, dass mit dieser Szene bestimmt keine Episode, sondern ein Kernstück vorliegt: In dem Maß, wie es mit dem Anspruch ernst ist, es handle sich um ein Stück göttlicher Offenbarung, schließen sich das Verstörende und das Großartige wechselseitig aus. Wenn Gott so etwas tun kann, muss man sich unterwerfen oder empören; für die ästhetische Wertung jedenfalls bleibt kein Platz.
In noch peinlichere Verlegenheit aber bringt den Einführungs-Autor das Kommunistische Manifest von Marx und Engels. Hier windet er sich geradezu. „Diese Geschichtsauffassung (. . .) stieß seinerzeit auf heftige Ablehnung und hartnäckigen Widerstand, und auch im Laufe von anderthalb Jahrhunderten ist sie, salopp gesprochen, nicht beliebter geworden.“ Ist das ein Gesichtspunkt? „Spätestens an diesem Punkt wird der historische Charakter der Schrift offenbar. Begriffe wie Bourgeoisie und Proletariat, mögen ihre Wesensmerkmale auch in ähnlicher oder verkleideter Form bis heute überlebt haben, sind kaum noch geeignet, die Wirklichkeit unserer modernen Geld-, Medien- und Dienstleistungsgesellschaft zu beschreiben, zumal in ihrer globalisierten Form.“
Wenn dem so ist und das Kommunistische Manifest bloß noch veraltet, warum es in einen Kanon der „Grundschriften“ aufnehmen? Doch dann heißt es wieder: „Die Analyse ist im Großen und Ganzen bis heute gültig geblieben, wie die Geschichte des Kapitalismus im zurückliegenden Jahrhundert zeigt.“ Was denn jetzt? Ist das Manifest nun historisch oder ist es aktuell? Darüber, wie diese beiden Dinge sich zueinander verhalten, hat sich Hanjo Kesting zu wenig Gedanken gemacht. Woher wir kommen, das langt nicht; um ein solches Projekt eines Kanon der „Grundschriften“ über die noch so respektable Darbietung eines Bestands hinaus mit der Energie des Zeitgenössischen und Relevanten aufzuladen, müsste man auch fragen, wo wir stehen, und vielleicht sogar, wohin wir wollen.
BURKHARD MÜLLER
Die heutige Bildungsfrage:
Wie kann die Einführung die
eigene Lektüre ersetzen?
Hanjo Kesting: Grundschriften der europäischen Kultur. Erfahren, woher wir kommen. 1. Band: Antike. 2. Band: Mittelalter und Renaissance. 3. Band: Neuzeit. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. Zusammen 1194 Seiten, 34,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als Präsentation eines Bestands, nämlich eines Schatzes europäischer Schriften aus Antike, Mittelalter und Neuzeit, den der Autor hier zu einem Kanon verdichtet, findet Burkhard Müller die drei Bände von Hanjo Kesting sehr respektabel. Mit ihnen vermag der Rezensent kurz und bündig Odyssee, Grimms Märchen, Montaigne oder die Orestie und ihren jeweiligen Kontext kennenzulernen, mitunter so weit, dass er glaubt, sich die Lektüres des Originaltextes sparen zu können. Dass Kestings Auswahl nicht in allen Einzelheiten nachvollziehbar ist (wieso Goethes "Reineke Fuchs"?) ist eigentlich auch klar. Nachhaltig irritiert zeigt sich Müller spätestens beim Lesen von Kestings Einführung in das Kommunistische Manifest. Der Autor vermag ihm nicht deutlich zu machen, ob es aktuell oder überholt ist (was die Aufnahme in den Band fragwürdig machte). Um Relevanz aber, meint der Rezensent, geht es hier schließlich doch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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