"Von europ. Wald keine Rede, die Bäume vorm Haus und auch wenn man mit Einholekorb umherwandelt, in Talbiyeh und Rehavia (das ist das "vierte Reich", sozusagen, wo die deutschen Emigranten sich zu Israelis wandelten) ist es beinahe Dahlemisch", schreibt Mascha Kaléko aus Jerusalem. Anfang der 1920er Jahre als Gartenstadt angelegt, wurde Rechavia vor allem ab 1933 zum Zentrum der deutschen Juden. Else Lasker-Schüler lebte hier, Gershom Scholem - und neben bekannten Namen ein lebhafter deutsch-jüdischer Mikrokosmos. Idyllisch gelegen, doch mit einem schwierigen Alltag. Rechavia lag im Fadenkreuz der lange geteilten Stadt. Gegenwart und Vergangenheit der Shoah lasteten auf seinen Bewohnern. Zugleich aber war dies der Ort deutsch-israelischer Annäherung. Thomas Sparr zeichnet ein so anschauliches wie bewegendes Bild eines Viertels und der Menschen, die hier lebten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2018Deutsch hört man in diesen Gassen nicht mehr
Eine preußische Beamtenstadt unweit des Tempelbergs: Thomas Sparr erweckt das deutsch-jüdische Jerusalem zum Leben.
Als die zionistische Landentwicklungsgesellschaft den gerade eingewanderten Frankfurter Architekten Richard Kaufmann 1921 beauftragte, in Jerusalem eine Gartenstadt zu erschaffen, mag es ihm nicht ganz leichtgefallen sein, dem felsigen Jerusalemer Untergrund Pflanzen und Blumen nach Berliner Vorbild zu entlocken. Doch es gelang. Und das Reißbrettviertel Rehavia, das er baute, überdauert in seiner Form jetzt schon fast hundert Jahre.
Weidenbäume und Palmen stehen immer noch da, auch Orangenbäume. Orangen werden allerdings nicht mehr immer aufgesammelt in den fast menschenleer gewordenen engen Gassen zwischen den Etagenhäusern, deren helle Jerusalemer Natursteine mitgealtert sind und auf denen Moos die Patina untergegangener Jahrzehnte bildet. Menschenleer: Die eingesessenen Bewohner Rehavias sind zu alt und die neuen Bewohner zu reich, um zu flanieren. Auf der Straße wird heute Hebräisch und Französisch gesprochen. Anwaltskanzleien, edle Friseure und Immobilienmakler befinden sich dort, wo früher Kaffee getrunken und gedacht wurde. Das Deutsch ist fort von der Straße. Und doch nicht verschwunden - verewigt bleibt es in den Büchern jener Autoren, die hier vor allem in den Kriegs- und Nachkriegsjahren zusammengekommen waren: Else Lasker-Schüler, Gershom Sholem, Hannah Ahrendt und viele andere.
Thomas Sparr, der einige Jahre den Jüdischen Verlag bei Suhrkamp leitete, hat diesen deutschsprachigen Juden ein Buch gewidmet, und zwar jenen, die in Rehavia wohnten oder es zumindest streiften: "Grunewald im Orient" nannten die neuen Bewohner ihren Stadtteil im Blick zurück. Sie waren dem Nationalsozialismus entkommen und hatten in Rehavia wiederaufzubauen versucht, was sie zurücklassen mussten: Cafés, Hausmusikabende, Theater wie in Berlin. Vom Sehnsuchtsort Jerusalem ist wenig zu spüren in diesem Buch, golden glänzt nicht die Sonne über Kuppeln und Kirchen, sondern das Abstrakte und die Kunst. In Rehavia wohnten deutsche Professoren, Literaten und Gelehrte, für die Religion eine eher theoretische Rolle spielte. "Rehavia war auch eine preußisch geprägte Beamtenstadt", schreibt Sparr. Vielen blieb die neue Umgebung fremd.
Zwanzig Porträts der wichtigsten Bewohner und Gäste Rehavias skizziert Sparr. Handelt es sich um eine Zufallsgemeinschaft, oder hat Rehavia etwas Eigenes begründet? Allen gemein ist jedenfalls die Sorgfalt sowohl im Denken wie im Leben, die Sparr bewundert. Er hat von 1986 bis 1989 selbst in Jerusalem gelebt und am Leo Baeck Institut gearbeitet, das 1955 in der Hochzeit des deutschjüdischen Rehavias zur Erforschung und Bewahrung der deutsch-jüdischen Literatur gegründet worden war.
Rehavia dient Sparr als Rahmen, um Hannah Ahrendt, die als Besucherin in Tel Aviv und Rehavia untergekommen war, als sie über den Eichmann-Prozess berichtete, und Gershom Sholem, Paul Celan, Martin Buber und Else Lasker-Schüler stadtteilhistorisch miteinander verbinden. Die meisten von ihnen taten sich schwer mit ihrem Jerusalemer Exil. Lesungen wurden in Rehavia meist auf Deutsch gehalten. Einen "Konflikt der Sprachen" beschrieb etwa Celan, der "fühlte, dass er hier in Jerusalem - in Israel - nicht Deutsch schreiben konnte und durfte, wenn er dazugehören wollte", so Sparr.
Wie viele andere Altneuankömmlinge lernte auch Lasker-Schüler nicht mehr Hebräisch, aber das sollte nicht heißen, dass damit das Leben vorbei war. Es begann ein neues - für die Schriftstellerin Anna Maria Jokl war Rehavia nach Flucht und Vertreibung schon ihr "sechstes Leben". Sparr widmet Jokl ebenfalls ein knappes Kapitel - mit Hintergrundwissen, das für ein eigenes Buch reichen würde. Lasker-Schüler jedenfalls verliebte sich in Rehavia in ihren dreißig Jahre jüngeren Nachbarn, den Pädagogen Ernst Simon, erfahren wir. Für ihn schrieb sie ihr schönstes Liebesgedicht. Auch Konrad Adenauer widmet Sparr eine Betrachtung. Der Altbundeskanzler war 1966, ein Jahr nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, zu einem heiklen Besuch nach Jerusalem gekommen; auch nach Rehavia. denn dort befindet sich die Residenz des israelischen Ministerpräsidenten.
Das alte Rehavia ist längst selbst zu einem Sehnsuchtsort in einer sich immer schneller verwandelnden Stadt geworden. In Büchern wird es erhalten bleiben. Sparrs Buch ist die Pforte in diesen Garten des deutschen jüdischen Humanismus. Der "geistigen Lebensform" seiner Vertreter hat er eine einnehmende Beschreibung gewidmet.
JOCHEN STAHNKE
Thomas Sparr: "Grunewald im Orient". Das deutsch-jüdische Jerusalem.
Berenberg Verlag, Berlin 2017. 184 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine preußische Beamtenstadt unweit des Tempelbergs: Thomas Sparr erweckt das deutsch-jüdische Jerusalem zum Leben.
Als die zionistische Landentwicklungsgesellschaft den gerade eingewanderten Frankfurter Architekten Richard Kaufmann 1921 beauftragte, in Jerusalem eine Gartenstadt zu erschaffen, mag es ihm nicht ganz leichtgefallen sein, dem felsigen Jerusalemer Untergrund Pflanzen und Blumen nach Berliner Vorbild zu entlocken. Doch es gelang. Und das Reißbrettviertel Rehavia, das er baute, überdauert in seiner Form jetzt schon fast hundert Jahre.
Weidenbäume und Palmen stehen immer noch da, auch Orangenbäume. Orangen werden allerdings nicht mehr immer aufgesammelt in den fast menschenleer gewordenen engen Gassen zwischen den Etagenhäusern, deren helle Jerusalemer Natursteine mitgealtert sind und auf denen Moos die Patina untergegangener Jahrzehnte bildet. Menschenleer: Die eingesessenen Bewohner Rehavias sind zu alt und die neuen Bewohner zu reich, um zu flanieren. Auf der Straße wird heute Hebräisch und Französisch gesprochen. Anwaltskanzleien, edle Friseure und Immobilienmakler befinden sich dort, wo früher Kaffee getrunken und gedacht wurde. Das Deutsch ist fort von der Straße. Und doch nicht verschwunden - verewigt bleibt es in den Büchern jener Autoren, die hier vor allem in den Kriegs- und Nachkriegsjahren zusammengekommen waren: Else Lasker-Schüler, Gershom Sholem, Hannah Ahrendt und viele andere.
Thomas Sparr, der einige Jahre den Jüdischen Verlag bei Suhrkamp leitete, hat diesen deutschsprachigen Juden ein Buch gewidmet, und zwar jenen, die in Rehavia wohnten oder es zumindest streiften: "Grunewald im Orient" nannten die neuen Bewohner ihren Stadtteil im Blick zurück. Sie waren dem Nationalsozialismus entkommen und hatten in Rehavia wiederaufzubauen versucht, was sie zurücklassen mussten: Cafés, Hausmusikabende, Theater wie in Berlin. Vom Sehnsuchtsort Jerusalem ist wenig zu spüren in diesem Buch, golden glänzt nicht die Sonne über Kuppeln und Kirchen, sondern das Abstrakte und die Kunst. In Rehavia wohnten deutsche Professoren, Literaten und Gelehrte, für die Religion eine eher theoretische Rolle spielte. "Rehavia war auch eine preußisch geprägte Beamtenstadt", schreibt Sparr. Vielen blieb die neue Umgebung fremd.
Zwanzig Porträts der wichtigsten Bewohner und Gäste Rehavias skizziert Sparr. Handelt es sich um eine Zufallsgemeinschaft, oder hat Rehavia etwas Eigenes begründet? Allen gemein ist jedenfalls die Sorgfalt sowohl im Denken wie im Leben, die Sparr bewundert. Er hat von 1986 bis 1989 selbst in Jerusalem gelebt und am Leo Baeck Institut gearbeitet, das 1955 in der Hochzeit des deutschjüdischen Rehavias zur Erforschung und Bewahrung der deutsch-jüdischen Literatur gegründet worden war.
Rehavia dient Sparr als Rahmen, um Hannah Ahrendt, die als Besucherin in Tel Aviv und Rehavia untergekommen war, als sie über den Eichmann-Prozess berichtete, und Gershom Sholem, Paul Celan, Martin Buber und Else Lasker-Schüler stadtteilhistorisch miteinander verbinden. Die meisten von ihnen taten sich schwer mit ihrem Jerusalemer Exil. Lesungen wurden in Rehavia meist auf Deutsch gehalten. Einen "Konflikt der Sprachen" beschrieb etwa Celan, der "fühlte, dass er hier in Jerusalem - in Israel - nicht Deutsch schreiben konnte und durfte, wenn er dazugehören wollte", so Sparr.
Wie viele andere Altneuankömmlinge lernte auch Lasker-Schüler nicht mehr Hebräisch, aber das sollte nicht heißen, dass damit das Leben vorbei war. Es begann ein neues - für die Schriftstellerin Anna Maria Jokl war Rehavia nach Flucht und Vertreibung schon ihr "sechstes Leben". Sparr widmet Jokl ebenfalls ein knappes Kapitel - mit Hintergrundwissen, das für ein eigenes Buch reichen würde. Lasker-Schüler jedenfalls verliebte sich in Rehavia in ihren dreißig Jahre jüngeren Nachbarn, den Pädagogen Ernst Simon, erfahren wir. Für ihn schrieb sie ihr schönstes Liebesgedicht. Auch Konrad Adenauer widmet Sparr eine Betrachtung. Der Altbundeskanzler war 1966, ein Jahr nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, zu einem heiklen Besuch nach Jerusalem gekommen; auch nach Rehavia. denn dort befindet sich die Residenz des israelischen Ministerpräsidenten.
Das alte Rehavia ist längst selbst zu einem Sehnsuchtsort in einer sich immer schneller verwandelnden Stadt geworden. In Büchern wird es erhalten bleiben. Sparrs Buch ist die Pforte in diesen Garten des deutschen jüdischen Humanismus. Der "geistigen Lebensform" seiner Vertreter hat er eine einnehmende Beschreibung gewidmet.
JOCHEN STAHNKE
Thomas Sparr: "Grunewald im Orient". Das deutsch-jüdische Jerusalem.
Berenberg Verlag, Berlin 2017. 184 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
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