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Paul liebt Berlin, vor allem Westberlin, sofern man Westberlin lieben kann, wenn man in einer dunklen Hinterhofwohnung in Kreuzberg lebt. Und er liebt Maria, die Spanierin mit den graugrünen Augen und der Motorradjacke. Die beiden lernen sich in Málaga kennen, wo er als Sprachlehrer jobbt. Maria, die angehende Ärztin, wird für ihn zur Liebe seines Lebens, und doch muß er sie bald verlassen: Sie ist verheiratet und erwartet ein Kind. Aber bei seinem Abschied aus Spanien ruft sie ihm nach: »Permanecemos juntos!« - »Wir bleiben zusammen!« Und tatsächlich: Sie sehen sich wieder, in Deutschland.…mehr

Produktbeschreibung
Paul liebt Berlin, vor allem Westberlin, sofern man Westberlin lieben kann, wenn man in einer dunklen Hinterhofwohnung in Kreuzberg lebt. Und er liebt Maria, die Spanierin mit den graugrünen Augen und der Motorradjacke. Die beiden lernen sich in Málaga kennen, wo er als Sprachlehrer jobbt. Maria, die angehende Ärztin, wird für ihn zur Liebe seines Lebens, und doch muß er sie bald verlassen: Sie ist verheiratet und erwartet ein Kind. Aber bei seinem Abschied aus Spanien ruft sie ihm nach: »Permanecemos juntos!« - »Wir bleiben zusammen!« Und tatsächlich: Sie sehen sich wieder, in Deutschland. Von der Lobby des Münchner Hotels Vier Jahreszeiten aus brechen sie auf zu einer Reise, die freilich nur einen halben Tag dauert ... Auf einem olivenbestandenen Grundstück hoch über dem Meer in Südspanien und an den mit Hunde-Urin verseuchten Stränden rund um den Grunewaldsee verwickelt Bestsellerautor Hans-Ulrich Treichel seinen Helden in eine Liebesgeschichte, wie sie nur dieser Meister der heiteren Melancholie und des lakonischen Spotts erzählen kann: voller Abstürze und in höchstem Maß vergnüglich.
Autorenporträt
Treichel, Hans-UlrichHans-Ulrich Treichel, am 12.8.1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Er war Lektor für deutsche Sprache an der Universität Salerno und an der Scuola Normale Superiore Pisa. Von 1985-1991 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und habilitierte sich 1993. Von 1995 bis 2018 war Hans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt.
Rezensionen
»Hans-Ulrich Treichel spürt in Grunewaldsee dem Berlin-Gefühl der achtziger Jahre hinterher. Der heitere und tieftraurige Roman ist sein bester seit langem« Wolfgang Schneider Frankfurter Allgemeine Zeitung 20100318

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2010

Hinter dem anti-niedersächsischen Schutzwall

Joggen gegen das leidige Angstgewicht der Existenz: Hans-Ulrich Treichel spürt in "Grunewaldsee" dem Berlin-Gefühl der achtziger Jahre hinterher. Der heitere und tieftraurige Roman ist sein bester seit langem.

Das Leben ist ein Prozess von Desillusionierungen, bei denen erhebliche Mengen an Komik freigesetzt werden. Zumindest dann, wenn die Enttäuschungsgeschichten von Hans-Ulrich Treichel erzählt werden, einem der wenigen herausragenden Humoristen der deutschen Gegenwartsliteratur.

Wie Robert Walser ist Treichel ein Autor der kleinen Erfahrung, des scheinbar unscheinbaren Lebensdetails und der kleinen Pointe. In einem Essay hat er einmal beschrieben, wie er dank diverser Einladungen schon auf allen Kontinenten herumgekommen sei: "Das hört sich ziemlich großartig und weltmännisch an, aber ich sage mir immer: Vergiss nie, dass du es bist, der dort herumreist." Das lässt sich auf die Romane übertragen: Es sind die von Phantomschuld gebeugten Treichel-Gestalten, die hier eher spärliche Formen von Wirklichkeit generieren. "Wollte er sein moralisches Lebensgefühl definieren, dann würde er sagen: Ich bin ein Schwarzfahrer mit gültiger Monatskarte", heißt es einmal über Paul, die Hauptfigur des neuen Romans "Grunewaldsee".

Treichels Helden sehen sich alle ziemlich ähnlich; sie sind Figurationen einer fortgesetzten Konfession. Paul ähnelt besonders stark dem Albert aus "Der irdische Amor" - das war ein gebürtiger Ostwestfale und Berliner Student der Kunstgeschichte, mit starker Italiensehnsucht. Paul firmiert nun als gebürtiger Niedersachse aus Braunschweig-Gliesmarode, er hat in Berlin Geschichte studiert, und es zieht ihn heftig nach Spanien. Aktuell ist der Wahl-Kreuzberger mit Warten beschäftigt: Im Berlin der achtziger Jahre muss der künftige Lehrer für einen Referendariatsplatz drei Jahre anstehen.

Von diesem jungen Mann kann man nicht erwarten, dass er sein Kreuzberg wie ein Herr Lehmann zelebriert. Regeners alternativem Heimatroman steht bei Treichel, der mit einer Erzählung über ein generationsübergreifend nachwirkendes Flucht-Trauma berühmt wurde ("Der Verlorene"), die melancholische Beschwörung der Heimatlosigkeit gegenüber. Auch Paul ist ein Flüchtling - ganz dringend musste er die Gliesmaroder Provinzjugend hinter sich lassen. Aber auch am Kottbusser Tor wird er nicht heimisch. Leben im inneren Widerstand: Beim Verfertigen eines Referats über "Vormoderne Lebenswelten" fühlt er sich in seiner kleinen Hinterhofwohnung von türkischer Musik belästigt. Kebabträume in der Mauerstadt? Lieber nicht. Besonders lästig ist die Abluftanlage der türkischen Bäckerei im Erdgeschoss, denn sie entlässt den Schmalzgebäckgeruch direkt vor Pauls Fenster. Als er den Bäcker aufsucht, um sich zu beschweren, umarmt der ihn und lädt ihn für Sonntagnachmittag zum Familienbesuch ein - woraus sich ein erzählerisches Kabinettstück ergibt.

Am liebsten würde Paul ganz auf die Pfaueninsel umziehen. Das Beste an Berlin und Umgebung sind für ihn die mediterranen Halluzinationen und Imitationen, wie die Sacrower Heilandskirche mit ihrem Campanile, Preußens Arkadien. Zu romantischen Spaziergängen verabredet er sich am Grunewaldsee, einem urinduftenden Hundeauslaufgebiet, umrauscht von der nahen Avus - aber mit Sonnenuntergängen wie in Granada.

Nebenbei lernt Paul Spanisch. Daraus ergibt sich die Chance zum Ausbruch. In Málaga wird dringend eine Hilfskraft gesucht, die Deutsch für Anfänger unterrichtet. Paul macht sich auf die Reise; in einer Dozenten-WG findet er ein winziges, fensterloses Zimmer - so unzumutbar, dass sich bald die schöne María seiner annimmt und ihn im Landhaus ihres Onkels einquartiert, einem pensionierten Capitán der Guardia Civil. Handelt es sich womöglich um einen alten Franco-Faschisten? Die Frage gibt Paul, der in seiner Kreuzberger Küche das "Guernica"-Poster hängen hat, viel zu denken, zumal seine eigene Familie "auf Hausmeisterebene" ins Dritte Reich verstrickt war. Wie auch immer, eines wunderbaren Morgens, als der Onkel nicht da ist, schleicht sich María ins Haus und wird anschmiegsam - Paul kann sein Glück kaum fassen. Bald darauf sind sie ein Liebespaar, treffen sich regelmäßig auf einer abgelegenen Obstwiese und frönen herrlich enthemmt dem faunischen Sex. Das hat nichts mehr zu tun mit jenem "sozialpartnerschaftlichen", gewissermaßen von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft abgesegneten Liebesspiel, wie es Paul bisher mit Berliner Studentinnen kannte. Es ist das Glück; das "Angstgewicht" seiner Existenz hat sich spürbar verringert.

Nur: Im Lauf des Sommers wölbt sich Marías Bauch - sie ist schwanger. Und zwar nicht von Paul, sondern von ihrem Mann, mit dem sie die unglückliche Ehe fortzusetzen gedenkt. Da hat Treichel seinen Helden wieder in ein literarisch produktives Dilemma bugsiert. Denn zugleich macht María dem schwer verliebten Paul Hoffnungen: "Permanecemos juntos", ruft sie ihm hinterher, als er nach Berlin zurückkehrt: Wir bleiben verbunden. Zwei Worte, die fortan den Treibstoff für die existentielle Warteschleife bilden. Denn jetzt wartet Paul nicht mehr nur aufs Referendariat, sondern auch auf María. Beides zusammen gibt ihm unerschütterliches Vertrauen auf die Zukunft.

So lebt er hin - und der Roman wird zwischenzeitlich zum Plauderkunstwerk. Da geht es unter anderem um entwürdigende Einstellungsgespräche (Paul bemüht sich um eine Stelle als bibliothekarische Hilfskraft), um die "Idyllenkrankheit" vieler Mütter, um die Angst der Alten, zu Anekdotenmaterial für die Jungen zu werden ("Paul wusste auch, dass der Tag kommen würde, an dem er zur bloßen Anekdote für jemand anderen wurde, während es für ihn selbst vielleicht um die Existenz oder gar um sein Leben ging"), um die heruntergekommene Tradition des Nacktbadens im "Bullenwinkel"(so der lauschige Name eines Strandes am Grunewaldsee) oder um den einstmals florierenden Raubdruckverkauf in Kreuzberger Lokalen.

Souverän wechselt der Erzähler zwischen den Zeiten, verflicht so die María-Romanze mit den Berliner Erlebnissen, fügt Gliesmarode-Reminiszenzen ein und gibt eine Menge ebenso kluger wie leichthändiger Reflexionen über Leben, Liebe und Tod hinzu. Aus Demütigungen, Unzulänglichkeiten, Verstörungen gilt es Literatur zu machen. Dies allerdings mit einer Aura der Souveränität, also mit Ironie und Humor. Sie verdanken sich weniger einer den Ereignissen selbst anhaftenden Komik als der Differenz zwischen dem fortgeschrittenen Bewusstsein des erzählenden Arrangeurs und der sympathischen Torenhaftigkeit von Treichels habituell jugendlichem Protagonisten. Und so verläuft am Ende auch das lang erhoffte Wiedersehen mit María so tragikomisch, wie man es von diesem Autor erwarten darf.

"Grunewaldsee" ist vielleicht der beste Roman, den Treichel seit "Der Verlorene" geschrieben hat. Nebenbei ist es auch ein Roman der Wende und des Abschieds vom Berlingefühl. Wie Herr Lehmann ist auch Paul nicht gerade begeistert über den Fall der Mauer. Für den gelernten Berliner war sie ein antiniedersächsischer Schutzwall. "Paul war immer auch ein wenig stolz gewesen, dass er so nah an der Mauer lebte. Am Drama. Am Riss. An der Bruchstelle. Dort, wo es gefährlich war." Die Joggingstrecke mit Blick über Spree und Treptow - statt brisanten Geschichtsgeländes plötzlich nur noch historisch uninteressantes Wohngebiet. Kaum erstaunlich, dass sich Rückkehrsehnsucht in Pauls Seele einschleicht. In Niedersachsen warten ein halbes Haus und eine Stelle als Referendar. Was für eine Versuchung! Am Ende steht Paul wieder am Grunewaldsee. Es riecht nach Frost, das Wasser ist tiefschwarz. Treichels Bücher wären tieftraurig, wenn sie nicht so heiter wären.

WOLFGANG SCHNEIDER.

Hans-Ulrich Treichel: "Grunewaldsee". Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 240 S., geb., 19,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.04.2010

Auslaufgebiet des Herzens
Hans-Ulrich Treichels West-Berlin-Roman „Grunewaldsee“
Freudig und auch ein wenig peinlich berührt, liest man sie immer wieder gern, die Geschichten aus dem alten West-Berlin, die allmählich ein Hauch von Veteranentreffen umweht, etwas von der brackigen Luft des Grunewaldsees, der zu Mauerzeiten eines jener innerstädtischen Auslaufgebiete war, die ein Wandern im „Umland“ auf kräftesparende Weise ersetzte. Besucher aus Westdeutschland schüttelten zwar regelmäßig den Kopf und spotteten über diese Schwundstufe des Naturerlebens. Der West-Berliner aber, allen voran jener, der zum Studium aus der Provinz zugezogen war, wusste es besser: Echte Natur gab es ohnehin nicht mehr, also konnte man gleich die praktische Miniaturausgabe nehmen.
Es war eine Welt im Kleinen, die alles zu bieten schien, was es auch anderswo gab, nur dass das Ganze durch die Mauer geadelt war. Ein „antikapitalistischer Schutzwall“ war sie auch für den Westen, vor allem für das studentische Biotop, wo man sich einreden konnte, am äußerst wilden Leben teilzuhaben, während man doch am Tropf der Bundesrepublik und der Eltern hing. Nie wieder wird die Revolution der Lebensverhältnisse so komfortabel zu haben sein. Das wissen alle, die damals dort gelebt haben. Auch wenn sie sich heute über ihre Verblendung wundern, werden die wenigsten gänzlich von Melancholieanflügen verschont sein.
Auch „Grunewaldsee“, der neue Roman von Hans-Ulrich Treichel, huldigt der Berlin-Melancholie. Allerdings geht der 1952 in Westfalen geborene Autor, der als Lyriker begann und Professor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig ist, so geschickt damit um, wie man es von ihm erwarten darf. Seit seiner 1998 erschienenen Erzählung „Der Verlorene“ gilt er als einer der wichtigen deutschen Gegenwartsschriftsteller, nicht zuletzt, weil er sein melancholisches Temperament durch wohltemperierten Humor zu zügeln versteht. Das West-Berlin der achtziger Jahre wirkt in Treichels Roman weder so kulturschickeriamäßig wie in Friedmar Apels „Nanettes Gedächtnis“ noch so lässig versumpft wie bei Sven Regener oder so anarchisch wie bei Ulrich Peltzer, sondern so mittelmäßig und provinziell wie der Rest der Republik. Das liegt nicht zuletzt an Paul, dem Helden, den Treichel als typischen Kleinbürger inszeniert, gar nicht lässig, überhaupt nicht cool, mit Ängsten, Scham- und Schuldgefühlen vollgepackt bis unter die Halskrause.
Dieser Paul ist ein liebenswert tumber Tor, zunächst Student der Geschichte, Sozialkunde und Hispanistik und schließlich Referendariatsanwärter, dem es ganz gelegen kommt, sich im Wartezustand heimisch einzurichten. Zu Zeiten der Lehrerschwemme konnte man damit Jahre überdauern. Mit Marcuse und Wilhelm Reich arbeitet er an der Befreiung seiner Triebe und bleibt doch ein Don Quichotte der Liebe, dem die Erregung stets zu Unzeiten kommt, zum Beispiel wenn er mit drei hübschen Kommilitoninnen nackt am Badestrand des Grunewaldsees liegt und träumend in den Schlaf sinkt. „Ist ja nicht so schlimm“, sagt die erste der Grazien. „Nur ein bisschen peinlich“, die zweite, bestätigt von der dritten, die auch noch ihren Kommentar dazu abgibt.
Souverän zwischen den Zeiten springend, entwirft Treichel eine Geometrie der Sehnsucht aus lauter Insel- und Wartezustands-Topoi. Er meint es gut mit seinem Helden und gönnt ihm eine Auszeit von der Berliner Tristesse mitsamt den Susannes und Birgits, die sich gänzlich verweigern oder nur zu einem Geschlechtsverkehr herablassen, gegen den auch die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“ nichts einzuwenden hätte. Erfüllt die Pfaueninsel und der Blick auf die jenseits der Zonengrenze gelegene Sacrower Heilandskirche die Funktion eines preußischen Arkadiens, darf Paul sogar leibhaftig ans Mittelmeer, ins andalusische Málaga, wo er als Sprachlehrer jobbt und eine temperamentvolle Spanierin kennenlernt, die nicht umsonst María heißt. Sie quartiert ihn bei ihrem Onkel ein, einst Polizist der Guardia Civil unter Franco, und schlüpft eines Morgens einfach zu ihm ins Bett. Weil er die Situation nicht ausnützt – im Vortäuschen fehlender Hintergedanken hat er es längst zur Meisterschaft gebracht –, gibt sie sich ihm bald freiwillig hin, so feurig, wie er es sich nur wünschen kann.
Doch nicht nur der Sex mit María hat es in sich, auch das feine Symbol-Gewebe, in das Treichel das Verhältnis einspinnt. María, wie Paul Mitte zwanzig, ist mit einem leitenden Beamten der Regionalregierung verheiratet. Zwar kriselt die Ehe, aber sie ist schwanger und hat beschlossen, bei ihrem Mann zu bleiben. Eigentlich müsste Paul klar sein, dass er für María nur ein exotischer Zeitvertreib sein kann, doch als sie ihm beim Abschied „Permanecemos juntos!“ zuruft, ist es endgültig um ihn geschehen. Er nimmt den schönen Schlachtruf wörtlich und fühlt sich für alle Zeit mit ihr verbunden. Er kann warten, das hat er gelernt. Die vielen Fotos, die seine Geliebte von sich und ihrer Tochter schickt, nähren die Illusion, irgendwann eine Familie zu sein.
So kommt Paul recht gut über die Runden. Was immer ihm geschieht, er kann sich damit trösten, dass er einmal ein Haus in Braunschweig-Gliesmarode erben wird – die Hälfte gehört ihm bereits seit dem Tod des Vaters –, und dass er eine spanische Geliebte sein eigen nennt, mit der er in absehbarer Zukunft vereint sein wird. Wenige Tage nach dem Mauerfall ruft sie bei ihm an, um ihren Besuch fürs Frühjahr anzukündigen. Mittlerweile Ärztin geworden, kommt sie zu einem Diabetologen-Kongress nach München. Sie wünscht sich, Paul möge ihr Deutschland, sprich: Bayern, zeigen. Auch wenn er ihr viel lieber das gerade im Verschwinden begriffene West-Berlin vorgeführt hätte, fiebert er der Begegnung im Hotel Vier Jahreszeiten entgegen. Dass die Sache nicht gut geht, ahnt man schon, und doch entlässt Treichel den Helden mit einer gewissen Heiterkeit aus seinem Roman.
Wie Hans-Ulrich Treichel das Familienthema, als Akzidenz der Handlung gut getarnt, in seinen Roman einschleust, ist ein Kabinettstück unauffälliger Motiv- und Symbolarbeit. „Grunewaldsee“ ist nicht nur ein Roman über West-Berlin, es ist auch der Roman einer symbolischen Vaterschaft. Paul nimmt an der Schwangerschaft Marías Anteil, als wäre er der leibliche Vater. Als deren Tochter zur Welt kommt, hat er sie innerlich längst adoptiert. Schließlich gehörte sie von Anfang an zum Körper der Geliebten.
Es sieht so aus, als habe sich Hans-Ulrich Treichel mit diesem Roman endgültig von der Familiengeschichte verabschiedet, die ihm seit „Der Verlorene“ anhaftet wie ein Etikett. Die Geschichte vom älteren Bruder, der den Eltern auf der Flucht aus den Ostgebieten verloren ging, war so eindrücklich, dass man sie trotz aller Verfremdung mit ihm identifizierte. Zwei seiner fünf Romane, „Menschenflug“ (2005) und „Anatolin“ (2008), erzählen Variationen dieser Geschichte. Sie sind auch ein Versuch, sich diese Identifikation vom Leib zu schreiben. Mit der imaginären Tochter seines Helden schiebt sich nun eine neue Figur in den Treichel-Kosmos, die das Bildnis des verlorenen Bruders vollständig verdeckt. MEIKE FESSMANN
HANS-ULRICH TREICHEL: Grunewaldsee. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 237 Seiten, 19,80 Euro.
Melancholisches Temperament
zügelt Treichel durch
wohltemperierten Humor
Das Buch ist auch ein Abschied
von den Familiengeschichten
der vorherigen Romane
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Christoph Schröder atmet auf: Obgleich nostalgisch, ist Hans-Ulrich Treichels Roman aus der Bonner Republik, spielend in Berlin, Kreuzberg, nicht von der Idyllenkrankheit befallen wie etwa die Eltern des Anti-Helden. Dieser, für Schröder eine klassische Treichel-Figur, gibt dem Text seinen strukturell chaotischen Flow. Ein nicht zuletzt vom Eros angetriebener Bewusstseinsstrom, eine "höchst amüsante Assoziationsverkettung", wie Schröder zufrieden feststellt. Die vom Autor laut Rezensent meisterhaft nachgezeichnete Enge und Beschränktheit der 80er wird also etwas aufgelockert. Dafür sorgt, meint Schröder, auch Treichels geschmeidige, "hüpfende" Diktion.

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