Sollten muslimische Lehrerinnen im Unterricht ein Kopftuch tragen dürfen? Ist es gerecht, wenn Frauen bei der Vergabe von Arbeitsplätzen bevorzugt werden? Sollten die Kinder der Amish von der Schulpflicht befreit sein?
Rechte von Minderheiten beschäftigen zunehmend die aktuelle Rechtsprechung und Politik. In der philosophischen Debatte sind sie nicht zuletzt deswegen so umstritten, weil sie dem Gleichheitsgedanken zu widersprechen scheinen. Es zeigt sich jedoch, dass die Anerkennung von Minderheitenrechten unter bestimmten Umständen moralisch gefordert ist.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Rechte von Minderheiten beschäftigen zunehmend die aktuelle Rechtsprechung und Politik. In der philosophischen Debatte sind sie nicht zuletzt deswegen so umstritten, weil sie dem Gleichheitsgedanken zu widersprechen scheinen. Es zeigt sich jedoch, dass die Anerkennung von Minderheitenrechten unter bestimmten Umständen moralisch gefordert ist.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.01.2004Ich und mein Kopftuch
Susanne Boshammer prüft die Rechte von Minderheiten
Antje Vollmer hat genug von dieser Debatte, denn für sie ist das „Kopftuch ein politisches Symbol der islamistischen Bewegung und ihrer gesellschaftlichen Ordnungsvorstellung, die die Frau dem Mann unterordnet. Diese politische Demonstration hat an unseren Schulen nichts zu suchen.” Fereshta Ludin ist da anderer Ansicht. Sie ist in Deutschland zur Symbolfigur für das Recht des Kopftuchtragens vor der Klasse geworden. Für die afghanische Muslimin ist das Kopftuch mit der Kultur verbunden, in der sie die Wurzeln ihrer Selbstverwirklichung findet. Für die eine ist das Kopftuch politisches Symbol, nicht nur für die Vizepräsidentin des deutschen Bundestags, sondern z.B. auch für Shirin Ebadi, die bei der Verleihung des Friedensnobelpreises ostentativ auf das Kopftuch verzichtete. Für andere, wie Fereshta Ludin, ist das Kopftuch ein kulturelles Symbol. Von der Definition dessen, was es sein soll, hängt die rechtliche und moralische Bewertung ab. Darum ist es von zentraler Bedeutung, wer die Definitionsmacht hat.
Susanne Boshammer geht in ihrem Buch von drei ganz unterschiedlichen, aber zugleich ähnlich gelagerten Fällen aus, die uns stets aufs Neue beschäftigen. Das ist zum einen der Fall von Frau Ludin, zum anderen die Frage, ob Frauen bei Bewerbungen bevorzugt werden dürfen und drittens, ob die Religionsgemeinschaft der Amish-People trotz der allgemeinen Schulpflicht ihre Kinder vom Schulbesuch fern halten dürfen, weil sie ansonsten nicht in der Lage seien, ihre religiösen Pflichten zu erfüllen.
Unfreiwillige Mitgliedschaft
Minderheitsgruppen fordern, rechtlich geschützt zu werden. Doch die genannten Gruppen haben alle einen völlig anderen Charakter. Der Minderheitenschutz wird im liberalen Rechtsstaat zum Problem, weil in ihm Individuen und nicht Gruppen rechtlich geschützt werden sind. Zur Wahrung der Individualrechte kann aber die jeweilige Gruppe schutzwürdig sein, sofern sie für die Selbstverwirklichung des Individuums von essentieller Bedeutung ist.
Aber welche Gruppen sollen geschützt werden? Nicht geschützt werden freiwillige Assoziationen, wie Vereine, in die Individuen jederzeit ein- oder austreten können, ohne an ihrer Identität Schaden zu nehmen. Anders ist es bei „natürlichen Gruppen”, wie Boshammer sie nennt, wenn man Frau, Türke, Moslem oder Farbiger ist. Hier handelt es sich um unfreiwillige „Mitgliedschaft” in einer Gruppe, in die man hineingeboren wird. Die Zugehörigkeit zu einer „natürlichen Gruppe” prägt die soziale Identität des Einzelnen. Die Gruppenrechtsforderungen beschränken sich auf solche konstitutiven Gemeinschaften, die als soziale Minderheiten marginalisiert und benachteiligt werden.
Es gibt nun unterschiedliche Begründungen der Gruppenrechte. Die eine Theorie ist die Kollektivsubjekt-, die andere die Kollektivgüter-Theorie. Nach ersterer verdienen die Gruppen um ihrer selbst willen Schutz, weil sie Träger und Bewahrer der Kollektividentität seien. Der zweiten Theorie zufolge müssten die Gruppen aufgrund ihrer essentiellen Bedeutung, die sie für ihre Mitglieder haben, geschützt werden. In unserem liberalen Rechtsstaat kann nur letztere Theorie zum Zuge kommen.
Das gute Leben
Nach dieser gründlichen Vorbereitung kommt Boshammer auf ihre Ausgangsfrage zurück: Sollen Individuen, die den genannten Gruppen angehören, ein Recht auf Freiheiten haben, auf die andere verzichten müssen? Soll Frau Ludin von der religiösen Neutralitätspflicht befreit werden? Soll eine Frau bei Bewerbungen Bevorzugungen genießen, die Männern versagt bleibt? Gilt für die Amish-People die allgemeine Schulpflicht nicht? Nach den Grundsätzen des liberalen Rechtsstaats verstieße eine solche Begünstigung gegen das Gleichheitsgebot. Was nun? Waren alle Vorüberlegungen umsonst? Nein, denn die egalitäre Ausrichtung des liberalen Rechtsstaats verbietet Diskriminierungen. Zudem haben alle ein Recht auf Verwirklichung eines guten Lebens. Ein gutes Leben ist das, was jeder Einzelne für ein solches hält. Das kann implizieren, dass man sich einer bestimmten Glaubensgemeinschaft zurechnet.
Ein factum brutum des liberalen Rechtsstaats bleibt allerdings bestehen: Durch den Interessen-Schutz von Individuen dürfen andere nicht geschädigt werden. Zum Beispiel werden die Schüler von Frau Ludin beeinträchtigt, weil sie ein Recht auf religiöse Neutralität ihrer Lehrer haben. Im konkreten Einzelfall bleibt uns weder die Güterabwägung noch die Anstrengung der Definition erspart, was denn nun das Kopftuch sei, kulturelles oder politisches Symbol. Auch Boshammer gibt uns als Ergebnis ihrer differenzierten Untersuchung keine eindeutige Antwort. Sie verweist auf die Bewertung des Einzelfalls. Aber gerade dafür bietet die Lektüre dieses Buches eine systematische Orientierung. Boshammer prüft scharfsinnig Argumente und Gegenargumente. Aufgrund ihres sorgfältigen Vorgehens, wird es uns nach der Lektüre leichter fallen, die Problemlösung anzugehen.
DETLEF HORSTER
SUSANNE BOSHAMMER: Gruppen, Rechte, Gerechtigkeit. Die moralische Begründung der Rechte von Minderheiten. De Gruyter Verlag, Berlin 2003. 248 Seiten, 49,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Susanne Boshammer prüft die Rechte von Minderheiten
Antje Vollmer hat genug von dieser Debatte, denn für sie ist das „Kopftuch ein politisches Symbol der islamistischen Bewegung und ihrer gesellschaftlichen Ordnungsvorstellung, die die Frau dem Mann unterordnet. Diese politische Demonstration hat an unseren Schulen nichts zu suchen.” Fereshta Ludin ist da anderer Ansicht. Sie ist in Deutschland zur Symbolfigur für das Recht des Kopftuchtragens vor der Klasse geworden. Für die afghanische Muslimin ist das Kopftuch mit der Kultur verbunden, in der sie die Wurzeln ihrer Selbstverwirklichung findet. Für die eine ist das Kopftuch politisches Symbol, nicht nur für die Vizepräsidentin des deutschen Bundestags, sondern z.B. auch für Shirin Ebadi, die bei der Verleihung des Friedensnobelpreises ostentativ auf das Kopftuch verzichtete. Für andere, wie Fereshta Ludin, ist das Kopftuch ein kulturelles Symbol. Von der Definition dessen, was es sein soll, hängt die rechtliche und moralische Bewertung ab. Darum ist es von zentraler Bedeutung, wer die Definitionsmacht hat.
Susanne Boshammer geht in ihrem Buch von drei ganz unterschiedlichen, aber zugleich ähnlich gelagerten Fällen aus, die uns stets aufs Neue beschäftigen. Das ist zum einen der Fall von Frau Ludin, zum anderen die Frage, ob Frauen bei Bewerbungen bevorzugt werden dürfen und drittens, ob die Religionsgemeinschaft der Amish-People trotz der allgemeinen Schulpflicht ihre Kinder vom Schulbesuch fern halten dürfen, weil sie ansonsten nicht in der Lage seien, ihre religiösen Pflichten zu erfüllen.
Unfreiwillige Mitgliedschaft
Minderheitsgruppen fordern, rechtlich geschützt zu werden. Doch die genannten Gruppen haben alle einen völlig anderen Charakter. Der Minderheitenschutz wird im liberalen Rechtsstaat zum Problem, weil in ihm Individuen und nicht Gruppen rechtlich geschützt werden sind. Zur Wahrung der Individualrechte kann aber die jeweilige Gruppe schutzwürdig sein, sofern sie für die Selbstverwirklichung des Individuums von essentieller Bedeutung ist.
Aber welche Gruppen sollen geschützt werden? Nicht geschützt werden freiwillige Assoziationen, wie Vereine, in die Individuen jederzeit ein- oder austreten können, ohne an ihrer Identität Schaden zu nehmen. Anders ist es bei „natürlichen Gruppen”, wie Boshammer sie nennt, wenn man Frau, Türke, Moslem oder Farbiger ist. Hier handelt es sich um unfreiwillige „Mitgliedschaft” in einer Gruppe, in die man hineingeboren wird. Die Zugehörigkeit zu einer „natürlichen Gruppe” prägt die soziale Identität des Einzelnen. Die Gruppenrechtsforderungen beschränken sich auf solche konstitutiven Gemeinschaften, die als soziale Minderheiten marginalisiert und benachteiligt werden.
Es gibt nun unterschiedliche Begründungen der Gruppenrechte. Die eine Theorie ist die Kollektivsubjekt-, die andere die Kollektivgüter-Theorie. Nach ersterer verdienen die Gruppen um ihrer selbst willen Schutz, weil sie Träger und Bewahrer der Kollektividentität seien. Der zweiten Theorie zufolge müssten die Gruppen aufgrund ihrer essentiellen Bedeutung, die sie für ihre Mitglieder haben, geschützt werden. In unserem liberalen Rechtsstaat kann nur letztere Theorie zum Zuge kommen.
Das gute Leben
Nach dieser gründlichen Vorbereitung kommt Boshammer auf ihre Ausgangsfrage zurück: Sollen Individuen, die den genannten Gruppen angehören, ein Recht auf Freiheiten haben, auf die andere verzichten müssen? Soll Frau Ludin von der religiösen Neutralitätspflicht befreit werden? Soll eine Frau bei Bewerbungen Bevorzugungen genießen, die Männern versagt bleibt? Gilt für die Amish-People die allgemeine Schulpflicht nicht? Nach den Grundsätzen des liberalen Rechtsstaats verstieße eine solche Begünstigung gegen das Gleichheitsgebot. Was nun? Waren alle Vorüberlegungen umsonst? Nein, denn die egalitäre Ausrichtung des liberalen Rechtsstaats verbietet Diskriminierungen. Zudem haben alle ein Recht auf Verwirklichung eines guten Lebens. Ein gutes Leben ist das, was jeder Einzelne für ein solches hält. Das kann implizieren, dass man sich einer bestimmten Glaubensgemeinschaft zurechnet.
Ein factum brutum des liberalen Rechtsstaats bleibt allerdings bestehen: Durch den Interessen-Schutz von Individuen dürfen andere nicht geschädigt werden. Zum Beispiel werden die Schüler von Frau Ludin beeinträchtigt, weil sie ein Recht auf religiöse Neutralität ihrer Lehrer haben. Im konkreten Einzelfall bleibt uns weder die Güterabwägung noch die Anstrengung der Definition erspart, was denn nun das Kopftuch sei, kulturelles oder politisches Symbol. Auch Boshammer gibt uns als Ergebnis ihrer differenzierten Untersuchung keine eindeutige Antwort. Sie verweist auf die Bewertung des Einzelfalls. Aber gerade dafür bietet die Lektüre dieses Buches eine systematische Orientierung. Boshammer prüft scharfsinnig Argumente und Gegenargumente. Aufgrund ihres sorgfältigen Vorgehens, wird es uns nach der Lektüre leichter fallen, die Problemlösung anzugehen.
DETLEF HORSTER
SUSANNE BOSHAMMER: Gruppen, Rechte, Gerechtigkeit. Die moralische Begründung der Rechte von Minderheiten. De Gruyter Verlag, Berlin 2003. 248 Seiten, 49,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Muss das Kopftuch als Symbol der kulturellen Identität eines Individuums besonders geschützt oder als politische Demonstration geächtet werden, fragt sich Detlef Horster in seiner Besprechung dieses "scharfsinnigen" Buchs, das die Rechte von Minderheiten untersucht. Die Autorin biete eine "systematische Orientierung" in dem moralisch-rechtlichen Dilemma, ob Individuen "ein Recht auf Freiheiten haben, auf die andere verzichten müssen", so der Rezensent. Sollte eine Frau bei Bewerbungen eine Bevorzugung genießen, die Männern versagt bleiben und sollte ein Angehöriger der Amish-Sekte von der allgemeinen Schulpflicht befreit werden, fragt Horster und stellt fest, dass auch Boshammer keine eindeutige Antwort gebe und am Ende auf die Bewertung des Einzelfalles verweise. Gerade dieses "sorgfältige Vorgehen" findet unser Rezensent lobenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Boshammer prüft scharfsinnig Argumente und Gegenargumente. Aufgrund ihres sorgfältigen Vorgehens, wird es uns nach der Lektüre leichter fallen, die Problemlösung anzugehen."
Süddeutsche Zeitung
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