Nach dem großen Erfolg von "Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge" legt Tilman Allert nun den Nachfolgeband "Gruß aus der Küche" vor: Luftige Feuilletons über Lipgloss, den Knieschlitz in der Jeans, dunkle Brillen und den Dutt beim Manne, über Bemerkungen wie "genau" oder "lecker", über den neuen Thermomix, die Tanzstunde, den Abschied vom Abschied oder jüdischen Humor - Tilman Allert gelingt es spielend und mit leichter Hand, aus den kleinen Dingen des Alltags deren gesellschaftliche Bedeutung prägnant zu destillieren. So muss Soziologie sein.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2017Ein Dutt setzt
langes Haar voraus
Tilman Allerts neue Studien von kleinen Dingen
Das Projekt des Frankfurter Soziologen Tilman Allert ist auch in seinem neuen Buch „Gruß aus der Küche“ vernünftigerweise nichts weniger als die Rettung seines Fachs, der Wissenschaft von der Gesellschaft, vom Zusammenleben der Menschen. Dieser Ehrgeiz ist auf dieser Seite des Atlantiks in den Sozialwissenschaften viel zu gering ausgeprägt. Zumal, wenn ein Forscher, so wie Allert, das Unmögliche nicht über den Höhenweg elaborierter Großtheorien schaffen möchte, sondern auf dem kleinen Dienstweg, im soziologischen Nachdenken über die Dinge des Alltags, über Blockschokolade, das Schminken, den Männer-Dutt, High Heels, Nerdbrillen, absichtlich kaputte Jeans, Tagestourismus oder die Küchenmaschine Thermo-Mix. Er wolle, so Allert einmal in einem Interview, die Soziologie unter die Leute bringen. Die Disziplin sei für die Wahrnehmung und Gestaltung unserer Ordnung schließlich von „unglaublicher Bedeutsamkeit“.
Anders als manch berühmte Vorgänger – Adorno in seinen „Minima Moralia“ oder Roland Barthes in seinen „Mythen des Alltags“ – hat sich Allert dabei die Bürde auferlegt, auf die kleinen Dinge nicht mit der großen alten Ideologiekritik-Keule einzuprügeln: „Die Soziologie der kleinen Dinge kommt ohne Häme aus.“ Barthes war darauf aus, an scheinbar vertrauten Orten, Prominenten und Dingen der populären Kultur – „Beefsteak und Pommes“, „Römer im Film“, Catchen, Schockphotos, Greta Garbo oder Striptease – Entfremdungen aller Art aufzuspüren und den Schein der Natürlichkeit zu entlarven, den so vieles vor sich herträgt, das ganz und gar nicht natürlich, sondern schlicht menschengemacht ist.
Allert wiederum teilt den Anti-Essenzialismus (sonst wäre er kein Soziologe, sondern ein schlechter Philosoph), betont aber angenehmerweise doch, statt des strengen Bewertens eine „geschulte Kunst des Beobachtens“ zu bevorzugen und sich lieber vom „Vergnügen an den kleinen Dingen“, der Freude am „Reichtum der Sozialität“ leiten zu lassen. Die Erkenntnisleistung der Soziologie erschöpfe sich schließlich traurigerweise nicht selten in der Einsicht, „dass das Kind schon in den Brunnen gefallen“ sei.
Nicht zuletzt aufgrund solcher Ausführen kann man den aus 39 vergleichsweise kurzen Kapiteln und einem Nachwort bestehenden „Gruß aus der Küche“ sehr gut erst mal von hinten lesen. Das letzte Kapitel, eine 2014 gehaltene Rede vor Studenten zum Abschluss des Studiums, ist eines der stärksten – und eine so kluge und leichtfüßige wie selbstironische Reflexion über die Tiefen und Untiefen der professionellen akademischen Gesellschaftsbeobachtung. Man sollte sie jedem Soziologie-Studenten an seinem ersten Uni-Tag in die Hand drücken. Mit erheblichen Schrulligkeitsrisiken sei die Disziplin belegt, schließlich ginge es ständig um die „Detrivialisierung“ und „Retrivialisierung“ von Gegenständen der allgemeinen Erfahrung. Gegen die „hemdsärmelige Plausibilität der Stammtischvernunft“ könnten die Soziologen deshalb nicht mehr als die „Erhöhung der Komplexität“ ins Feld führen. Und in Anlehnung an Max Webers Vortrag über „Politik als Beruf“ gibt er den Absolventen danach den schönen Hinweis, sie hätten sich als ausgebildete „Inkonsistenzmelder“ und „Paraphrasierungskünstler“ für „Sturheit als Beruf“ entschieden. Nicht weniger, aber eben – streng genommen – auch nicht mehr.
Immerhin, so Allert, dürften sie sich, so es ihnen gelänge, Sturheit als Beruf tatsächlich zu praktizieren, zu einer Avantgarde rechnen. Zu Leuten also, „die die drei großen Zeiterscheinungen der Moderne: Naturalismus, Machbarkeitssuggestion und Sorglosigkeitskultur eine professionalisierte Form von Zwischenfragen beigesellen“ könnten. Soziologie sei mithin eine „kluge Form der Narretei“ angesichts der immer populäreren Idee, dass das menschliche Vermögen grenzenlos sei. So schön liest man das selten.
Bliebe natürlich die Frage, wie der Meister die kluge Narretei nun selbst konkret betreibt? Auf jeden Fall akribisch und leidenschaftlich. Allerdings ist er leider nicht vor allen Marotten sicher, die ein langes Leben als Professor so mit sich bringt. Ein Leben, in dem man, vor die immer gleiche stupende Ahnungslosigkeit der Erstsemester gestellt, allzu leicht das Gefühl verliert für das, was sich für den Rest der Welt doch immer noch selbst versteht. Gepaart mit dem unausweichlichen Fachjargon liest sich dann manches aber unglücklicherweise wie seine eigene Parodie: „Der Dutt, das ist eine logische Implikation seines ästhetischen Formats, setzt langes Haar voraus. Wir haben es also mit einer Frisur zu tun, die lange Haare bündelt, domestiziert und in eine neue Gestalt transzendiert.“ Ja, mit kurzen Haaren gibt es keinen Dutt. Der ewige Kreislauf von Re- und Detrivialisierung kann eine fiese Falle sein, in der man die Feststellung der bloßen Existenz einer für alle Welt erkennbaren Sache schon für Erkenntnis hält. Das Kind ist dann noch nicht mal in den Brunnen gefallen, es ist einfach nur ein Kind.
In Kapiteln wie dem über die selbstkochende Küchenmaschine Thermomix ist man dann aber wieder rasch versöhnt. Allerts Methode des staunenden Umkreisens eines Gegenstands hat immer wieder eine ganz eigene Kraft: „Kaum mehr wird in diesem Land öffentlich Frauen eine andere biografische Option angesonnen als die, Beruf mit Haushalt und Familie, Leistungsträgerschaft mit Mutterschaft zu verbinden. Der Thermomix rundet die Suggestion der Vereinbarkeit ab.“ Die Mutter könne sich damit um die Küche kümmern und sei doch auch frei für Partnerschaft und Zuwendung. Sich im Angesicht des milieuübergreifenden Thermomix-Erfolgs intellektuell erhaben zurückzuziehen oder gar Entfremdung zu wittern, so Allert, wäre daher töricht und irreführend: „Nicht in der Infragestellung, sondern in der Bekräftigung der Normgeltung, das private Leben betreffend, liegt das Geheimnis des Thermomix.“
Auch die Skizze über den Modedesigner Karl Lagerfeld und dessen Leben, das sich an einem „radikalen Entwurf von Autonomie“ unter der Bedingung einer „Hochkultur des Demonstrativen“ versuche, ist ein gutes Beispiel für die informiert-kritische, aber nie selbstgerecht-kulturpessimistische Genauigkeit, mit der Allert soziale Phänomene vermessen kann. Bis hin zum Zitat der besten Lagerfeldismen: „Erzählt über mich, was ihr wollt, Hauptsache, es stimmt nicht.“ Die Lektüre des Bandes ist am Ende also tatsächlich das, was man eine kluge Narretei nennen kann, mal klug, mal Klügelei, aber doch oft genug ein so großer Spaß, dass man die Schrulligkeiten verzeiht.
JENS-CHRISTIAN RABE
Es geht um professionalisiertes
Zwischenfragen, um eine
„kluge Form der Narretei“
„Der Thermomix rundet
die Suggestion
der Vereinbarkeit ab.“
Tilman Allert: Gruß aus
der Küche – Soziologie der
kleinen Dinge. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2017. 285 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
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langes Haar voraus
Tilman Allerts neue Studien von kleinen Dingen
Das Projekt des Frankfurter Soziologen Tilman Allert ist auch in seinem neuen Buch „Gruß aus der Küche“ vernünftigerweise nichts weniger als die Rettung seines Fachs, der Wissenschaft von der Gesellschaft, vom Zusammenleben der Menschen. Dieser Ehrgeiz ist auf dieser Seite des Atlantiks in den Sozialwissenschaften viel zu gering ausgeprägt. Zumal, wenn ein Forscher, so wie Allert, das Unmögliche nicht über den Höhenweg elaborierter Großtheorien schaffen möchte, sondern auf dem kleinen Dienstweg, im soziologischen Nachdenken über die Dinge des Alltags, über Blockschokolade, das Schminken, den Männer-Dutt, High Heels, Nerdbrillen, absichtlich kaputte Jeans, Tagestourismus oder die Küchenmaschine Thermo-Mix. Er wolle, so Allert einmal in einem Interview, die Soziologie unter die Leute bringen. Die Disziplin sei für die Wahrnehmung und Gestaltung unserer Ordnung schließlich von „unglaublicher Bedeutsamkeit“.
Anders als manch berühmte Vorgänger – Adorno in seinen „Minima Moralia“ oder Roland Barthes in seinen „Mythen des Alltags“ – hat sich Allert dabei die Bürde auferlegt, auf die kleinen Dinge nicht mit der großen alten Ideologiekritik-Keule einzuprügeln: „Die Soziologie der kleinen Dinge kommt ohne Häme aus.“ Barthes war darauf aus, an scheinbar vertrauten Orten, Prominenten und Dingen der populären Kultur – „Beefsteak und Pommes“, „Römer im Film“, Catchen, Schockphotos, Greta Garbo oder Striptease – Entfremdungen aller Art aufzuspüren und den Schein der Natürlichkeit zu entlarven, den so vieles vor sich herträgt, das ganz und gar nicht natürlich, sondern schlicht menschengemacht ist.
Allert wiederum teilt den Anti-Essenzialismus (sonst wäre er kein Soziologe, sondern ein schlechter Philosoph), betont aber angenehmerweise doch, statt des strengen Bewertens eine „geschulte Kunst des Beobachtens“ zu bevorzugen und sich lieber vom „Vergnügen an den kleinen Dingen“, der Freude am „Reichtum der Sozialität“ leiten zu lassen. Die Erkenntnisleistung der Soziologie erschöpfe sich schließlich traurigerweise nicht selten in der Einsicht, „dass das Kind schon in den Brunnen gefallen“ sei.
Nicht zuletzt aufgrund solcher Ausführen kann man den aus 39 vergleichsweise kurzen Kapiteln und einem Nachwort bestehenden „Gruß aus der Küche“ sehr gut erst mal von hinten lesen. Das letzte Kapitel, eine 2014 gehaltene Rede vor Studenten zum Abschluss des Studiums, ist eines der stärksten – und eine so kluge und leichtfüßige wie selbstironische Reflexion über die Tiefen und Untiefen der professionellen akademischen Gesellschaftsbeobachtung. Man sollte sie jedem Soziologie-Studenten an seinem ersten Uni-Tag in die Hand drücken. Mit erheblichen Schrulligkeitsrisiken sei die Disziplin belegt, schließlich ginge es ständig um die „Detrivialisierung“ und „Retrivialisierung“ von Gegenständen der allgemeinen Erfahrung. Gegen die „hemdsärmelige Plausibilität der Stammtischvernunft“ könnten die Soziologen deshalb nicht mehr als die „Erhöhung der Komplexität“ ins Feld führen. Und in Anlehnung an Max Webers Vortrag über „Politik als Beruf“ gibt er den Absolventen danach den schönen Hinweis, sie hätten sich als ausgebildete „Inkonsistenzmelder“ und „Paraphrasierungskünstler“ für „Sturheit als Beruf“ entschieden. Nicht weniger, aber eben – streng genommen – auch nicht mehr.
Immerhin, so Allert, dürften sie sich, so es ihnen gelänge, Sturheit als Beruf tatsächlich zu praktizieren, zu einer Avantgarde rechnen. Zu Leuten also, „die die drei großen Zeiterscheinungen der Moderne: Naturalismus, Machbarkeitssuggestion und Sorglosigkeitskultur eine professionalisierte Form von Zwischenfragen beigesellen“ könnten. Soziologie sei mithin eine „kluge Form der Narretei“ angesichts der immer populäreren Idee, dass das menschliche Vermögen grenzenlos sei. So schön liest man das selten.
Bliebe natürlich die Frage, wie der Meister die kluge Narretei nun selbst konkret betreibt? Auf jeden Fall akribisch und leidenschaftlich. Allerdings ist er leider nicht vor allen Marotten sicher, die ein langes Leben als Professor so mit sich bringt. Ein Leben, in dem man, vor die immer gleiche stupende Ahnungslosigkeit der Erstsemester gestellt, allzu leicht das Gefühl verliert für das, was sich für den Rest der Welt doch immer noch selbst versteht. Gepaart mit dem unausweichlichen Fachjargon liest sich dann manches aber unglücklicherweise wie seine eigene Parodie: „Der Dutt, das ist eine logische Implikation seines ästhetischen Formats, setzt langes Haar voraus. Wir haben es also mit einer Frisur zu tun, die lange Haare bündelt, domestiziert und in eine neue Gestalt transzendiert.“ Ja, mit kurzen Haaren gibt es keinen Dutt. Der ewige Kreislauf von Re- und Detrivialisierung kann eine fiese Falle sein, in der man die Feststellung der bloßen Existenz einer für alle Welt erkennbaren Sache schon für Erkenntnis hält. Das Kind ist dann noch nicht mal in den Brunnen gefallen, es ist einfach nur ein Kind.
In Kapiteln wie dem über die selbstkochende Küchenmaschine Thermomix ist man dann aber wieder rasch versöhnt. Allerts Methode des staunenden Umkreisens eines Gegenstands hat immer wieder eine ganz eigene Kraft: „Kaum mehr wird in diesem Land öffentlich Frauen eine andere biografische Option angesonnen als die, Beruf mit Haushalt und Familie, Leistungsträgerschaft mit Mutterschaft zu verbinden. Der Thermomix rundet die Suggestion der Vereinbarkeit ab.“ Die Mutter könne sich damit um die Küche kümmern und sei doch auch frei für Partnerschaft und Zuwendung. Sich im Angesicht des milieuübergreifenden Thermomix-Erfolgs intellektuell erhaben zurückzuziehen oder gar Entfremdung zu wittern, so Allert, wäre daher töricht und irreführend: „Nicht in der Infragestellung, sondern in der Bekräftigung der Normgeltung, das private Leben betreffend, liegt das Geheimnis des Thermomix.“
Auch die Skizze über den Modedesigner Karl Lagerfeld und dessen Leben, das sich an einem „radikalen Entwurf von Autonomie“ unter der Bedingung einer „Hochkultur des Demonstrativen“ versuche, ist ein gutes Beispiel für die informiert-kritische, aber nie selbstgerecht-kulturpessimistische Genauigkeit, mit der Allert soziale Phänomene vermessen kann. Bis hin zum Zitat der besten Lagerfeldismen: „Erzählt über mich, was ihr wollt, Hauptsache, es stimmt nicht.“ Die Lektüre des Bandes ist am Ende also tatsächlich das, was man eine kluge Narretei nennen kann, mal klug, mal Klügelei, aber doch oft genug ein so großer Spaß, dass man die Schrulligkeiten verzeiht.
JENS-CHRISTIAN RABE
Es geht um professionalisiertes
Zwischenfragen, um eine
„kluge Form der Narretei“
„Der Thermomix rundet
die Suggestion
der Vereinbarkeit ab.“
Tilman Allert: Gruß aus
der Küche – Soziologie der
kleinen Dinge. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2017. 285 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
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Im Mikrokosmos dieser Vignetten spiegelt sich, überall, der politische und soziale Makrokosmos. Caroline Fetscher Der Tagesspiegel 20171128