Charakterkunde ist ein prominentes Thema der altchinesischen Literatur. Die Frage, wie man den Charakter seiner Mitmenschen ergründen kann und einzuschätzen hat, wird oft im Zusammenhang mit der Vergabe von Ämtern besprochen. Die Texte, die diese Thematik behandeln, spiegeln einen wichtigen Aspekt der Herausbildung eines bürokratischen Zentralstaates vor der Gründung des chinesischen Kaiserreiches im Jahre 221 v. Chr. wider: Die Ämtervergabe nach Kriterien der Familienzugehörigkeit wurde durch meritokratische Grundsätze der Beamtenrekrutierung ergänzt und teilweise abgelöst. Diese Arbeit untersucht die zwei umfangreichsten und systematischsten altchinesischen Texte zum Thema der Beamtenrekrutierung im Hinblick auf ihre Genese, ihr Verhältnis zueinander und zu den zahlreichen Parallelen in anderen Texten unterschiedlicher Provenienz. Aus literarischen und außerliterarischen Indizien werden Rückschlüsse gezogen auf das zugrundeliegende Textmaterial sowie auf die historischen Wurzeln der meritokratischen Traditionen.