Das Leben des Friedensnobelpreisträgers und charismatischsten Kanzlers der Weimarer Republik Der Amerikaner John P. Birkelund zeichnet ein umfassendes Bild des charismatischsten Politikers der Weimarer Zeit in seiner ganzen Widersprüchlichkeit nach, vom deutsch-nationalen Monarchisten zum Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei und Politiker des Ausgleichs, der Versöhnung und der europäischen Einigung. Als Gustav Stresemann - Kanzler und Außenminister der entscheidenden Jahre der Weimarer Republik - am 3. Oktober 1929 stirbt, steht er im Zenit seiner politischen Karriere. Kein Politiker war im westlichen Ausland so angesehen wie er; er war der erste deutsche Staatsmann, der den Friedensnobelpreis erhielt; und sein Begräbnis in Berlin geriet zu einem Staatsakt von wahrhaft europäischen Dimensionen. Albert Einstein ehrte den Verstorbenen mit den Worten: "Wir dürfen annehmen, daß er jetzt glücklich ist. Denn es war ihm vergönnt, erfolgreich im Dienste einer großen Sache zu wirken und zu leben und in ihrem Dienste zu sterben ... Er unterschied sich deutlich von anderen Politikern, so wie ein Genie sich von einem bloßen Fachmann unterscheidet. Daher rührte sein Charisma und seine Stärke."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2004Ausnahmeerscheinung in der Wilhelmstraße
Ein amerikanischer Offizier hat eine gut lesbare Biographie über Gustav Stresemann verfaßt
John P. Birkelund: Gustav Stresemann. Patriot und Staatsmann. Eine Biographie. Aus dem Amerikanischen von Martin Ruf. Europa Verlag, Hamburg 2003. 528 Seiten, 29,90 [Euro].
Gustav Stresemann, Reichskanzler im Krisenjahr 1923 und deutscher Außenminister von 1923 bis zu seinem Tod am 3. Oktober 1929, übt eine ungebrochene Faszination auf die Biographen aus. Allein in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten sind mehrere Stresemann-Biographien erschienen. Einige stammen aus der Feder deutscher Historiker (Kurt Koszyk 1989, Manfred Berg 1992 und zuletzt der Rezensent 2003), aber auch der Franzose Christian Baechler (1996) und der Engländer Jonathan Wright (2002) haben unlängst umfängliche und bedeutende Stresemann-Biographien vorgelegt. Zu ihnen gesellt sich nun ein amerikanischer Autor. John P. Birkelund ist kein Fachhistoriker. Nach etlichen Semestern Geschichtsstudium an der Princeton University war er von 1953 bis 1956 als amerikanischer Marineoffizier in Berlin stationiert und danach beruflich als Geschäftsführer verschiedener Investmentgesellschaften tätig. Doch daneben beschäftigte er sich - ermutigt durch akademische Mentoren - intensiv mit dem Außenminister der Weimarer Republik. Als Ertrag seiner langjährigen Studien präsentiert er ein pointiertes Lebensbild Gustav Stresemanns. Zwar finden sich hin und wieder fehlerhafte Angaben, aber insgesamt handelt es sich um eine gut lesbare Darstellung.
Wie andere vor ihm steht Birkelund im Bann einer ungewöhnlichen Lebensgeschichte, die sich als eindringlicher Entwicklungsroman erzählen läßt: Der Kleinbürgersohn aus dem Berliner Südosten, der zum international angesehensten deutschen Staatsmann der Zwischenkriegszeit aufstieg, der geläuterte Nationalist, der sich vom Verfechter annexionistischer Kriegsziele und des unbeschränkten U-Boot-Kriegs während des Weltkriegs in den zwanziger Jahren - nicht aus Opportunismus, sondern aus Einsicht - zum Verständigungspolitiker wandelte, der erfolgreich den Ausgleich mit den früheren Feindmächten suchte und als erster Deutscher mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Es ist diese Entwicklung, die Birkelund auf solider Materialgrundlage (auch der Stresemann-Nachlaß ist gründlich ausgewertet) nachzeichnet, anschaulich und mit viel Empathie, aber doch keineswegs unkritisch, denn auch Schwächen und Widersprüche im Leben des Helden kommen zur Sprache.
Einige Facetten aus dem von Birkelund gezeichneten Lebensbild seien hervorgehoben. Er sieht Stresemann darin als Ausnahmeerscheinung, daß dieser schon frühzeitig die Bedeutung der Wirtschaft als Schlüsselfaktor in den internationalen Beziehungen erkannte und seine frühe Einsicht, Politik sei in erster Linie Weltwirtschaft, später konsequent seinem politischen Agieren zugrunde legte. Was Stresemanns umstrittene Rolle beim Scheitern eines Zusammenschlusses der beiden liberalen Parteien in den Wochen nach der Novemberrevolution angeht, bezieht Birkelund eindeutig Stellung. Er meint, es gäbe allen Grund zu der Annahme, daß Stresemann "im November tatsächlich bereit war, gegebenenfalls seine politischen Ambitionen zu opfern, wenn dies den Zusammenschluß (der Nationalliberalen Partei) mit der Fortschrittspartei erleichtert hätte, und den völligen Ausschluß von allen Gremien der Deutschen Demokratischen Partei zu akzeptieren, wenn dadurch eine faire und tragfähige Lösung ermöglicht worden wäre" - doch weil eine solche Lösung nicht zustande kam, gründete Stresemann die Deutsche Volkspartei. Birkelund befindet sich mit dieser Feststellung ebenso auf der Höhe der Forschung wie bei der Bewertung von Stresemanns Wandlung vom Monarchisten zum Vernunftrepublikaner: Diese Haltung habe sich "langsam und schrittweise" entwickelt.
Eindringlich porträtiert Birkelund Stresemann als einen unbeugsamen Politiker der Mitte, der seine Partei - gegen erhebliche innerparteiliche Widerstände - von der rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei abgrenzte, damit sie koalitionsfähig nicht nur nach rechts, sondern auch nach links sein konnte. Die "Große Koalition" von der DVP bis zur SPD war das Regierungsbündnis, das nach seiner Auffassung am ehesten den Erfordernissen der Lage Deutschlands entsprach und das in den Wochen seiner Kanzlerschaft erstmals auf Reichsebene realisiert wurde. Ausführlich geht Birkelund auf die heftigen Auseinandersetzungen ein, die Stresemann mit dem rechten Flügel seiner Partei, insbesondere in der Reichstagsfraktion, zu führen hatte - Auseinandersetzungen, in denen er sich zwar meist durchsetzen konnte, die ihn aber viel Kraft kosteten, ihn zermürbten und gesundheitlich schädigten.
Zustimmend zitiert Birkelund das Urteil des sozialdemokratischen Rechtsphilosophen und zweimaligen Reichsjustizministers Gustav Radbruch über Stresemann, Formulierungen, die ins Schwarze treffen: "Es war seine große politische Kunst, das Rechte immer auch zur rechten Zeit zu tun, sich unbekümmert um seine frühere Haltung durch die Situation immer neu belehren zu lassen und, je mehr er mit seinen Zwecken wuchs, um so unbekümmerter um Widerstände auch in der eigenen Partei durchzusetzen, was er als recht erkannt hatte . . . Dabei war seiner taktischen Geschicklichkeit so viel menschliche Wärme beigemischt, daß er auch persönlich für sich gewann."
EBERHARD KOLB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein amerikanischer Offizier hat eine gut lesbare Biographie über Gustav Stresemann verfaßt
John P. Birkelund: Gustav Stresemann. Patriot und Staatsmann. Eine Biographie. Aus dem Amerikanischen von Martin Ruf. Europa Verlag, Hamburg 2003. 528 Seiten, 29,90 [Euro].
Gustav Stresemann, Reichskanzler im Krisenjahr 1923 und deutscher Außenminister von 1923 bis zu seinem Tod am 3. Oktober 1929, übt eine ungebrochene Faszination auf die Biographen aus. Allein in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten sind mehrere Stresemann-Biographien erschienen. Einige stammen aus der Feder deutscher Historiker (Kurt Koszyk 1989, Manfred Berg 1992 und zuletzt der Rezensent 2003), aber auch der Franzose Christian Baechler (1996) und der Engländer Jonathan Wright (2002) haben unlängst umfängliche und bedeutende Stresemann-Biographien vorgelegt. Zu ihnen gesellt sich nun ein amerikanischer Autor. John P. Birkelund ist kein Fachhistoriker. Nach etlichen Semestern Geschichtsstudium an der Princeton University war er von 1953 bis 1956 als amerikanischer Marineoffizier in Berlin stationiert und danach beruflich als Geschäftsführer verschiedener Investmentgesellschaften tätig. Doch daneben beschäftigte er sich - ermutigt durch akademische Mentoren - intensiv mit dem Außenminister der Weimarer Republik. Als Ertrag seiner langjährigen Studien präsentiert er ein pointiertes Lebensbild Gustav Stresemanns. Zwar finden sich hin und wieder fehlerhafte Angaben, aber insgesamt handelt es sich um eine gut lesbare Darstellung.
Wie andere vor ihm steht Birkelund im Bann einer ungewöhnlichen Lebensgeschichte, die sich als eindringlicher Entwicklungsroman erzählen läßt: Der Kleinbürgersohn aus dem Berliner Südosten, der zum international angesehensten deutschen Staatsmann der Zwischenkriegszeit aufstieg, der geläuterte Nationalist, der sich vom Verfechter annexionistischer Kriegsziele und des unbeschränkten U-Boot-Kriegs während des Weltkriegs in den zwanziger Jahren - nicht aus Opportunismus, sondern aus Einsicht - zum Verständigungspolitiker wandelte, der erfolgreich den Ausgleich mit den früheren Feindmächten suchte und als erster Deutscher mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Es ist diese Entwicklung, die Birkelund auf solider Materialgrundlage (auch der Stresemann-Nachlaß ist gründlich ausgewertet) nachzeichnet, anschaulich und mit viel Empathie, aber doch keineswegs unkritisch, denn auch Schwächen und Widersprüche im Leben des Helden kommen zur Sprache.
Einige Facetten aus dem von Birkelund gezeichneten Lebensbild seien hervorgehoben. Er sieht Stresemann darin als Ausnahmeerscheinung, daß dieser schon frühzeitig die Bedeutung der Wirtschaft als Schlüsselfaktor in den internationalen Beziehungen erkannte und seine frühe Einsicht, Politik sei in erster Linie Weltwirtschaft, später konsequent seinem politischen Agieren zugrunde legte. Was Stresemanns umstrittene Rolle beim Scheitern eines Zusammenschlusses der beiden liberalen Parteien in den Wochen nach der Novemberrevolution angeht, bezieht Birkelund eindeutig Stellung. Er meint, es gäbe allen Grund zu der Annahme, daß Stresemann "im November tatsächlich bereit war, gegebenenfalls seine politischen Ambitionen zu opfern, wenn dies den Zusammenschluß (der Nationalliberalen Partei) mit der Fortschrittspartei erleichtert hätte, und den völligen Ausschluß von allen Gremien der Deutschen Demokratischen Partei zu akzeptieren, wenn dadurch eine faire und tragfähige Lösung ermöglicht worden wäre" - doch weil eine solche Lösung nicht zustande kam, gründete Stresemann die Deutsche Volkspartei. Birkelund befindet sich mit dieser Feststellung ebenso auf der Höhe der Forschung wie bei der Bewertung von Stresemanns Wandlung vom Monarchisten zum Vernunftrepublikaner: Diese Haltung habe sich "langsam und schrittweise" entwickelt.
Eindringlich porträtiert Birkelund Stresemann als einen unbeugsamen Politiker der Mitte, der seine Partei - gegen erhebliche innerparteiliche Widerstände - von der rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei abgrenzte, damit sie koalitionsfähig nicht nur nach rechts, sondern auch nach links sein konnte. Die "Große Koalition" von der DVP bis zur SPD war das Regierungsbündnis, das nach seiner Auffassung am ehesten den Erfordernissen der Lage Deutschlands entsprach und das in den Wochen seiner Kanzlerschaft erstmals auf Reichsebene realisiert wurde. Ausführlich geht Birkelund auf die heftigen Auseinandersetzungen ein, die Stresemann mit dem rechten Flügel seiner Partei, insbesondere in der Reichstagsfraktion, zu führen hatte - Auseinandersetzungen, in denen er sich zwar meist durchsetzen konnte, die ihn aber viel Kraft kosteten, ihn zermürbten und gesundheitlich schädigten.
Zustimmend zitiert Birkelund das Urteil des sozialdemokratischen Rechtsphilosophen und zweimaligen Reichsjustizministers Gustav Radbruch über Stresemann, Formulierungen, die ins Schwarze treffen: "Es war seine große politische Kunst, das Rechte immer auch zur rechten Zeit zu tun, sich unbekümmert um seine frühere Haltung durch die Situation immer neu belehren zu lassen und, je mehr er mit seinen Zwecken wuchs, um so unbekümmerter um Widerstände auch in der eigenen Partei durchzusetzen, was er als recht erkannt hatte . . . Dabei war seiner taktischen Geschicklichkeit so viel menschliche Wärme beigemischt, daß er auch persönlich für sich gewann."
EBERHARD KOLB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Erinnerung an Gustav Stresemann hat auch über das Jubiläum zum 125 Geburtstag des Vernunftrepublikaners hinaus "wieder Konjunktur", schreibt Anselm Doering-Manteuffel in seiner Besprechung. Ein Umstand, den der aus der amerikanischen Wirtschaft kommende, langjährige Stresemann-Forscher John P. Birkelund durch ein seit der Wiedervereinigung aus dem Gleichgewicht gebrachtes "Europaengagement" und einen unsicheren "Nationalismus" der Deutschen wie Europäer erklären möchte. Die Publikation Birkelunds zeige aber anhand einer "sachlichen, abgewogenen Darstellung", dass Stresemann nicht wirklich als Orientierungsperson für die Probleme unserer Zeit dienen könne, da er in ein "vergangenes Zeitalter der autonomen Nationalstaaten ohne integrative Strukturen" gehöre, so der Rezensent. Eine lohnende Lektüre also, bekräftigt Doering-Manteuffel.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH