Gustav Stresemann was the exceptional political figure of his time. His early death in 1929 has long been viewed as the beginning of the end for the Weimar Republic and the opening through which Hitler was able to come to power. His career was marked by many contradictions but also a pervading loyalty to the values of liberalism and nationalism. This enabled him in time both to adjust to defeat and revolution and to recognize in the Republic the only basis on which Germans could
unite, and in European cooperation the only way to avoid a new war. His attempt to build a stable Germany as an equal power in a stable Europe throws an important light on German history in a critical time. Hitler was the beneficiary of his failure but, so long as he was alive, Stresemann offered
Germans a clear alternative to the Nazis. Jonathan Wright's fascinating new study is the first modern biography of Stresemann to appear in English or German.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2002Großer Deutscher und Weimars größter Staatsmann
Hätte der früh verstorbene Außenminister Gustav Stresemann den Aufstieg des Nationalsozialismus verhindern können? / Von Eberhard Kolb
Zählt Gustav Stresemann zu den "großen Deutschen"? Diese Frage beschäftigte Anfang der fünfziger Jahre Bundespräsident Theodor Heuss, den angesehenen Historiker Hermann Heimpel und den Publizisten Benno Reifenberg, als sie gemeinsam festlegten, welche Persönlichkeiten in das von ihnen herausgegebene Sammelwerk "Die großen Deutschen" aufgenommen werden sollten. Heuss sprach sich vehement dagegen aus, Stresemann durch einen biographischen Essay unter die großen Deutschen einzureihen, und setzte seine Meinung durch. In seinen "Erinnerungen" hat er seine Abneigung gegen Stresemann auch öffentlich gemacht; von "menschlichen Vorbehalten" ist die Rede, von "innerer Fremdheit" und: "Ganz primitiv: Ich habe ihn menschlich nicht leiden können."
Die Zeit der durch persönliches Ressentiment getrübten Urteile über Stresemann ist vorbei. Heute wird kaum jemand bezweifeln, daß Stresemann ein Platz in der Reihe der "großen Deutschen" zusteht. Der Reichskanzler des Katastrophenjahres 1923 und Außenminister der Jahre 1923 bis 1929 hat das besiegte Deutschland aus der internationalen Isolierung heraus- und in den Kreis der großen europäischen Mächte zurückgeführt. Wie kein zweiter prägte er die Mittelperiode der Weimarer Republik, so daß mit Recht von einer "Ära Stresemann" gesprochen wird.
Wenn Stresemann fraglos ein bedeutender historischer Rang zukommt, dann gilt für ihn doch auch, was das Schicksal wohl aller herausragenden Staatsmänner ist, die unter schwierigen Zeitumständen zu agieren haben: Leben und Leistung sind umstritten. In der Deutung von Persönlichkeit und Politik Stresemanns begegnen sehr unterschiedliche, teilweise konträre Urteile. Blieb er ein unbeirrbarer Nationalist, oder wurde er zum "guten Europäer"? War er Realist oder Opportunist? Gab es bei ihm Entwicklung und Wandel der Persönlichkeit, oder paßte er sich lediglich den sich verändernden äußeren Bedingungen an? Und was waren seine "letzten" Ziele: eine notfalls militärisch zu erringende deutsche Vormachtstellung in Europa oder ein Deutsches Reich, das - befreit von den Lasten des verlorenen Krieges - seine Großmachtstellung zurückgewinnen sollte, aber sich in die Staatengemeinschaft einfügen würde? Schon die Artikulierung dieser Fragen macht deutlich, welch faszinierende Aufgabe es sein kann, sich Stresemann biographisch zu nähern.
Hinzu kommt ein Weiteres. Einem Stresemann-Biographen steht eine solche Fülle erstrangiger Quellen zur Verfügung, wie das bei kaum einem anderen Politiker des zwanzigsten Jahrhunderts der Fall ist. Seit seiner Studentenzeit hat Stresemann alle seine schriftlichen Unterlagen sorgfältig aufbewahrt, so daß sein vollständig erhaltener Nachlaß ein gigantisches Personenarchiv darstellt. Im Parlament und in Versammlungen hat er, der sich schon in jungen Jahren als mitreißender Redner profilierte, unzählige Male gesprochen, und ein großer Teil dieser Reden liegt gedruckt vor, auch seine publizistischen Arbeiten sind Legion. Journalist zu werden war ja sein ursprünglicher Berufswunsch, und wenn daraus schließlich nichts wurde, so hat er doch als Industriesyndikus und Politiker kontinuierlich Artikel zu den unterschiedlichsten Themen veröffentlicht. Kurzum: Wer sich mit Stresemann beschäftigt, sieht sich einem fast unerschöpflichen Reichtum an Quellen gegenüber.
Trotz so ungewöhnlich günstiger Voraussetzungen blieb eine umfassende wissenschaftliche Stresemann-Biographie erstaunlicherweise ein häufig beklagtes Desiderat. Zwar mangelt es nicht an diversen "Lebensbildern" sowie an gelehrten Studien, die sich mit einzelnen Aspekten von Stresemanns Wirken als Verbandsfunktionär, Parteiführer und Außenminister befassen, aber eine moderne wissenschaftliche Biographie ließ auf sich warten. Ein hohen Ansprüchen genügendes Werk legt jetzt der englische Historiker Jonathan Wright vor. Sein Buch ist das Ergebnis langjähriger Forschung; alle verfügbaren Quellen sind ebenso umsichtig ausgewertet wie die Forschungsliteratur.
In seiner Schilderung von Stresemanns Weg aus dem Kleinbürgerhaus im Berliner Südosten über Realgymnasium und Universität zum Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller und zum vielversprechenden Nachwuchspolitiker der Nationalliberalen Partei (1907 jüngster Reichstagsabgeordneter) akzentuiert Wright, wie sich bereits in den Anfängen der Karriere jenes politische Fundament formte, das dann Stresemanns weiteres politisches Wirken trug: Nationalismus und Liberalismus - aber eben immer beides zusammen. Dies gilt auch für die Kriegsjahre. Schon bald an die Spitze der nationalliberalen Reichstagsfraktion gelangt, trat Stresemann als wortmächtiger Anwalt eines "größeren Deutschland", nämlich als Befürworter weitreichender Annexionen, hervor, forderte aber gleichzeitig innere Reformen: eine moderate Parlamentarisierung der Reichsregierung und die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts. Die in der Literatur besonders umstrittene Haltung Stresemanns während der Kriegsjahre findet bei Wright eine stimmige Deutung: Diese Haltung erwuchs aus der Fortentwicklung von Vorstellungen, die schon in den Vorkriegsjahren zu den Koordinaten seines politischen Weltbildes geworden waren - Kontinuität also, nicht Bruch oder zeitweilige Verirrung.
Doch nach der Niederlage und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs war Stresemanns Führungsrolle im deutschen Liberalismus wegen seines Eintretens für Annexionen akut gefährdet. Die Auseinandersetzungen im liberalen Lager während der November- und Dezemberwochen 1918 endeten damit, daß der deutsche Liberalismus in zwei Parteien gespalten blieb, die linksliberale Deutsche Demokratische Partei und die von Stresemann geführte Deutsche Volkspartei, die zunächst die weitaus schwächere, seit 1920 aber die deutlich stärkere der beiden liberalen Parteien war, der eine Schlüsselstellung im parlamentarischen System der Republik zufiel.
Wright berichtet zuverlässig über diese Vorgänge und widmet dann der von Stresemann in den folgenden Jahren betriebenen Politik eine breite Darstellung. Fast die Hälfte seines Textes gilt den sechs Jahren der Außenministertätigkeit. Diese Ausführlichkeit ist der Tatsache geschuldet, daß Stresemann auf dem Feld der Außenpolitik Epoche gemacht hat und diese sechs Jahre daher im Zentrum einer Stresemann-Biographie stehen müssen - wiewohl für den Biographen mindestens ebenso interessant die früheren Phasen von Stresemanns Leben sind, der rasante soziale und politische Aufstieg des Kleinbürgersohns im wilhelminischen Deutschland. Wrights Darlegungen über Zielvorstellungen, Erfolge und Rückschläge der Stresemannschen Außenpolitik sind präzis und sachkundig, seine Urteile abgewogen und gut abgesichert, aber die breitangelegte Darstellung verliert sich gelegentlich doch allzusehr in Details, so daß der Leser Mühe hat, die große Linie im Auge zu behalten.
Die Detailüberfrachtung wird indessen aufgewogen durch eine glänzende, dreißig Seiten umfassende "Conclusion", in der alle wesentlichen Gesichtspunkte zusammengeführt und die Facetten des Stresemannschen Wirkens eindringlich beleuchtet werden. Er war ein Mann der politischen Mitte, darin blieb er sich von seinen Anfängen an treu. Und er bejahte die parlamentarische Regierungsweise, zunächst in der konstitutionellen Monarchie, dann in der Republik. Wenn es dem Monarchisten auch nicht leichtfiel, sich mit der republikanischen Staatsform abzufinden und zu befreunden, so hat er sich seit 1919/20 doch Schritt für Schritt zum Verteidiger der Weimarer Verfassung entwickelt, so daß er in seinen letzten Lebensjahren in Deutschland und im Ausland als der führende Repräsentant der Weimarer Demokratie galt.
Wright macht kluge Bemerkungen über den Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik bei Stresemann: Die Außenpolitik war für ihn nicht nur Instrument zur Wiederherstellung einer deutschen Machtstellung, sondern sie bezweckt auch die innere Konsolidierung der Republik. Weil er einen nationalen Konsens für seine Politik zu erreichen versuchte, um sie gegenüber dem Ausland effektiver vertreten zu können und nach innen die Republik zu stabilisieren, mußte er mit einer gewissen Flexibilität operieren, um sich die Unterstützung so unterschiedlicher Koalitionspartner wie der SPD und der Deutschnationalen zu sichern. Diese Flexibilität erregte manchen Argwohn und weckte Zweifel an seiner Aufrichtigkeit, die Wright für unberechtigt hält. Trotz aller Schwierigkeiten und Konzessionen gelang es ihm, einen konsistenten Kurs zu verfolgen, den er mit um so größerer Überzeugung steuerte, je deutlicher sich Ergebnisse einstellten.
Schließlich wendet sich Wright noch der "natürlichen, aber ahistorischen" Frage zu, was Stresemann wohl getan hätte, wenn ihm ein längeres Leben beschieden gewesen wäre (er starb mit einundfünfzig Jahren am 3. Oktober 1929). Antworten können nur spekulativ sein, aber das Gedankenexperiment, das Wright anstellt, ist reizvoll: Den Austritt seiner Partei aus der großen Koalition hätte er schwerlich verhindern können, aber als Außenminister in einem Kabinett Brüning hätte er in den deutsch-französischen Beziehungen sicherlich nicht einen Konfrontationskurs eingeschlagen.
Ob Stresemann in seiner Partei genügend Rückhalt besessen hätte oder ob es zur Parteispaltung und zu einer Neuformierung der politischen Mitte gekommen wäre, muß offenbleiben. Aber trotz der wohl unvermeidlichen Wahlniederlagen der liberalen Parteien - sicher ist, daß Stresemann Hitler und seiner Bewegung mit äußerstem Krafteinsatz entgegengetreten wäre, wie er das bereits in seinen letzten Lebenstagen bei der vehementen Bekämpfung der von der politischen Rechten in Gang gesetzten Anti-Young-Plan-Kampagne demonstriert hatte. Mit einem lebenden Stresemann hätte es Hitler erheblich schwerer gehabt, an die Schalthebel der Macht zu gelangen.
Schon diese Überlegung macht deutlich, wieviel die Republik durch den frühen Tod Stresemanns verloren hat. Wright nennt ihn "Weimars größten Staatsmann". Ihm setzt er, fair im Urteil, einfühlsam in der Interpretation, mit seiner Biographie ein beeindruckendes Denkmal.
Jonathan Wright: Gustav Stresemann. Weimar's Greatest Statesman. Oxford University Press, Oxford 2002. 569 Seiten, 25,- £.
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Hätte der früh verstorbene Außenminister Gustav Stresemann den Aufstieg des Nationalsozialismus verhindern können? / Von Eberhard Kolb
Zählt Gustav Stresemann zu den "großen Deutschen"? Diese Frage beschäftigte Anfang der fünfziger Jahre Bundespräsident Theodor Heuss, den angesehenen Historiker Hermann Heimpel und den Publizisten Benno Reifenberg, als sie gemeinsam festlegten, welche Persönlichkeiten in das von ihnen herausgegebene Sammelwerk "Die großen Deutschen" aufgenommen werden sollten. Heuss sprach sich vehement dagegen aus, Stresemann durch einen biographischen Essay unter die großen Deutschen einzureihen, und setzte seine Meinung durch. In seinen "Erinnerungen" hat er seine Abneigung gegen Stresemann auch öffentlich gemacht; von "menschlichen Vorbehalten" ist die Rede, von "innerer Fremdheit" und: "Ganz primitiv: Ich habe ihn menschlich nicht leiden können."
Die Zeit der durch persönliches Ressentiment getrübten Urteile über Stresemann ist vorbei. Heute wird kaum jemand bezweifeln, daß Stresemann ein Platz in der Reihe der "großen Deutschen" zusteht. Der Reichskanzler des Katastrophenjahres 1923 und Außenminister der Jahre 1923 bis 1929 hat das besiegte Deutschland aus der internationalen Isolierung heraus- und in den Kreis der großen europäischen Mächte zurückgeführt. Wie kein zweiter prägte er die Mittelperiode der Weimarer Republik, so daß mit Recht von einer "Ära Stresemann" gesprochen wird.
Wenn Stresemann fraglos ein bedeutender historischer Rang zukommt, dann gilt für ihn doch auch, was das Schicksal wohl aller herausragenden Staatsmänner ist, die unter schwierigen Zeitumständen zu agieren haben: Leben und Leistung sind umstritten. In der Deutung von Persönlichkeit und Politik Stresemanns begegnen sehr unterschiedliche, teilweise konträre Urteile. Blieb er ein unbeirrbarer Nationalist, oder wurde er zum "guten Europäer"? War er Realist oder Opportunist? Gab es bei ihm Entwicklung und Wandel der Persönlichkeit, oder paßte er sich lediglich den sich verändernden äußeren Bedingungen an? Und was waren seine "letzten" Ziele: eine notfalls militärisch zu erringende deutsche Vormachtstellung in Europa oder ein Deutsches Reich, das - befreit von den Lasten des verlorenen Krieges - seine Großmachtstellung zurückgewinnen sollte, aber sich in die Staatengemeinschaft einfügen würde? Schon die Artikulierung dieser Fragen macht deutlich, welch faszinierende Aufgabe es sein kann, sich Stresemann biographisch zu nähern.
Hinzu kommt ein Weiteres. Einem Stresemann-Biographen steht eine solche Fülle erstrangiger Quellen zur Verfügung, wie das bei kaum einem anderen Politiker des zwanzigsten Jahrhunderts der Fall ist. Seit seiner Studentenzeit hat Stresemann alle seine schriftlichen Unterlagen sorgfältig aufbewahrt, so daß sein vollständig erhaltener Nachlaß ein gigantisches Personenarchiv darstellt. Im Parlament und in Versammlungen hat er, der sich schon in jungen Jahren als mitreißender Redner profilierte, unzählige Male gesprochen, und ein großer Teil dieser Reden liegt gedruckt vor, auch seine publizistischen Arbeiten sind Legion. Journalist zu werden war ja sein ursprünglicher Berufswunsch, und wenn daraus schließlich nichts wurde, so hat er doch als Industriesyndikus und Politiker kontinuierlich Artikel zu den unterschiedlichsten Themen veröffentlicht. Kurzum: Wer sich mit Stresemann beschäftigt, sieht sich einem fast unerschöpflichen Reichtum an Quellen gegenüber.
Trotz so ungewöhnlich günstiger Voraussetzungen blieb eine umfassende wissenschaftliche Stresemann-Biographie erstaunlicherweise ein häufig beklagtes Desiderat. Zwar mangelt es nicht an diversen "Lebensbildern" sowie an gelehrten Studien, die sich mit einzelnen Aspekten von Stresemanns Wirken als Verbandsfunktionär, Parteiführer und Außenminister befassen, aber eine moderne wissenschaftliche Biographie ließ auf sich warten. Ein hohen Ansprüchen genügendes Werk legt jetzt der englische Historiker Jonathan Wright vor. Sein Buch ist das Ergebnis langjähriger Forschung; alle verfügbaren Quellen sind ebenso umsichtig ausgewertet wie die Forschungsliteratur.
In seiner Schilderung von Stresemanns Weg aus dem Kleinbürgerhaus im Berliner Südosten über Realgymnasium und Universität zum Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller und zum vielversprechenden Nachwuchspolitiker der Nationalliberalen Partei (1907 jüngster Reichstagsabgeordneter) akzentuiert Wright, wie sich bereits in den Anfängen der Karriere jenes politische Fundament formte, das dann Stresemanns weiteres politisches Wirken trug: Nationalismus und Liberalismus - aber eben immer beides zusammen. Dies gilt auch für die Kriegsjahre. Schon bald an die Spitze der nationalliberalen Reichstagsfraktion gelangt, trat Stresemann als wortmächtiger Anwalt eines "größeren Deutschland", nämlich als Befürworter weitreichender Annexionen, hervor, forderte aber gleichzeitig innere Reformen: eine moderate Parlamentarisierung der Reichsregierung und die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts. Die in der Literatur besonders umstrittene Haltung Stresemanns während der Kriegsjahre findet bei Wright eine stimmige Deutung: Diese Haltung erwuchs aus der Fortentwicklung von Vorstellungen, die schon in den Vorkriegsjahren zu den Koordinaten seines politischen Weltbildes geworden waren - Kontinuität also, nicht Bruch oder zeitweilige Verirrung.
Doch nach der Niederlage und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs war Stresemanns Führungsrolle im deutschen Liberalismus wegen seines Eintretens für Annexionen akut gefährdet. Die Auseinandersetzungen im liberalen Lager während der November- und Dezemberwochen 1918 endeten damit, daß der deutsche Liberalismus in zwei Parteien gespalten blieb, die linksliberale Deutsche Demokratische Partei und die von Stresemann geführte Deutsche Volkspartei, die zunächst die weitaus schwächere, seit 1920 aber die deutlich stärkere der beiden liberalen Parteien war, der eine Schlüsselstellung im parlamentarischen System der Republik zufiel.
Wright berichtet zuverlässig über diese Vorgänge und widmet dann der von Stresemann in den folgenden Jahren betriebenen Politik eine breite Darstellung. Fast die Hälfte seines Textes gilt den sechs Jahren der Außenministertätigkeit. Diese Ausführlichkeit ist der Tatsache geschuldet, daß Stresemann auf dem Feld der Außenpolitik Epoche gemacht hat und diese sechs Jahre daher im Zentrum einer Stresemann-Biographie stehen müssen - wiewohl für den Biographen mindestens ebenso interessant die früheren Phasen von Stresemanns Leben sind, der rasante soziale und politische Aufstieg des Kleinbürgersohns im wilhelminischen Deutschland. Wrights Darlegungen über Zielvorstellungen, Erfolge und Rückschläge der Stresemannschen Außenpolitik sind präzis und sachkundig, seine Urteile abgewogen und gut abgesichert, aber die breitangelegte Darstellung verliert sich gelegentlich doch allzusehr in Details, so daß der Leser Mühe hat, die große Linie im Auge zu behalten.
Die Detailüberfrachtung wird indessen aufgewogen durch eine glänzende, dreißig Seiten umfassende "Conclusion", in der alle wesentlichen Gesichtspunkte zusammengeführt und die Facetten des Stresemannschen Wirkens eindringlich beleuchtet werden. Er war ein Mann der politischen Mitte, darin blieb er sich von seinen Anfängen an treu. Und er bejahte die parlamentarische Regierungsweise, zunächst in der konstitutionellen Monarchie, dann in der Republik. Wenn es dem Monarchisten auch nicht leichtfiel, sich mit der republikanischen Staatsform abzufinden und zu befreunden, so hat er sich seit 1919/20 doch Schritt für Schritt zum Verteidiger der Weimarer Verfassung entwickelt, so daß er in seinen letzten Lebensjahren in Deutschland und im Ausland als der führende Repräsentant der Weimarer Demokratie galt.
Wright macht kluge Bemerkungen über den Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik bei Stresemann: Die Außenpolitik war für ihn nicht nur Instrument zur Wiederherstellung einer deutschen Machtstellung, sondern sie bezweckt auch die innere Konsolidierung der Republik. Weil er einen nationalen Konsens für seine Politik zu erreichen versuchte, um sie gegenüber dem Ausland effektiver vertreten zu können und nach innen die Republik zu stabilisieren, mußte er mit einer gewissen Flexibilität operieren, um sich die Unterstützung so unterschiedlicher Koalitionspartner wie der SPD und der Deutschnationalen zu sichern. Diese Flexibilität erregte manchen Argwohn und weckte Zweifel an seiner Aufrichtigkeit, die Wright für unberechtigt hält. Trotz aller Schwierigkeiten und Konzessionen gelang es ihm, einen konsistenten Kurs zu verfolgen, den er mit um so größerer Überzeugung steuerte, je deutlicher sich Ergebnisse einstellten.
Schließlich wendet sich Wright noch der "natürlichen, aber ahistorischen" Frage zu, was Stresemann wohl getan hätte, wenn ihm ein längeres Leben beschieden gewesen wäre (er starb mit einundfünfzig Jahren am 3. Oktober 1929). Antworten können nur spekulativ sein, aber das Gedankenexperiment, das Wright anstellt, ist reizvoll: Den Austritt seiner Partei aus der großen Koalition hätte er schwerlich verhindern können, aber als Außenminister in einem Kabinett Brüning hätte er in den deutsch-französischen Beziehungen sicherlich nicht einen Konfrontationskurs eingeschlagen.
Ob Stresemann in seiner Partei genügend Rückhalt besessen hätte oder ob es zur Parteispaltung und zu einer Neuformierung der politischen Mitte gekommen wäre, muß offenbleiben. Aber trotz der wohl unvermeidlichen Wahlniederlagen der liberalen Parteien - sicher ist, daß Stresemann Hitler und seiner Bewegung mit äußerstem Krafteinsatz entgegengetreten wäre, wie er das bereits in seinen letzten Lebenstagen bei der vehementen Bekämpfung der von der politischen Rechten in Gang gesetzten Anti-Young-Plan-Kampagne demonstriert hatte. Mit einem lebenden Stresemann hätte es Hitler erheblich schwerer gehabt, an die Schalthebel der Macht zu gelangen.
Schon diese Überlegung macht deutlich, wieviel die Republik durch den frühen Tod Stresemanns verloren hat. Wright nennt ihn "Weimars größten Staatsmann". Ihm setzt er, fair im Urteil, einfühlsam in der Interpretation, mit seiner Biographie ein beeindruckendes Denkmal.
Jonathan Wright: Gustav Stresemann. Weimar's Greatest Statesman. Oxford University Press, Oxford 2002. 569 Seiten, 25,- £.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wright presents a rich multifaceted picture that soildly rests on contemporary evidence...well written book Klaus Schwabe Journal of European Integration History