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Produktdetails
  • Verlag: Beck
  • 1998.
  • Seitenzahl: 436
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 530g
  • ISBN-13: 9783406441103
  • ISBN-10: 3406441106
  • Artikelnr.: 07578034
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Raus aus dem Klub der Zweifler
Wofür das Hirn nicht gemacht ist: Einige körperliche Merkwürdigkeiten / Von Michael Jeismann

Dummheit ist nicht meine Stärke", ließ Paul Valéry Ende des vergangenen Jahrhunderts seinen Monsieur Teste sagen und machte den Intellekt in der Beobachtung seiner selbst zum Gegenstand eines Romans. Das nun ausgehende Jahrzehnt hat zwar kein großes Hirn-Epos hervorgebracht. Es ist gleichwohl das - offiziell vom amerikanischen Kongreß ausgerufene - Jahrzehnt des Gehirns. Vielleicht erhöht schon das Denken an das Denken unsere Einsichtsfähigkeit, sicher aber haben die Neurowissenschaften eine enorme Förderung und einen großen Aufschwung erfahren. Die Aufhebung des "IQ" als absoluter Gradmesser von Intelligenz zählt zu den menschheitsfreundlichen Nebenfolgen des neurowissenschaftlichen Fortschritts.

Die hochgradige Vernetzung von Hirntätigkeiten verbietet jedenfalls willkürliche Isolierungen. Herr Teste würde es nicht glauben wollen, aber selbst die Emotionen sind von dem Schweizer Psychiater Luc Ciompi und anderen Wissenschaftlern mittlerweile als Bestandteile und Steuerungseinheiten von Intelligenz erkannt. Die Hirnforschung war Mitte der achtziger Jahre vor allem durch das "Ich und sein Gehirn" von Karl Popper und John C. Eccles ins Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit getreten und machte die Schnittpunkte zwischen Biologie, Psychologie und Philosophie plausibel.

Allerdings handelt es sich um ein Grenzgebiet, von wo aus man es auch betrachtet. So herrscht zwar Einigkeit darüber, wie wichtig die hier gewonnenen Erkenntnisse sind, aber es macht Mühe, die vielen denkbaren Anschlüsse tatsächlich herzustellen. Das mußte auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft feststellen, denn ihr interdisziplinäres Schwerpunktprogramm "Kognition und Gehirn" ließ die Verständigungsschwierigkeiten selbst zwischen den unmittelbar betroffenen Disziplinen hervortreten. Für die interessierte Öffentlichkeit ist das Feld der Forschung noch steiniger und schwer zugänglich. So wartet man also auf uncodierte Nachrichten vom Gehirn, und es ist wohl kein Zufall, daß die "Popularisierung" aus den Vereinigten Staaten importiert wird, obwohl Deutschland in den Neurowissenschaften nicht nur eine große Tradition, sondern auch wirkliche Spitzenforschung vorzuweisen hat. Der Leser ist jedenfalls dankbar, wenn ihm die wichtigsten Fragen der Gehirnforschung und die neueren Ergebnisse lesbar präsentiert werden. Mit gewissen Einschränkungen ist das dem kalifornischen Psychologen Bernard J. Baars gut gelungen.

Beim "Schauspiel des Denkens" achtet Baars in erster Linie auf das Bewußtsein und seine biologische Materialität. Ihn beschäftigt, mit anderen Worten, die in der antiken und in der arabischen Tradition formulierte und seitdem vielfach variierte Frage nach dem Sitz und Zusammenhang von Geist, Seele und Gehirn. Eine Frage, die erst in jüngster Zeit wieder ernsthaft diskutiert wird. Lange hielt man die biologisch-physiologische Identifizierung für unmöglich. Hier wirkte Emile Du Bois-Reymonds apodiktische Feststellung der Uneinsehbarkeit der geistigen Vorgänge, sein zum Topos gewordenes "Ignorabimus", nach.

Wenn Baars ein kleines Gebiet im Stammhirn, die "Formatio reticularis" und darin wiederum eine bestimmte Ansammlung von Nervenzellen, "intralaminare Nuklei genannt", als Kerngebiet von Bewußtsein herausstellt, so wird das Laien wenig sagen. Und ob die Steuerungs- und Produktionseinheit von Bewußtsein nun hier oder dort sitzt, ist sicher für den Mediziner von Wichtigkeit, für den Rest der denkenden Menschheit aber bloß ein Detail. Zumal es durchaus konkurrierende Annahmen gibt, die Baars leider nicht erwähnt, wie er überhaupt die deutsche Forschung weitgehend ausblendet.

So hat der Direktor am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen, Hans Flohr, jüngst die faszinierende Aussicht eröffnet, daß ein bestimmter Synapsentyp, die sogenannte NMDA-Synapse, eine konstituierende Rolle bei der Entstehung von Bewußtsein spiele. Schlagartig gewinnen diese Forschungen indes kulturelle Relevanz im weiteren Sinn, wenn man weiß, wie wichtig sie zum Beispiel für Entwicklung von Schmerzmitteln sind. Baars Feststellung, daß die schmerzlindernde Wirkung von Morphium zur Hälfte auf Suggestion zurückzuführen sei, eröffnet darüber hinaus ein weites Feld von Hypothesen. Denn Suggestion sei nichts anderes als die normale Arbeitsweise des Hirns ohne die zusätzliche mentale Funktion des Selbstzweifels: Baars erklärt plausibel, warum der Zweifel es schwer hat im menschlichen Gehirn. Fragt man zudem nach dem "Selbst" und dem "Ich", die sicher nicht identisch mit dem Bewußtsein sind, wird die Hirnforschung unmittelbar für die Vorstellung von uns selbst bedeutsam.

Dabei ist man in jedem Fall auf Metaphern angewiesen, um bestimmte Vorgänge vorstellbar zu machen. Eine der zentralen Metaphern in der Hirnforschung ist die Theaterbühne. Man hat nämlich festgestellt, daß der Umfang der Bewußtseinsinhalte in einem bestimmten Moment überraschend begrenzt ist. Anhand kleiner Versuche, die der Leser mitmachen kann, veranschaulicht Baars, wie begrenzt das Arbeitsgedächtnis ist. So gibt es eine ständige Konkurrenz von Bewußtseinsinhalten, also den Schauspielern, von denen jeder in den Lichtkegel der Aufmerksamkeit gelangen kann. Und die Hauptrolle spielt die Kohärenz. Inkompatible Informationen werden, so Baars, aus dem Bewußtsein einfach ausgeblendet. Der Mensch ist also biologisch gesehen vor allem ein sinnhungriges Wesen - eine Eigenschaft, die mit seiner Vernunftbegabung in Harmonie stehen oder auch im Widerstreit liegen kann. Sehr schön schildert Baars, was Lernen unter diesen Umständen bedeutet: nichts anderes, als seine ganze Aufmerksamkeit auf eine Sache zu richten. Der eigentliche Lernprozeß erfolgt implizit, indem das, worauf man seine Aufmerksamkeit richtete, in kohärente Zusammenhänge gebracht wird.

Es ist kaum möglich, die Vielzahl von anregenden und weiterführenden Aspekten aufzuzählen, die Baars in seinem Buch versammelt, von der Bedeutung der "inneren Stimme", des "inneren Sprechens" bis hin zu dem, wie man sich eigentlich "Ideen" vorzustellen habe. Man stößt auf vielerlei Formen des Defekts, die durchaus eine poetisch-schauerliche Anmutung haben: die Seelenblindheit etwa, bei der bewußte Objektwahrnehmung intakt bleibt, aber die Bedeutung des Objekts verlorengeht. Baars neurowissenschaftlichen Erkundungen wecken die Wissenslust, und wer sich weiter vorwagen will, dem sei das von Gerhard Roth und Wolfgang Prinz herausgegebene Buch "Kopfarbeit" (Spektrum Akademischer Verlag) empfohlen. Hier handelt es sich zwar nicht um ein Buch für das breite Publikum, aber der interessierte Leser findet einen repräsentativen Querschnitt durch die aktuelle Forschung. Bemerkenswert ist insbesondere der Beitrag von Wolfgang Prinz, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychologische Forschung, der die konstitutive Rolle des "Ichs" und die sozi-kulturelle Umgebung als Faktoren von Bewußtsein hervorhebt. Ein Aspekt, der bei Baars eher unterbelichtet ist. "Das Schauspiel des Denkens" ist übrigens ein ziemlich kalifornisches Buch: voller Lebenszuversicht, zugleich aber auch stark an "Kontrolle" interessiert.

Man braucht in jedem Fall Alternativen, damit man den Kegel der Aufmerksamkeit im Sinne von Baars auch auf etwas anderes richten kann und damit zugleich seine Bewußtseinsinhalte, sein Theaterensemble also, vermehrt. Dazu bieten Rudolf Schendas "Hundert wahre Geschichten vom menschlichen Körper" die willkommene Gelegenheit. Es ist dies ein alteuropäisches Buch par excellence, in seiner Skepsis gegenüber der "Machbarkeit" der Menschen und in seiner literarischen Orientierung. Schenda seziert gewissermaßen den menschlichen Körper. Beginnend bei "Haut und Haar" über "Kopf und Kragen" bis zu "Gemächt und Geschlecht" und "Hand und Fuß", will er der "Unbeschreibbarkeit" des Körpers entgegegentreten - in einer, wie er sagt, physiomanischen Zeit. Seine literarischen Erkundungen sind ebenso unterhaltsam wie erkenntnisfördernd und enthalten ganz nebenbei eine Medizingeschichte in Pillenform. Es gelingt Schenda, das kollektive Körperwissen zu aktivieren, jenes Wissen, das in Sprichworten und Redeweisen bis hin zur Hochliteratur gespeichert ist, und der Leser wird auf ebenso behutsame wie bestimmte Weise auf seine stets gefährdete biologische Existenz und kulturelle Prägungen verwiesen. Kein wissenschaftliches Buch im strengen Sinn, ist es doch fundiert und stützt sich auf eine reiche Quellenkenntnis.

Bernard J. Baars wünscht seinen Lesern am Ende viel Glück bei der Anwendung der Theorie auf den individuellen Sonderfall; Rudolf Schenda endet bei den Füßen, mit denen der Mensch vorangeht, wenn es mit ihm zu Ende gegangen ist. Er fragt: Und das soll Leib und Leben, Leid und Lust gewesen sein? Vor den letzten Fragen schaltet sich schließlich das Gehirn ein, beschließt, jeden Kohärenzverlust zu vermeiden, und befiehlt dem Arm: Buch zu!

Bernard J. Baars: "Das Schauspiel des Denkens". Neurowissenschaftliche Erkundungen. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998. 310 S., geb., 68,- DM.

Rudolf Schenda: "Gut bei Leibe". Hundert wahre Geschichten vom menschlichen Körper. Verlag C. H. Beck, München 1998. 437 S., 11 Abb., geb., 48,- DM.

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