"Unser Reich": So nannten Menschen unterschiedlicher Sprachen und Religionen von Südtirol über Mähren bis Galizien und Transsilvanien das Habsburgerreich. Der renommierte amerikanische Historiker Pieter M. Judson erzählt in seiner meisterhaften Gesamtdarstellung die Geschichte der Donaumonarchie und der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie ganz neu und revidiert gründlich das vertraute Bild vom verknöcherten "Vielvölkerreich".
"Die Bedeutung von Judsons Darstellung liegt nicht zuletzt darin, sich darüber Klarheit zu verschaffen, dass »Habsburg« für ein Europa en miniature steht. Das macht das Buch über Habsburg zu einem Lehrstück für ein gegenwärtiges (EU-)Europa."
Militärgeschichtliche Zeitschrift, Peter Andreas Popp
"Das ist die Geschichte, auf die wir gewartet haben, seit das Habsburgerreich von der europäischen Landkarte verschwunden ist."
Tara Zahra
"Ohne dieses Buch zu kennen, wird man künftig nicht mehr über die letzten beiden Jahrhunderte der Habsburgermonarchie sprechen, forschen und urteilen können."
Wolfram Siemann, Süddeutsche Zeitung
"Ein willkommenes Korrektiv zu der üblichen schwarzen Legende. Luzide, elegant, voller überraschender und erhellender Details."
Wall Street Journal
"Eine engagierte Neubewertung des Reiches, dessen Erbe auch noch ein Jahrhundert nach seinem Zusammenbruch lebendig ist."
Financial Times
"Ein toller Wurf, in seiner Gelehrsamkeit ehrfurchtgebietend, in der Souveränität beeindruckend."
Alfred Pfoser, Falter
"Packend und differenziert geschrieben... ohne die Habsburg-Nostalgie, mit der sonst so viele Darstellungen übergossen sind."
Adam Zamoyski, Literary Review
Militärgeschichtliche Zeitschrift, Peter Andreas Popp
"Das ist die Geschichte, auf die wir gewartet haben, seit das Habsburgerreich von der europäischen Landkarte verschwunden ist."
Tara Zahra
"Ohne dieses Buch zu kennen, wird man künftig nicht mehr über die letzten beiden Jahrhunderte der Habsburgermonarchie sprechen, forschen und urteilen können."
Wolfram Siemann, Süddeutsche Zeitung
"Ein willkommenes Korrektiv zu der üblichen schwarzen Legende. Luzide, elegant, voller überraschender und erhellender Details."
Wall Street Journal
"Eine engagierte Neubewertung des Reiches, dessen Erbe auch noch ein Jahrhundert nach seinem Zusammenbruch lebendig ist."
Financial Times
"Ein toller Wurf, in seiner Gelehrsamkeit ehrfurchtgebietend, in der Souveränität beeindruckend."
Alfred Pfoser, Falter
"Packend und differenziert geschrieben... ohne die Habsburg-Nostalgie, mit der sonst so viele Darstellungen übergossen sind."
Adam Zamoyski, Literary Review
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2017Integration von unten
Pieter M. Judson schreibt dem Habsburgerreich von Maria Theresia bis 1918 neues Leben und starke Kommunikationsdichte zu
Es gibt wohl kaum Klischees, die sich zur Geschichte des 19. Jahrhunderts hartnäckiger halten als die von der Habsburgermonarchie als „Völkerkerker“ und der Epoche nach dem Wiener Kongress von 1815 als dem „restaurativen Metternich’schen System“. Generationen von Geschichtslehrern haben sich daran abgearbeitet. Sie wollen sich wie manche populärwissenschaftliche Autoren immer noch nicht ihre lieb gewordenen einfachen Schubladen der Verfallsgeschichte Mitteleuropas entreißen lassen, das in ihren Augen dem verdienten Untergang geweiht war, während im westlichen Frankreich und Großbritannien die Verheißung der Freiheit und des politischen Fortschritts blühte, dazwischen die rückschrittliche deutsche „Kleinstaaterei“, die nur auf die zielstrebige ordnende Hand Bismarcks wartete, um in nationaler Einigung den Anschluss an die Zukunft zu finden. Noch jüngst ließ der Spiegel in einem Sonderheft „Das Reich der Deutschen“ im Jahre 1871 kulminieren, wobei der habsburgisch geprägte „Deutsche Bund“ (1815 – 1866) darin gar nicht vorkam.
In der Geschichtswissenschaft ist dieses holzschnittartige Geschichtsbild längst einer neuen Perspektive gewichen, blickt man etwa auf Helmut Rumplers große Revision der Geschichte des Habsburgerreichs im langen 19. Jahrhundert („Eine Chance für Mitteleuropa“, 2007). Soeben erregte der auch für größere Leserkreise herausgegebene Band Thomas Winkelbauers zu 2000 Jahren österreichischer Geschichte Aufsehen, weil hier gleichfalls die Vision von der notwendigen Dekadenz des Reichs verabschiedet wird.
Jetzt hat der amerikanische Historiker Pieter M. Judson, derzeit am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz lehrend, der Geschichte des habsburgischen Imperiums für die Zeit vom Herrschaftsantritt Maria Theresias 1840 bis zur Auflösung der Monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs 1918 einen neuen Impuls gegeben, den man im Niveau der Diskussion zweifellos als Quantensprung und in der neuen Blickrichtung als kopernikanische Wende einstufen kann. Er stützt sich auf intensive Archivforschungen und auf das bisher systematisch kaum ausgewertete Monumentalwerk der Österreichischen Akademie („Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918“). Im 2016 erschienenen amerikanischen Original vermeldet der Autor im Untertitel selbstbewusst „A New History“! Jetzt können sich die Leserinnen und Leser in der deutschen Übersetzung selbst ein Bild machen, ob das Buch diese Ambition einzulösen vermag. Es sei vorweggenommen: es kann! Worin liegt der „Turnaround“?
Der Verfasser verdeutlicht es eingangs brennglasartig durch einen Volksaufstand am 19. Juni 1911 in der galizischen Ölförderstadt Drohobytsch, als sich Juden, Ruthenen (Ukrainer) und Polen zusammentaten, um gegen die Wahlmanipulationen der starken Männer vor Ort zu protestieren, und sich von der Reichsregierung im entfernten Wien Gerechtigkeit erhofften. Der Fall als einer von vielen anderen soll zeigen: Das gemeinsame Habsburgerreich wurde nicht nur von oben durch den Monarchen, seine Regierung und Beamten, sondern auch durch ein lebendiges patriotisches Reichsbewusstsein von unten geschaffen und getragen. Während der reichsweiten Wahlen äußerte sich eine patriotische Verbundenheit, welche die Unterschiede der Nationalität, Sprache und Konfession überspielte.
Anders gesagt: Fragen nach der Staatlichkeit der Monarchie richteten sich bisher traditionell auf die Entwicklung von Institutionen, Verwaltung und Verfassungsbestandteilen – auf die Reichsbildung von oben. Judsons Leitidee sucht demgegenüber nach Elementen zentralisierender Staatlichkeit, welche die breiten Schichten der Bevölkerung einbezog oder sie anzusprechen vermochte. Den Urimpuls lieferte Maria Theresia 1770 durch ihr Gebot, reichsweit eine Volkszählung durchzuführen. Wenn sie auch steuerliche Motive dazu bewogen, demonstrierte sie doch drei Merkmale der habsburgischen Politik, die sich als Leitthemen durch das ganze Buch ziehen. Sie praktizierte „State-Building“, indem sie die Landesgeografie kartografisch festhalten, die Bewohner zählen und ihre Lebensbedingungen ermitteln ließ. Sie befahl zweitens, alle Häuser durchzunummerieren, und attestierte damit zugleich, dass ungeachtet fortbestehender Stände alle Einwohner des Reiches als Mitglieder eines Hauses gleichrangig als „Staatsbürger“ eingestuft wurden. Drittens weckte sie Vertrauen und Begeisterung gegenüber dem Zentralstaat, als die kaiserlichen Offiziere als Arm des Reiches unmittelbar vor Ort erschienen und entgegen der erwarteten Zwangsrekrutierung lediglich die Köpfe zählten und nach der „Condition“ der lokalen Bevölkerung fragten. Die Landesfürstin hatte bewusst den ländlichen Adel und die lokale Geistlichkeit übergangen; so nahm die breite Landbevölkerung ihr Oberhaupt als oberste Appellationsinstanz wahr.
Dementsprechend spürt Judson über mehr als eineinhalb Jahrhunderte hinweg den Indizien einer wachsenden Identifikation mit dem Reich nach. Die antinapoleonischen Kriege trugen beträchtlich dazu bei, weil die neue „Landwehr“ als überregionale, patriotische Einrichtung wirkte. Auch das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1812 stiftete statt des vermeintlichen „Absolutismus“ verbindliche Normen für den Gesamtstaat. Doch Judson dreht die Blickrichtung um, wenn er parallel dazu eine von der Gesellschaft ausgehende Eigendynamik entdeckt, welche die angeblich allmächtige Polizei und Zensur überspielte. Die Jahre zwischen 1815 und 1840 erscheinen plötzlich nicht mehr so biedermeierhaft quietistisch. Unter dem Dach einer zaudernd-konservativen Regierung entfaltet eine dynamische Gesellschaft alle Anzeichen einer „rastlosen wirtschaftlichen Aktivität“, zu der es kaum der Impulse der Administration bedurfte. Judson betont nicht die zentrifugalen Tendenzen im Reich, sondern den Willen, sich mit dem Ganzen zu identifizieren.
So ist es kein Zufall, dass Metternich und sein „System“ in dem Buch eher als randständig erscheinen. Das ist keineswegs zu beklagen, war doch der Staatskanzler einerseits für Presse, Polizei und Finanzen im Innern gar nicht zuständig. Andererseits eröffnet diese Entpersonalisierung des historischen Blicks völlig neue Einsichten, wie vom Innern her die Reichsbildung konkret funktionierte. Dieser Prozess beschleunigte sich seit der Jahrhundertmitte in der Kultur und Gesellschaft, in den entstehenden Vereinen und der Presse, wo sich ein Reichsbewusstsein bekunden konnte, das mehr zählte als die enge Selbstbezogenheit auf die eigene Nationalität. Da Judson nicht alle „Länder“ des Reiches abschreiten kann, konzentriert er sich – ein kluger methodischer Kunstgriff – auf die nichtdeutschen Kronländer mit gemischten Nationalitäten: Dalmatien, Ungarn und Galizien. Gerade hier stellte sich die Frage der transnationalen Integration am stärksten.
Die Revolution von 1848/49, üblicherweise als zweiter Gipfel drohenden Zerfalls der Monarchie nach der napoleonischen Ära gedeutet, offenbart in der Sicht Judsons eine alle Landesteile erfassende „Kommunikationsrevolution“, wobei sich unumwunden auch in den nichtdeutschen Regionen der Wille bekundete, am Kaiserreich festhalten zu wollen, weit über das bekannte Diktum des Tschechen František Palacký von 1848 hinaus („Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen“).
Judson übersieht keineswegs die wachsenden Kultur- und Nationalitätenkämpfe, denen er ein eigenes Kapitel widmet. Aber maßgeblicher erscheint ihm eine Kommunikationsverdichtung in den letzten vier Jahrzehnten der Monarchie: Verkehr, Reisen, Telegrafie, Urbanisierung, der von Wien ausgehende beispielgebende Städtebau in den Residenzen und Metropolen mit dem typischen neobarocken oder neoklassizistischen Habsburgerstil (wie er uns heute noch in Lemberg, Prag, Budapest, Laibach entgegentritt), der gemeinsame Wirtschaftsraum, die allgemeine Wehrpflicht, das allgemeine (Männer-)Wahlrecht: alles das übte einen starken, bewusstseinsprägenden Antrieb aus. Österreich wurde darin den westlichen Großmächten vergleichbar, sodass dessen Auflösung vor Beginn des Weltkriegs keineswegs zeitgemäß war. In dieser plausiblen Deutung versetzte erst die „Urkatastrophe“ Europas 1914 dem Reich den Todesstoß. Es verlor als übergeordnete Instanz seine Glaubwürdigkeit, als es unfähig wurde, das Problem der Flüchtlinge im Innern, die wirtschaftliche Not und die gefühlten Ungerechtigkeiten zu meistern, und so den einzelnen Nationalitäten das Feld überlassen musste. Darüber werden die Historiker der (Nach-)Weltkriegsära weiterhin zu diskutieren haben.
Das Buch weist noch über 1918 hinaus, als die nachfolgenden kleinen Vielvölkerstaaten denselben Herausforderungen der Integration gegenüberstanden, wobei sie die Probleme mit den nationalen Minderheiten erheblich schlechter meisterten, im Gegenteil: mit bisher unbekannter Repression nach innen noch verschärften. Der Autor bietet in der Tat eine neue Zusammenschau oder in seinen Worten: „großformatige alternative Narrative, die als Tragebalken für die exzellenten neuen Forschungen der letzten Jahrzehnte dienen können“. Ohne dieses Buch zu kennen, wird man künftig nicht mehr über die letzten beiden Jahrhunderte der Habsburgermonarchie sprechen, forschen und urteilen können.
WOLFRAM SIEMANN
Den Ur-Impuls zum Patriotismus
im Habsburgerreich lieferte 1770
Maria Theresias Volkszählung
Mit dem Minderheitenproblem
kamen die Nachfolgerstaaten
auch nicht besser zurecht
Pieter M. Judson: Habsburg. Geschichte eines Imperiums. 1740 – 1918. Aus dem Englischen v. Michael Müller. Verlag C. H. Beck, München 2017. 672 Seiten, 40 Abb., 7 Karten, 34 Euro. E-Book 28,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Pieter M. Judson schreibt dem Habsburgerreich von Maria Theresia bis 1918 neues Leben und starke Kommunikationsdichte zu
Es gibt wohl kaum Klischees, die sich zur Geschichte des 19. Jahrhunderts hartnäckiger halten als die von der Habsburgermonarchie als „Völkerkerker“ und der Epoche nach dem Wiener Kongress von 1815 als dem „restaurativen Metternich’schen System“. Generationen von Geschichtslehrern haben sich daran abgearbeitet. Sie wollen sich wie manche populärwissenschaftliche Autoren immer noch nicht ihre lieb gewordenen einfachen Schubladen der Verfallsgeschichte Mitteleuropas entreißen lassen, das in ihren Augen dem verdienten Untergang geweiht war, während im westlichen Frankreich und Großbritannien die Verheißung der Freiheit und des politischen Fortschritts blühte, dazwischen die rückschrittliche deutsche „Kleinstaaterei“, die nur auf die zielstrebige ordnende Hand Bismarcks wartete, um in nationaler Einigung den Anschluss an die Zukunft zu finden. Noch jüngst ließ der Spiegel in einem Sonderheft „Das Reich der Deutschen“ im Jahre 1871 kulminieren, wobei der habsburgisch geprägte „Deutsche Bund“ (1815 – 1866) darin gar nicht vorkam.
In der Geschichtswissenschaft ist dieses holzschnittartige Geschichtsbild längst einer neuen Perspektive gewichen, blickt man etwa auf Helmut Rumplers große Revision der Geschichte des Habsburgerreichs im langen 19. Jahrhundert („Eine Chance für Mitteleuropa“, 2007). Soeben erregte der auch für größere Leserkreise herausgegebene Band Thomas Winkelbauers zu 2000 Jahren österreichischer Geschichte Aufsehen, weil hier gleichfalls die Vision von der notwendigen Dekadenz des Reichs verabschiedet wird.
Jetzt hat der amerikanische Historiker Pieter M. Judson, derzeit am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz lehrend, der Geschichte des habsburgischen Imperiums für die Zeit vom Herrschaftsantritt Maria Theresias 1840 bis zur Auflösung der Monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs 1918 einen neuen Impuls gegeben, den man im Niveau der Diskussion zweifellos als Quantensprung und in der neuen Blickrichtung als kopernikanische Wende einstufen kann. Er stützt sich auf intensive Archivforschungen und auf das bisher systematisch kaum ausgewertete Monumentalwerk der Österreichischen Akademie („Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918“). Im 2016 erschienenen amerikanischen Original vermeldet der Autor im Untertitel selbstbewusst „A New History“! Jetzt können sich die Leserinnen und Leser in der deutschen Übersetzung selbst ein Bild machen, ob das Buch diese Ambition einzulösen vermag. Es sei vorweggenommen: es kann! Worin liegt der „Turnaround“?
Der Verfasser verdeutlicht es eingangs brennglasartig durch einen Volksaufstand am 19. Juni 1911 in der galizischen Ölförderstadt Drohobytsch, als sich Juden, Ruthenen (Ukrainer) und Polen zusammentaten, um gegen die Wahlmanipulationen der starken Männer vor Ort zu protestieren, und sich von der Reichsregierung im entfernten Wien Gerechtigkeit erhofften. Der Fall als einer von vielen anderen soll zeigen: Das gemeinsame Habsburgerreich wurde nicht nur von oben durch den Monarchen, seine Regierung und Beamten, sondern auch durch ein lebendiges patriotisches Reichsbewusstsein von unten geschaffen und getragen. Während der reichsweiten Wahlen äußerte sich eine patriotische Verbundenheit, welche die Unterschiede der Nationalität, Sprache und Konfession überspielte.
Anders gesagt: Fragen nach der Staatlichkeit der Monarchie richteten sich bisher traditionell auf die Entwicklung von Institutionen, Verwaltung und Verfassungsbestandteilen – auf die Reichsbildung von oben. Judsons Leitidee sucht demgegenüber nach Elementen zentralisierender Staatlichkeit, welche die breiten Schichten der Bevölkerung einbezog oder sie anzusprechen vermochte. Den Urimpuls lieferte Maria Theresia 1770 durch ihr Gebot, reichsweit eine Volkszählung durchzuführen. Wenn sie auch steuerliche Motive dazu bewogen, demonstrierte sie doch drei Merkmale der habsburgischen Politik, die sich als Leitthemen durch das ganze Buch ziehen. Sie praktizierte „State-Building“, indem sie die Landesgeografie kartografisch festhalten, die Bewohner zählen und ihre Lebensbedingungen ermitteln ließ. Sie befahl zweitens, alle Häuser durchzunummerieren, und attestierte damit zugleich, dass ungeachtet fortbestehender Stände alle Einwohner des Reiches als Mitglieder eines Hauses gleichrangig als „Staatsbürger“ eingestuft wurden. Drittens weckte sie Vertrauen und Begeisterung gegenüber dem Zentralstaat, als die kaiserlichen Offiziere als Arm des Reiches unmittelbar vor Ort erschienen und entgegen der erwarteten Zwangsrekrutierung lediglich die Köpfe zählten und nach der „Condition“ der lokalen Bevölkerung fragten. Die Landesfürstin hatte bewusst den ländlichen Adel und die lokale Geistlichkeit übergangen; so nahm die breite Landbevölkerung ihr Oberhaupt als oberste Appellationsinstanz wahr.
Dementsprechend spürt Judson über mehr als eineinhalb Jahrhunderte hinweg den Indizien einer wachsenden Identifikation mit dem Reich nach. Die antinapoleonischen Kriege trugen beträchtlich dazu bei, weil die neue „Landwehr“ als überregionale, patriotische Einrichtung wirkte. Auch das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1812 stiftete statt des vermeintlichen „Absolutismus“ verbindliche Normen für den Gesamtstaat. Doch Judson dreht die Blickrichtung um, wenn er parallel dazu eine von der Gesellschaft ausgehende Eigendynamik entdeckt, welche die angeblich allmächtige Polizei und Zensur überspielte. Die Jahre zwischen 1815 und 1840 erscheinen plötzlich nicht mehr so biedermeierhaft quietistisch. Unter dem Dach einer zaudernd-konservativen Regierung entfaltet eine dynamische Gesellschaft alle Anzeichen einer „rastlosen wirtschaftlichen Aktivität“, zu der es kaum der Impulse der Administration bedurfte. Judson betont nicht die zentrifugalen Tendenzen im Reich, sondern den Willen, sich mit dem Ganzen zu identifizieren.
So ist es kein Zufall, dass Metternich und sein „System“ in dem Buch eher als randständig erscheinen. Das ist keineswegs zu beklagen, war doch der Staatskanzler einerseits für Presse, Polizei und Finanzen im Innern gar nicht zuständig. Andererseits eröffnet diese Entpersonalisierung des historischen Blicks völlig neue Einsichten, wie vom Innern her die Reichsbildung konkret funktionierte. Dieser Prozess beschleunigte sich seit der Jahrhundertmitte in der Kultur und Gesellschaft, in den entstehenden Vereinen und der Presse, wo sich ein Reichsbewusstsein bekunden konnte, das mehr zählte als die enge Selbstbezogenheit auf die eigene Nationalität. Da Judson nicht alle „Länder“ des Reiches abschreiten kann, konzentriert er sich – ein kluger methodischer Kunstgriff – auf die nichtdeutschen Kronländer mit gemischten Nationalitäten: Dalmatien, Ungarn und Galizien. Gerade hier stellte sich die Frage der transnationalen Integration am stärksten.
Die Revolution von 1848/49, üblicherweise als zweiter Gipfel drohenden Zerfalls der Monarchie nach der napoleonischen Ära gedeutet, offenbart in der Sicht Judsons eine alle Landesteile erfassende „Kommunikationsrevolution“, wobei sich unumwunden auch in den nichtdeutschen Regionen der Wille bekundete, am Kaiserreich festhalten zu wollen, weit über das bekannte Diktum des Tschechen František Palacký von 1848 hinaus („Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen“).
Judson übersieht keineswegs die wachsenden Kultur- und Nationalitätenkämpfe, denen er ein eigenes Kapitel widmet. Aber maßgeblicher erscheint ihm eine Kommunikationsverdichtung in den letzten vier Jahrzehnten der Monarchie: Verkehr, Reisen, Telegrafie, Urbanisierung, der von Wien ausgehende beispielgebende Städtebau in den Residenzen und Metropolen mit dem typischen neobarocken oder neoklassizistischen Habsburgerstil (wie er uns heute noch in Lemberg, Prag, Budapest, Laibach entgegentritt), der gemeinsame Wirtschaftsraum, die allgemeine Wehrpflicht, das allgemeine (Männer-)Wahlrecht: alles das übte einen starken, bewusstseinsprägenden Antrieb aus. Österreich wurde darin den westlichen Großmächten vergleichbar, sodass dessen Auflösung vor Beginn des Weltkriegs keineswegs zeitgemäß war. In dieser plausiblen Deutung versetzte erst die „Urkatastrophe“ Europas 1914 dem Reich den Todesstoß. Es verlor als übergeordnete Instanz seine Glaubwürdigkeit, als es unfähig wurde, das Problem der Flüchtlinge im Innern, die wirtschaftliche Not und die gefühlten Ungerechtigkeiten zu meistern, und so den einzelnen Nationalitäten das Feld überlassen musste. Darüber werden die Historiker der (Nach-)Weltkriegsära weiterhin zu diskutieren haben.
Das Buch weist noch über 1918 hinaus, als die nachfolgenden kleinen Vielvölkerstaaten denselben Herausforderungen der Integration gegenüberstanden, wobei sie die Probleme mit den nationalen Minderheiten erheblich schlechter meisterten, im Gegenteil: mit bisher unbekannter Repression nach innen noch verschärften. Der Autor bietet in der Tat eine neue Zusammenschau oder in seinen Worten: „großformatige alternative Narrative, die als Tragebalken für die exzellenten neuen Forschungen der letzten Jahrzehnte dienen können“. Ohne dieses Buch zu kennen, wird man künftig nicht mehr über die letzten beiden Jahrhunderte der Habsburgermonarchie sprechen, forschen und urteilen können.
WOLFRAM SIEMANN
Den Ur-Impuls zum Patriotismus
im Habsburgerreich lieferte 1770
Maria Theresias Volkszählung
Mit dem Minderheitenproblem
kamen die Nachfolgerstaaten
auch nicht besser zurecht
Pieter M. Judson: Habsburg. Geschichte eines Imperiums. 1740 – 1918. Aus dem Englischen v. Michael Müller. Verlag C. H. Beck, München 2017. 672 Seiten, 40 Abb., 7 Karten, 34 Euro. E-Book 28,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.05.2018Fall und Aufstieg
In den vergangenen drei Jahrzehnten führte der Trend in der Geschichtsschreibung von der - erneuten - Befassung mit dem Nationalstaat nach 1990 über transnational-europäische Fragestellungen in den frühen nuller Jahren bis hin zur Globalgeschichte. Das Allerneueste ist jetzt eine Wiederbefassung der Historiker mit der Geschichte großer Reiche. Überraschend ist das nicht, führt man sich vor Augen, dass die Zunft bei der Auswahl ihrer Themen traditionell nah am politischen Zeitgeist segelt und dass die Europäische Union selbst unübersehbare Züge eines (krisengeschüttelten) Imperiums aufweist.
So erinnert die Argumentation in der Geschichte des Habsburgerreiches des aus Utrecht gebürtigen, am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz lehrenden amerikanischen Historikers Pieter M. Judson ("Habsburg". Geschichte eines Imperiums 1740-1918. Verlag C. H. Beck, München 2017) streckenweise an den Europa-Diskurs seit der europäischen Finanz- und Staatsschuldenkrise. Nach der Lektüre bleibt der Eindruck haften, Europa könnte heute besser dastehen, würden nur die richtigen Lehren aus der Geschichte, genauer, der Geschichte des Habsburgerreiches gezogen: Pragmatismus, Toleranz gegenüber regionalen Eigenarten sowie die mit Nachdruck vorangetriebene Schaffung umfassend partizipativer Institutionen. Judson widerspricht der verbreiteten These, die Habsburgermonarchie sei an sich selbst zugrunde gegangen. Stattdessen betont er die integrative Kraft des Vielvölkerstaates, der bis 1914 über ein stabiles Fundament verfügt habe.
Im Zentrum der Analyse steht die Neubewertung des Zusammenwirkens von staatlicher Ordnung und multinationaler Gesellschaft. War man bisher gewöhnlich davon ausgegangen, dass es sich beim Habsburgerreich um eine Staatsgründung "von oben" handelte, so dreht Judson den Spieß um. Er beschreibt die Organisation des Reiches als erfolgreiche Integration "von unten". Große Teile der Bevölkerung seien unabhängig von Herkunft und nationaler Zugehörigkeit in die politischen und gesellschaftlichen Prozesse eingebunden worden. So habe sich auch in den entlegenen Regionen des Reiches ein Gefühl der Zugehörigkeit herausgebildet. Wenn es dennoch zu gelegentlichen Unmutsäußerungen in der Bevölkerung kam, waren diese meist gegen örtliche Repräsentanten der Zentralmacht gerichtet. Erst die gesamteuropäische Erschütterung des Ersten Weltkrieges setzte eine Dynamik in Gang, die das bewährte Zusammenspiel von Volk und staatlicher Gewalt schließlich zerstörte.
Der Metternich-Biograph Wolfram Siemann hat Judsons Abschied vom Topos des "Völkergefängnisses" als "Turnaround" gerühmt, der einen grundsätzlich neuen Blick auf multinationale Reiche eröffnet. Unter drei Bedingungen können sie ihr Integrationspotential realisieren: Erstens, die Institutionen funktionieren und werden von der Mehrzahl der Untertanen als gerecht empfunden; zweitens, die Untertanen werden in den Prozess der Reichsgründung eingebunden, so dass die gemeinsamen Erfahrungen schwerer wiegen als sprachliche oder konfessionelle Trennungen; drittens, die staatlichen Praktiken und Institutionen erweisen sich als derart flexibel, dass sie regionale Unterschiede nicht unnötig verschütten.
Kaum ein größerer Gegensatz ist denkbar als der zu Shashi Tharoors ebenfalls vor kurzem erschienener Studie zur britischen Herrschaft in Indien ("Inglorious Empire". What the British Did to India. Hurst Publishers, London 2017). Der Historiker und indische Parlamentsabgeordnete der Kongresspartei, der in England geboren und ausgebildet wurde und von 2002 bis 2007 stellvertretender UN-Generalsekretär war, liefert keine neuen Forschungsergebnisse, dafür aber kluge Perspektiven. Er nimmt die Argumente der liberalen realpolitischen Empire-Historiographie im Stil von Niall Ferguson auf, um sie mit einem postkolonialen Dreh zu versehen und mit Schwung in ihr Gegenteil zu verkehren. Geschickt verknüpft er Vergangenes und Gegenwärtiges. Das fängt bei der Wahl der Begrifflichkeiten an, deren Wirkungsmacht der Politiker Tharoor bestens kennt. Den Rückzug der Briten vom indischen Subkontinent 1947 bezeichnet er als den "original Brexit".
Als fortwirkende Last beschreibt Tharoor die ausgefeilten Exklusionsmechanismen des britischen Besatzungsregimes. Sie hätten nicht nur eine gespaltene, sondern eine regelrecht fragmentierte Gesellschaft hinterlassen. Die indisch-pakistanische Teilung sei nur das augenscheinlichste Resultat; hinzu kämen die unzähligen innerindischen Konflikte sowie die Politisierung des Konfliktes zwischen Schiiten und Sunniten in Pakistan.
Die Bücher von Judson und Tharoor geben einen Eindruck davon, wie vielgestaltig die neuerliche Beschäftigung mit der Geschichte großer Reiche ausfällt; und zeigen, dass daran, mal mehr und mal weniger deutlich, auch stets Fragen nach den Ordnungsprinzipien unserer heutigen Gesellschaften geknüpft sind. So wird Tharoors Buch in Großbritannien nicht zuletzt mit Blick auf die Frage erörtert, wie tragfähig das Konzept der von der Regierung ins Auge gefassten intensiveren Commonwealth-Anbindung des Landes in der Epoche nach dem Brexit überhaupt sein könne.
FLORIAN KEISINGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In den vergangenen drei Jahrzehnten führte der Trend in der Geschichtsschreibung von der - erneuten - Befassung mit dem Nationalstaat nach 1990 über transnational-europäische Fragestellungen in den frühen nuller Jahren bis hin zur Globalgeschichte. Das Allerneueste ist jetzt eine Wiederbefassung der Historiker mit der Geschichte großer Reiche. Überraschend ist das nicht, führt man sich vor Augen, dass die Zunft bei der Auswahl ihrer Themen traditionell nah am politischen Zeitgeist segelt und dass die Europäische Union selbst unübersehbare Züge eines (krisengeschüttelten) Imperiums aufweist.
So erinnert die Argumentation in der Geschichte des Habsburgerreiches des aus Utrecht gebürtigen, am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz lehrenden amerikanischen Historikers Pieter M. Judson ("Habsburg". Geschichte eines Imperiums 1740-1918. Verlag C. H. Beck, München 2017) streckenweise an den Europa-Diskurs seit der europäischen Finanz- und Staatsschuldenkrise. Nach der Lektüre bleibt der Eindruck haften, Europa könnte heute besser dastehen, würden nur die richtigen Lehren aus der Geschichte, genauer, der Geschichte des Habsburgerreiches gezogen: Pragmatismus, Toleranz gegenüber regionalen Eigenarten sowie die mit Nachdruck vorangetriebene Schaffung umfassend partizipativer Institutionen. Judson widerspricht der verbreiteten These, die Habsburgermonarchie sei an sich selbst zugrunde gegangen. Stattdessen betont er die integrative Kraft des Vielvölkerstaates, der bis 1914 über ein stabiles Fundament verfügt habe.
Im Zentrum der Analyse steht die Neubewertung des Zusammenwirkens von staatlicher Ordnung und multinationaler Gesellschaft. War man bisher gewöhnlich davon ausgegangen, dass es sich beim Habsburgerreich um eine Staatsgründung "von oben" handelte, so dreht Judson den Spieß um. Er beschreibt die Organisation des Reiches als erfolgreiche Integration "von unten". Große Teile der Bevölkerung seien unabhängig von Herkunft und nationaler Zugehörigkeit in die politischen und gesellschaftlichen Prozesse eingebunden worden. So habe sich auch in den entlegenen Regionen des Reiches ein Gefühl der Zugehörigkeit herausgebildet. Wenn es dennoch zu gelegentlichen Unmutsäußerungen in der Bevölkerung kam, waren diese meist gegen örtliche Repräsentanten der Zentralmacht gerichtet. Erst die gesamteuropäische Erschütterung des Ersten Weltkrieges setzte eine Dynamik in Gang, die das bewährte Zusammenspiel von Volk und staatlicher Gewalt schließlich zerstörte.
Der Metternich-Biograph Wolfram Siemann hat Judsons Abschied vom Topos des "Völkergefängnisses" als "Turnaround" gerühmt, der einen grundsätzlich neuen Blick auf multinationale Reiche eröffnet. Unter drei Bedingungen können sie ihr Integrationspotential realisieren: Erstens, die Institutionen funktionieren und werden von der Mehrzahl der Untertanen als gerecht empfunden; zweitens, die Untertanen werden in den Prozess der Reichsgründung eingebunden, so dass die gemeinsamen Erfahrungen schwerer wiegen als sprachliche oder konfessionelle Trennungen; drittens, die staatlichen Praktiken und Institutionen erweisen sich als derart flexibel, dass sie regionale Unterschiede nicht unnötig verschütten.
Kaum ein größerer Gegensatz ist denkbar als der zu Shashi Tharoors ebenfalls vor kurzem erschienener Studie zur britischen Herrschaft in Indien ("Inglorious Empire". What the British Did to India. Hurst Publishers, London 2017). Der Historiker und indische Parlamentsabgeordnete der Kongresspartei, der in England geboren und ausgebildet wurde und von 2002 bis 2007 stellvertretender UN-Generalsekretär war, liefert keine neuen Forschungsergebnisse, dafür aber kluge Perspektiven. Er nimmt die Argumente der liberalen realpolitischen Empire-Historiographie im Stil von Niall Ferguson auf, um sie mit einem postkolonialen Dreh zu versehen und mit Schwung in ihr Gegenteil zu verkehren. Geschickt verknüpft er Vergangenes und Gegenwärtiges. Das fängt bei der Wahl der Begrifflichkeiten an, deren Wirkungsmacht der Politiker Tharoor bestens kennt. Den Rückzug der Briten vom indischen Subkontinent 1947 bezeichnet er als den "original Brexit".
Als fortwirkende Last beschreibt Tharoor die ausgefeilten Exklusionsmechanismen des britischen Besatzungsregimes. Sie hätten nicht nur eine gespaltene, sondern eine regelrecht fragmentierte Gesellschaft hinterlassen. Die indisch-pakistanische Teilung sei nur das augenscheinlichste Resultat; hinzu kämen die unzähligen innerindischen Konflikte sowie die Politisierung des Konfliktes zwischen Schiiten und Sunniten in Pakistan.
Die Bücher von Judson und Tharoor geben einen Eindruck davon, wie vielgestaltig die neuerliche Beschäftigung mit der Geschichte großer Reiche ausfällt; und zeigen, dass daran, mal mehr und mal weniger deutlich, auch stets Fragen nach den Ordnungsprinzipien unserer heutigen Gesellschaften geknüpft sind. So wird Tharoors Buch in Großbritannien nicht zuletzt mit Blick auf die Frage erörtert, wie tragfähig das Konzept der von der Regierung ins Auge gefassten intensiveren Commonwealth-Anbindung des Landes in der Epoche nach dem Brexit überhaupt sein könne.
FLORIAN KEISINGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main