Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2019Nachwuchs nach Wunsch
Futurologisch: Jamie Metzl extrapoliert beherzt Entwicklungen der Genetik
Im Jahr 1929 erfuhren britische Leser von einem Autor mit tadellosem wissenschaftlichen Ruf, wie die Menschheit in der fernen Zukunft aussehen werde. Der junge irische Kristallograph, Molekularbiologe und Marxist John Desmond Bernal stellte in seinem Buch "The World, the Flesh, and the Devil" dar, wie vernünftig genutzte neue Technologien die moderne Gesellschaft auf bessere Wege führen könnten. Die "Welt" stand dabei für die begrenzten Ressourcen der Erde, und Bernal schlug vor, dass die Menschheit den Planeten verlassen und den Weltraum besiedeln sollte. Um in dieser Umwelt überleben zu können, müssten die biologischen Grenzen des "Fleisches", also des menschlichen Körpers, durch die Manipulation der Vererbung und mittels des Ersatzes von Organen und Geweben durch mechanische Teile überwunden werden. Der "Teufel" stand bei Bernal für die trügerischen Wünsche, Sehnsüchte und Anmaßungen des Menschen, welche die Verwirklichung dieser leuchtenden Zukunft gefährden.
Bernals Buch ist nur ein Beispiel dafür, wie in den zwanziger Jahren Wissenschaftler und Autoren wie Julian Huxley, der Genetiker J.B.S. Haldane oder H.G. Wells über eine neue Stufe menschlicher Existenz spekulierten, die auf einer Verschmelzung von Biologie und Technologie beruht. Der von Julian Huxley geprägte Begriff des "Transhumanismus" begleitet seither den Diskurs über die biologische Zukunft des Menschen.
Jamie Metzls Buch ist ein Beispiel für ein Genre von Büchern, welche die Versprechungen des Transhumanismus zelebrieren. Laut Metzl hat sich die Menschheit in ihrem Kampf um bessere Lebensverhältnisse bisher nur auf einen Pfeiler der Darwin'schen Theorie gestützt: die natürliche Selektion. Es werde Zeit, den anderen Pfeiler, die bisher zufällig eintretende genetische Variabilität, anzugehen. Zukünftige Technologien, die die Crispr/Cas-Methode ("Gen-Scheren") wie eine Steinzeittechnologie aussehen lassen werden, und Fortschritte bei der In-vitro-Befruchtung würden es der Menschheit erlauben, ihre eigene biologische Evolution in die Hand zu nehmen. Im Großen und Ganzen ist Metzls Darstellung der Geschichte der Genetik und ihres aktuellen Wissensstands korrekt - das Buch hat nicht den Anspruch, fundierte Wissenschaftsgeschichte zu sein -, selbst wenn der Autor durchgehend Schwierigkeiten mit dem Konzept der Erblichkeit in der Genetik hat. Wenn es um Metzls Zukunftsvision der Genetik geht, sollte der Leser allerdings skeptischer werden. Denn wie es sich für einen Futurologen gehört, kümmert sich Metzl wenig um die unschönen Details, sondern setzt auf oberflächlich plausibel scheinende Extrapolation. Die Identifikation der Gene, die für komplexe Merkmale wie etwa Körpergröße oder Intelligenz verantwortlich sind, sei zwar schwierig, aber mit Künstlicher Intelligenz, Deep Learning und Big Data werde das schon zu lösen sein, meint Metzl, womit Eltern dann eine Entscheidungsgrundlage für die Auswahl ihrer in vitro zu befruchtenden Eizellen haben.
Diese Prognose ist vorschnell: Molekularbiologen entwickeln fortwährend neue komplizierte - und in der Regel umstrittene - statistische Methoden, um die genetischen Ursachen der Streuung menschlicher Merkmale zu ergründen. Für solche wie Körpergröße, Intelligenz oder Schulerfolg finden Genetiker zahlreiche genetische Varianten mit kleinen Wirkungen. Und trotzdem kann diese genomweit erfasste Variabilität beim schulischen Erfolg bloß maximal zehn Prozent der Streuung des Merkmals erklären. Wenn es tatsächlich eine kleine Anzahl von Genen gäbe, die einen großen Einfluss auf Körpergröße oder Intelligenz haben, hätte man diese wohl schon gefunden. Der Fortschritt in der Genetik geht aber in eine andere Richtung: Er verstärkt Multikausalität und die Interdependenz von genetischen und nichtgenetischen Faktoren.
Was Metzl zur Regulierung der Risiken schreibt, die mit den zukünftigen biotechnologischen Möglichkeiten einhergehen sollten, ist wenig kontrovers, allerdings auch wenig konkret. Er streift zumindest das Thema des Zugangs zu den genetischen Technologien. Doch bei allen Lippenbekenntnissen zu Technologietransfers oder der Beschwörung ständig sinkender Kosten: Realistischer dürfte die Annahme sein, dass für mehr als 99 Prozent der Menschheit diese biologischen Gestaltungsmöglichkeiten unerreichbar bleiben werden.
Zukunftsvisionen sind häufig unterhaltsam, und das gilt auch für das Buch von Metzl, der bereits zwei Science-Fiction-Romane veröffentlicht hat. Vielleicht ist es angezeigt, auch das vorliegende Buch wie eines des Sci-Fi-Genres zu verstehen, also seine Vorhersagen vor allem als Anlass zum Nachdenken darüber zu nehmen, welche Zukunft wir wollen und welche nicht und wie individuelle und kollektive Entscheidungen zur Gestaltung der Zukunft beitragen.
THOMAS WEBER
Jamie Metzl: "Hacking
Darwin". Genetic
Engineering and the Future of Humanity.
Sourcebooks, Naperville / New York / Milford 2019. 352 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Futurologisch: Jamie Metzl extrapoliert beherzt Entwicklungen der Genetik
Im Jahr 1929 erfuhren britische Leser von einem Autor mit tadellosem wissenschaftlichen Ruf, wie die Menschheit in der fernen Zukunft aussehen werde. Der junge irische Kristallograph, Molekularbiologe und Marxist John Desmond Bernal stellte in seinem Buch "The World, the Flesh, and the Devil" dar, wie vernünftig genutzte neue Technologien die moderne Gesellschaft auf bessere Wege führen könnten. Die "Welt" stand dabei für die begrenzten Ressourcen der Erde, und Bernal schlug vor, dass die Menschheit den Planeten verlassen und den Weltraum besiedeln sollte. Um in dieser Umwelt überleben zu können, müssten die biologischen Grenzen des "Fleisches", also des menschlichen Körpers, durch die Manipulation der Vererbung und mittels des Ersatzes von Organen und Geweben durch mechanische Teile überwunden werden. Der "Teufel" stand bei Bernal für die trügerischen Wünsche, Sehnsüchte und Anmaßungen des Menschen, welche die Verwirklichung dieser leuchtenden Zukunft gefährden.
Bernals Buch ist nur ein Beispiel dafür, wie in den zwanziger Jahren Wissenschaftler und Autoren wie Julian Huxley, der Genetiker J.B.S. Haldane oder H.G. Wells über eine neue Stufe menschlicher Existenz spekulierten, die auf einer Verschmelzung von Biologie und Technologie beruht. Der von Julian Huxley geprägte Begriff des "Transhumanismus" begleitet seither den Diskurs über die biologische Zukunft des Menschen.
Jamie Metzls Buch ist ein Beispiel für ein Genre von Büchern, welche die Versprechungen des Transhumanismus zelebrieren. Laut Metzl hat sich die Menschheit in ihrem Kampf um bessere Lebensverhältnisse bisher nur auf einen Pfeiler der Darwin'schen Theorie gestützt: die natürliche Selektion. Es werde Zeit, den anderen Pfeiler, die bisher zufällig eintretende genetische Variabilität, anzugehen. Zukünftige Technologien, die die Crispr/Cas-Methode ("Gen-Scheren") wie eine Steinzeittechnologie aussehen lassen werden, und Fortschritte bei der In-vitro-Befruchtung würden es der Menschheit erlauben, ihre eigene biologische Evolution in die Hand zu nehmen. Im Großen und Ganzen ist Metzls Darstellung der Geschichte der Genetik und ihres aktuellen Wissensstands korrekt - das Buch hat nicht den Anspruch, fundierte Wissenschaftsgeschichte zu sein -, selbst wenn der Autor durchgehend Schwierigkeiten mit dem Konzept der Erblichkeit in der Genetik hat. Wenn es um Metzls Zukunftsvision der Genetik geht, sollte der Leser allerdings skeptischer werden. Denn wie es sich für einen Futurologen gehört, kümmert sich Metzl wenig um die unschönen Details, sondern setzt auf oberflächlich plausibel scheinende Extrapolation. Die Identifikation der Gene, die für komplexe Merkmale wie etwa Körpergröße oder Intelligenz verantwortlich sind, sei zwar schwierig, aber mit Künstlicher Intelligenz, Deep Learning und Big Data werde das schon zu lösen sein, meint Metzl, womit Eltern dann eine Entscheidungsgrundlage für die Auswahl ihrer in vitro zu befruchtenden Eizellen haben.
Diese Prognose ist vorschnell: Molekularbiologen entwickeln fortwährend neue komplizierte - und in der Regel umstrittene - statistische Methoden, um die genetischen Ursachen der Streuung menschlicher Merkmale zu ergründen. Für solche wie Körpergröße, Intelligenz oder Schulerfolg finden Genetiker zahlreiche genetische Varianten mit kleinen Wirkungen. Und trotzdem kann diese genomweit erfasste Variabilität beim schulischen Erfolg bloß maximal zehn Prozent der Streuung des Merkmals erklären. Wenn es tatsächlich eine kleine Anzahl von Genen gäbe, die einen großen Einfluss auf Körpergröße oder Intelligenz haben, hätte man diese wohl schon gefunden. Der Fortschritt in der Genetik geht aber in eine andere Richtung: Er verstärkt Multikausalität und die Interdependenz von genetischen und nichtgenetischen Faktoren.
Was Metzl zur Regulierung der Risiken schreibt, die mit den zukünftigen biotechnologischen Möglichkeiten einhergehen sollten, ist wenig kontrovers, allerdings auch wenig konkret. Er streift zumindest das Thema des Zugangs zu den genetischen Technologien. Doch bei allen Lippenbekenntnissen zu Technologietransfers oder der Beschwörung ständig sinkender Kosten: Realistischer dürfte die Annahme sein, dass für mehr als 99 Prozent der Menschheit diese biologischen Gestaltungsmöglichkeiten unerreichbar bleiben werden.
Zukunftsvisionen sind häufig unterhaltsam, und das gilt auch für das Buch von Metzl, der bereits zwei Science-Fiction-Romane veröffentlicht hat. Vielleicht ist es angezeigt, auch das vorliegende Buch wie eines des Sci-Fi-Genres zu verstehen, also seine Vorhersagen vor allem als Anlass zum Nachdenken darüber zu nehmen, welche Zukunft wir wollen und welche nicht und wie individuelle und kollektive Entscheidungen zur Gestaltung der Zukunft beitragen.
THOMAS WEBER
Jamie Metzl: "Hacking
Darwin". Genetic
Engineering and the Future of Humanity.
Sourcebooks, Naperville / New York / Milford 2019. 352 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main