Leo N. Tolstoi: Hadschi Murat. Der Held des KaukasusLesefreundlicher Großdruck in 16-pt-SchriftGroßformat, 210 x 297 mmBerliner Ausgabe, 2023Durchgesehener Neusatz mit einer Biografie des Autors bearbeitet und eingerichtet von Theodor BorkenEntstanden 1896-1904. Posthum veröffentlicht 1912. Hier in der Übersetzung von August Scholz.Umschlagabbildung: Eugene Lanceray, Hadschi Murat, 1915Gesetzt aus der Minion Pro, 16 pt.Henricus - Edition Deutsche Klassik GmbHÜber den Autor:1828 als viertes von fünf Kindern einer russischen Adelsfamilie auf deren Landgut Jasnaja Poljana bei Tula geboren, studiert Lew Nikolajewitsch Tolstoi in Kasan orientalische Sprachen und Jura, um 1847 auf das ererbte Stammgut seiner Familie zurückzukehren. Als Fähnrich der zaristischen Armee nimmt er am Krieg im Kaukasus und später am Krimkrieg teil. Die realistischen Schilderungen seiner Militärerfahrungen machen ihn schon als jungen Mann zu einem bekannten Schriftsteller. Er richtet reformpädagogische Dorfschulen nach dem Vorbild Rousseaus ein und schreibt zahlreiche Schulbücher, darunter sein 1872 erschienenes »Alphabet«, das bis in die 1920er Jahre in russischen Grundschulen zum Einsatz kommt. Seine großen Romane »Krieg und Frieden« (1869) und »Anna Karenina« (1878) machen ihn bereits zu Lebzeiten zu einem weltberühmten Autor. Die sozialen Missstände des Zarenreichs verurteilt er entschieden, allerdings lehnt er die Diktatur des Proletariats ebenso ab und empfindet die »theoretische Widersprüchlichkeit« der Kirche als »schädliche Lüge«, was ihm polizeiliche Drangsalien und 1901 die Exkommunikation einbringt. Vielmehr verfolgt er einen religiös inspirierten Anarchismus, der auf Gewaltlosigkeit und bedingungsloser Nächstenliebe basiert. Am 20. November 1910 stirbt Lew N. Tolstoi auf einer Reise in einem offenen Zug an einer Lungenentzündung. Seine Tochter Alexandra verdient als Alleinerbin seines literarischen Nachlasses eine erhebliche Summe mit dem Verkauf der Rechte. Mit dem Geld kauft sie der Mutter und Witwe das Landgut Jasnaja Poljana ab und übergibt dem Wunsche des Vaters entsprechend das Land den ehemals leibeigenen Bauern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.1995Tolstoi in Grosnyj
Rußlands Krieg im Kaukasus und die Kriegserinnerungen des russischen Dichters
So wie heute Jelzin und Dudajew, so standen sich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Zar Nikolai und der Tschetschenenfürst Schamil gegenüber. Damals wie heute wurde der tschetschenische Aufstand mit brutaler Gewalt niedergeknüppelt. "La Pologne et le Caucase, ce sont les deux cautères de la Russie" (Polen und der Kaukasus, das sind die beiden offenen Wunden Rußlands) - diese Bemerkung flicht Tolstoi in ein Gespräch an der Tafel des Zaren ein.
Tolstoi hat den kaukasischen Konflikt zum Gegenstand einer großen Erzählung gemacht: "Hadschi Murat". Er hat dem Zaren nicht seinen ebenso autokratischen Gegenspieler Schamil gegenübergestellt, sondern eine Figur, die sich wiederum in Antagonismus zu Schamil befand, Hadschi Murat, einen muridischen Stammesführer. Hadschi Murat haßte die Russen genauso wie sein Feind Schamil, lief aber zu ihnen über, weil sich Schamil im Rahmen einer Blutfehde seiner Frauen und Kinder bemächtigt hatte. Das geschah 1859, in der Zeit, als Tolstoi russischer Soldat an der Kaukasusfront war; die Nachricht von dem Übertritt Hadschi Murats bewegte damals alle Gemüter. 1904, bei dem Anblick einer vom Pflug halbzerfetzten, aber weiterlebenden Distel, kam der Vorfall Tolstoi wieder in Erinnerung.
Obwohl sich Hadschi Murat während des größten Teils der Erzählung auf russischer Seite befindet, gewinnt Tolstoi in ihm den reineren Gegenpol zum russischen Imperialismus, denn anders als Schamil, der nach Tolstois Worten dem westlichen einen asiatischen Despotismus entegenhält, vertritt Hadschi Murat das Prinzip des Partikularen: die durch Verwandtschaft zusammengehaltene, kleine, aber unabhängige, traditionelle gemeinschaftliche Lebensform.
Man wird zu Tolstois Erzählung nicht greifen, ohne sich von dem großen Moralisten eine Orientierung zu erhoffen: Auf welche Seite soll man sich innerlich stellen? Mit Recht geht man davon aus, daß Tolstoi, obwohl er selbst als junger Soldat an den Kämpfen teilgenommen hat, nicht die Partei des russischen Imperialismus einnimmt. Und tatsächlich gibt Tolstoi ein abstoßendes Bild von den Umständen, unter denen der Zar die Entscheidung trifft, Tschetschenien zu verwüsten: Zar Nikolai tritt als eitler, hauptsächlich erotisch motivierter Greis in Erscheinung, der von einem korrupten System getragen und dumm gehalten wird. Er ist unfähig, sich von der Tragweite seiner Anordnung einen Begriff zu machen.
So realistisch-sarkastisch, wie Tolstoi die russische Machtzentrale und ihren Unterbau darstellt, so wenig erweckt er andererseits Illusionen über das moralische Niveau der muslimischen Gegenseite. Zu Unrecht wird ihm in dem Nachwort meiner DDR-Ausgabe aus dem Jahre 1963 vorgeworfen, er nehme Partei für das Ländlich-Unentwickelte und stelle sich gegen das Zentralisierte, Bürokratisierte, Technisierte. Wie alle diese Kommentare ist der Vorwurf Ausdruck der offiziellen marxistisch-leninistischen Ideologie (und wie alle diese Kommentare hat er daneben hohe Qualitäten); er ist außerdem unberechtigt. Tolstoi schildert lediglich das dörfliche Leben in den muslimischen Aulen so genau, daß die Schönheit und Würde dieser einfachen, aber hochkultivierten Lebensform dem Leser zu einem unvergeßlichen Eindruck wird.
Die Erzählung enthält einen tragischen Unterton, der schon einleitend in der Beschreibung der durch den Pflug zerfetzten, aber zäh weiterlebenden Distel anklingt: das Vielfältige, Bunte, Partikulare wird unaufhaltsam Opfer der einebnenden, homogenisierenden Kräfte der Moderne. Es kann diesen Kräften aber auch deshalb nicht widerstehen, weil es ihnen keine moralische Überlegenheit entgegenzusetzen hat. Moralischer ist zwar das Familienleben und der Zusammenhalt des Stammes, aber an dieser Grenze endet die Sittlichkeit auch schon. Dahinter beginnt ungezügelte Grausamkeit; auch bei dem romantischen Helden der Geschichte ist der Wunsch vorherrschend, "so viele dieser russischen Hunde wie nur irgend möglich zu erschießen oder niederzustechen".
Tolstois liebevolle Darstellung der muslimischen Welt ist nicht Ausdruck einer politischen Parteinahme; mit derselben Wärme wird das Kriegerleben der Russen geschildert - auch dort hat Tolstois sinnenfreudiges Auge Schönheit gesehen. Er scheut sich, so sehr er Pazifist ist, doch nicht, begeisternd von der hochgesteigerten Lebensintensität vor dem Kampf zu sprechen und von dem schönen Klang des ersten Schusses. Er läßt (in autobiographischen Zügen) den jungen Offizier Butler den Krieg als die herrliche Befreiung aus verqualmten Petersburger Klubräumen erleben, in denen er seine Spielschulden zurückläßt. "Butler, der ganz in den Anblick der Landschaft versunken war und in vollen Zügen die frische Luft einatmete, freute sich darüber, daß er, gerade er, lebte, und dazu auf diesem schönen Fleckchen Erde", heißt es anläßlich eines Ausritts, dessen Zweck die Zerstörung des tschetschenischen Aules ist, den der Leser so liebgewonnen hat.
Ihm wird zugemutet, gerade noch den Gram der tschetschenischen Mutter zu teilen, die den Leichnam ihres Sohnes vorfindet, eines dem Leser wohlbekannten fünfzehnjährigen Jungen (mit schwarzen, wie reife Johannisbeeren glänzenden Augen) - und sich schon auf der nächsten Seite wieder mit dem reizenden, edeldenkenden Kompanieführer, der den Einsatz geleitet hat, zu identifizieren.
In der wertfreien Verehrung der Lebenskraft, für die die Distel symbolisch steht, könnte man eine Zeiterscheinung der Jahrhundertwende vermuten: die Bewunderung des élan vital, der man sich damals unter Bergsons und Nietzsches Führung hingab. Aber davon ist Tolstoi natürlich weit entfernt. Er bringt es fertig, das, was in unseren Köpfen so unvereinbar miteinander rivalisiert: die universale, humanistische Ethik, die den Kampf und das Töten ablehnt, und den Sinn für das Gesunde und Lebenskräftige, für das Parteilich-Partikulare, das jenseits von Gut und Böse steht, so zusammenzuführen, daß man das Buch mit einem einheitlichen Gefühl aus der Hand legt.
An einer Stelle allerdings läßt Tolstoi eine Frau die kurzen, entscheidenden Worte sagen, die seine Botschaft sind: ,"Was haben Sie, Marja Dmitrijewna?" fragte Butler. "Ihr seid allesamt Mörder. Ich kann das nicht ertragen. Richtige Mörder seid ihr", sagte sie und stand auf. "Das gleiche kann jedem widerfahren", wandte Butler ein, der nicht recht wußte, was er sagen sollte. "Das ist eben Krieg." "Ach was - Krieg!" fuhr ihn Marja Dmitrijewna an. "Was ist denn das für ein Krieg? Ein Hinmorden ist das, nichts weiter!"' SIBYLLE TÖNNIES
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rußlands Krieg im Kaukasus und die Kriegserinnerungen des russischen Dichters
So wie heute Jelzin und Dudajew, so standen sich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Zar Nikolai und der Tschetschenenfürst Schamil gegenüber. Damals wie heute wurde der tschetschenische Aufstand mit brutaler Gewalt niedergeknüppelt. "La Pologne et le Caucase, ce sont les deux cautères de la Russie" (Polen und der Kaukasus, das sind die beiden offenen Wunden Rußlands) - diese Bemerkung flicht Tolstoi in ein Gespräch an der Tafel des Zaren ein.
Tolstoi hat den kaukasischen Konflikt zum Gegenstand einer großen Erzählung gemacht: "Hadschi Murat". Er hat dem Zaren nicht seinen ebenso autokratischen Gegenspieler Schamil gegenübergestellt, sondern eine Figur, die sich wiederum in Antagonismus zu Schamil befand, Hadschi Murat, einen muridischen Stammesführer. Hadschi Murat haßte die Russen genauso wie sein Feind Schamil, lief aber zu ihnen über, weil sich Schamil im Rahmen einer Blutfehde seiner Frauen und Kinder bemächtigt hatte. Das geschah 1859, in der Zeit, als Tolstoi russischer Soldat an der Kaukasusfront war; die Nachricht von dem Übertritt Hadschi Murats bewegte damals alle Gemüter. 1904, bei dem Anblick einer vom Pflug halbzerfetzten, aber weiterlebenden Distel, kam der Vorfall Tolstoi wieder in Erinnerung.
Obwohl sich Hadschi Murat während des größten Teils der Erzählung auf russischer Seite befindet, gewinnt Tolstoi in ihm den reineren Gegenpol zum russischen Imperialismus, denn anders als Schamil, der nach Tolstois Worten dem westlichen einen asiatischen Despotismus entegenhält, vertritt Hadschi Murat das Prinzip des Partikularen: die durch Verwandtschaft zusammengehaltene, kleine, aber unabhängige, traditionelle gemeinschaftliche Lebensform.
Man wird zu Tolstois Erzählung nicht greifen, ohne sich von dem großen Moralisten eine Orientierung zu erhoffen: Auf welche Seite soll man sich innerlich stellen? Mit Recht geht man davon aus, daß Tolstoi, obwohl er selbst als junger Soldat an den Kämpfen teilgenommen hat, nicht die Partei des russischen Imperialismus einnimmt. Und tatsächlich gibt Tolstoi ein abstoßendes Bild von den Umständen, unter denen der Zar die Entscheidung trifft, Tschetschenien zu verwüsten: Zar Nikolai tritt als eitler, hauptsächlich erotisch motivierter Greis in Erscheinung, der von einem korrupten System getragen und dumm gehalten wird. Er ist unfähig, sich von der Tragweite seiner Anordnung einen Begriff zu machen.
So realistisch-sarkastisch, wie Tolstoi die russische Machtzentrale und ihren Unterbau darstellt, so wenig erweckt er andererseits Illusionen über das moralische Niveau der muslimischen Gegenseite. Zu Unrecht wird ihm in dem Nachwort meiner DDR-Ausgabe aus dem Jahre 1963 vorgeworfen, er nehme Partei für das Ländlich-Unentwickelte und stelle sich gegen das Zentralisierte, Bürokratisierte, Technisierte. Wie alle diese Kommentare ist der Vorwurf Ausdruck der offiziellen marxistisch-leninistischen Ideologie (und wie alle diese Kommentare hat er daneben hohe Qualitäten); er ist außerdem unberechtigt. Tolstoi schildert lediglich das dörfliche Leben in den muslimischen Aulen so genau, daß die Schönheit und Würde dieser einfachen, aber hochkultivierten Lebensform dem Leser zu einem unvergeßlichen Eindruck wird.
Die Erzählung enthält einen tragischen Unterton, der schon einleitend in der Beschreibung der durch den Pflug zerfetzten, aber zäh weiterlebenden Distel anklingt: das Vielfältige, Bunte, Partikulare wird unaufhaltsam Opfer der einebnenden, homogenisierenden Kräfte der Moderne. Es kann diesen Kräften aber auch deshalb nicht widerstehen, weil es ihnen keine moralische Überlegenheit entgegenzusetzen hat. Moralischer ist zwar das Familienleben und der Zusammenhalt des Stammes, aber an dieser Grenze endet die Sittlichkeit auch schon. Dahinter beginnt ungezügelte Grausamkeit; auch bei dem romantischen Helden der Geschichte ist der Wunsch vorherrschend, "so viele dieser russischen Hunde wie nur irgend möglich zu erschießen oder niederzustechen".
Tolstois liebevolle Darstellung der muslimischen Welt ist nicht Ausdruck einer politischen Parteinahme; mit derselben Wärme wird das Kriegerleben der Russen geschildert - auch dort hat Tolstois sinnenfreudiges Auge Schönheit gesehen. Er scheut sich, so sehr er Pazifist ist, doch nicht, begeisternd von der hochgesteigerten Lebensintensität vor dem Kampf zu sprechen und von dem schönen Klang des ersten Schusses. Er läßt (in autobiographischen Zügen) den jungen Offizier Butler den Krieg als die herrliche Befreiung aus verqualmten Petersburger Klubräumen erleben, in denen er seine Spielschulden zurückläßt. "Butler, der ganz in den Anblick der Landschaft versunken war und in vollen Zügen die frische Luft einatmete, freute sich darüber, daß er, gerade er, lebte, und dazu auf diesem schönen Fleckchen Erde", heißt es anläßlich eines Ausritts, dessen Zweck die Zerstörung des tschetschenischen Aules ist, den der Leser so liebgewonnen hat.
Ihm wird zugemutet, gerade noch den Gram der tschetschenischen Mutter zu teilen, die den Leichnam ihres Sohnes vorfindet, eines dem Leser wohlbekannten fünfzehnjährigen Jungen (mit schwarzen, wie reife Johannisbeeren glänzenden Augen) - und sich schon auf der nächsten Seite wieder mit dem reizenden, edeldenkenden Kompanieführer, der den Einsatz geleitet hat, zu identifizieren.
In der wertfreien Verehrung der Lebenskraft, für die die Distel symbolisch steht, könnte man eine Zeiterscheinung der Jahrhundertwende vermuten: die Bewunderung des élan vital, der man sich damals unter Bergsons und Nietzsches Führung hingab. Aber davon ist Tolstoi natürlich weit entfernt. Er bringt es fertig, das, was in unseren Köpfen so unvereinbar miteinander rivalisiert: die universale, humanistische Ethik, die den Kampf und das Töten ablehnt, und den Sinn für das Gesunde und Lebenskräftige, für das Parteilich-Partikulare, das jenseits von Gut und Böse steht, so zusammenzuführen, daß man das Buch mit einem einheitlichen Gefühl aus der Hand legt.
An einer Stelle allerdings läßt Tolstoi eine Frau die kurzen, entscheidenden Worte sagen, die seine Botschaft sind: ,"Was haben Sie, Marja Dmitrijewna?" fragte Butler. "Ihr seid allesamt Mörder. Ich kann das nicht ertragen. Richtige Mörder seid ihr", sagte sie und stand auf. "Das gleiche kann jedem widerfahren", wandte Butler ein, der nicht recht wußte, was er sagen sollte. "Das ist eben Krieg." "Ach was - Krieg!" fuhr ihn Marja Dmitrijewna an. "Was ist denn das für ein Krieg? Ein Hinmorden ist das, nichts weiter!"' SIBYLLE TÖNNIES
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