Ob Lehrer oder Demagogen, Revolutionäre oder Terroristen, Kulturkämpfer oder ganz normale Selfie-Versender - sie alle eint die Hoffnung auf die Kraft der Bilder. Niemand muss nachdenken, wenn er es nicht will. Nur weil jeder Vernunft hat, steht es uns doch frei, ihr nicht zu folgen. Wer wirken will, setzt darum lieber auf die Sinne. Wer etwas ändern will, muss Zeichen setzen.
Das Vertrauen in die Bildgewalt ist das Vertrauen auf die Unschuld des Sehens. Ein Bild soll leisten, was Gedanken nicht schaffen: die unmittelbare Erkenntnis. Bilderwelten können zusammenfügen, was kein Denken stiften kann: die Identität einer Gemeinschaft, das Wir. Denn hatte jemals eine Idee dieselbe Wirkung auf die Menschen wie Ideale? Konnte Vernunft je etwas ausrichten gegen Tradition und Kultur?
Die Philosophin Bettina Stangneth, die hiermit den letzten Band ihrer Trilogie über das dialogische Denken vorlegt, fordert erneut dazu auf, liebgewordene Vorstellungen zu überprüfen. «Hässliches Sehen» ist ein Essay zur Frage, was eigentlich Sehen heißt.
Das Vertrauen in die Bildgewalt ist das Vertrauen auf die Unschuld des Sehens. Ein Bild soll leisten, was Gedanken nicht schaffen: die unmittelbare Erkenntnis. Bilderwelten können zusammenfügen, was kein Denken stiften kann: die Identität einer Gemeinschaft, das Wir. Denn hatte jemals eine Idee dieselbe Wirkung auf die Menschen wie Ideale? Konnte Vernunft je etwas ausrichten gegen Tradition und Kultur?
Die Philosophin Bettina Stangneth, die hiermit den letzten Band ihrer Trilogie über das dialogische Denken vorlegt, fordert erneut dazu auf, liebgewordene Vorstellungen zu überprüfen. «Hässliches Sehen» ist ein Essay zur Frage, was eigentlich Sehen heißt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.04.2019Auf die Dauer ist es ziemlich langweilig, vernünftig zu sein
Mit ihrem Essay „Hässliches Sehen“ erprobt Bettina Stangneth eine Haltung gespannter Gelassenheit
Für Bettina Stangneths Buch „Hässliches Sehen“ könnte die Weisheit stehen, die dem Schriftsteller George Bernhard Shaw zugeschrieben wird: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, nicht mit schlechten.“ Genau diese etwas schmerzhafte Differenz, die Kontrollverlust und Unsicherheit suggeriert, formuliert die Philosophin in ihrem neuen Buch in immer neuen Variationen: Das, was wir glauben zu tun, und das, was wir tatsächlich tun, ist sehr oft nicht dasselbe. Dabei dreht und wendet sie das, was wir für unseren Alltag und das Selbstverständliche darin halten, betrachtet die Rückseiten und blinden Flecken und stellt mehr als einmal fest: Irgendwas stimmt hier nicht.
Bettina Stangneth vertritt philosophisch eine radikal aufklärerische Haltung. Das ist nicht leicht in einer Zeit, in der diese Aufklärung fast ebenso vergessen ist wie ihre Dialektik, durch die sie zum gnadenlosen Motor kultureller Instrumentalisierung werden kann. So hat es etwas Idealistisches, wenn die Autorin ganz am Ende ihres Buches, im vorletzten Absatz schreibt: „Das, was unsere Kultur bedroht, ist unsere Weigerung, die Verantwortung für uns selber zu übernehmen. Seit über 250 Jahren liegt das Programm auf dem Tisch. Niemand kann sagen, er hätte davon nichts gewusst.“ Wer ein solches, durchaus sympathisches Sendungsbewusstsein vertritt, muss die Sache mit der Aufklärung klug angehen, um ihrer Dialektik zu entgehen.
Das gelingt Stangneth auf intellektuell zugleich unaufgeregte und anregende Weise. Ihr Buch kommt in einem fast beiläufigen Plauderton daher und schneidet mal dieses, mal jenes Thema an. Auf diese Weise neigt man als Leser dazu, bei fünf Sätzen vier Mal zu nicken, um beim fünften Satz zu erkennen, dass es da ein Problem gibt. Dabei werden durchaus gewichtige Fragen behandelt: Wie kann gutes Handeln und Denken weitergegeben werden? Welche Rolle kann dabei das Bildhafte, das scheinbar Unmittelbare spielen? Immer wieder wird die Unverständlichkeit der Philosophie beklagt – gibt es also eine Abkürzung zur Ethik über die Ästhetik?
„Hässliches Sehen“ ist der dritte Teil einer Trilogie, gemeinsam mit „Böses Denken“ und „Lügen lesen“ aus den Jahren 2016 und 2017. Allen drei Bänden ist der eher programmatische Titel gemeinsam, unter dem die Autorin ihre Gedanken in die Form eines Essays bringt. Man hat den Eindruck eines philosophischen Selbstgesprächs, und so sieht es Stangneth tatsächlich, die in einem Interview feststellte, dass sie nicht für den Leser oder die Leserin, sondern für sich selbst schreibt, um einen Bezug zum eigenen Gedanken herzustellen, einem Gedanken, der kritische Distanz und interesseloses Wohlgefallen miteinander verbinden kann. „Ich schreibe, um herauszufinden, ob ich meine eigenen Argumente mag.“ Dass das nicht in einer esoterischen, in sich zirkelnden Selbstklärung vonstattengehen muss, wie oft in der Philosophie, sondern in einem interessanten und stellenweise sogar witzigen Dialog der Autorin mit sich selbst und dem Leser, zeigen alle drei Bände.
In „Hässliches Sehen“ geht Stangneth von einem durchaus realistischen Blick auf die menschliche Vernunft aus. Es sei, schreibt sie, „auf Dauer ziemlich langweilig (…), vernünftig zu sein. Es macht keinen Spaß, ist nicht verwegen (…), provoziert nur selten“, aber vor allem fühlt es sich „nicht nach dem großen Abenteuer an, über das sich Bücher schreiben lassen“.
Vernunft ist möglich, aber Menschen wollen mehr als das. Deswegen neigen sie dazu, die Vernunft gering zu schätzen, die sie mit allen anderen Menschen verbindet. Das ist aber zum Scheitern verurteilt, denn was auch immer wir tun, selbst wenn wir die Vernunft als bloße Illusion darlegen und beste Argumente finden, warum wir nur biologische Maschinen sind: das Darlegen und Argumentieren, die Biologie und die Scheidung von Realität und Illusion zeigen stets zurück auf die Vernunft, die bei allem dabei ist.
Unverkennbar ist dieses Faktum der Vernunft, wie Stangneths Überlegungen insgesamt, durch eine genaue Kenntnis der Philosophie Immanuel Kants informiert. „Hässliches Sehen“ ist damit auch eine Aktualisierung kantischer Gedankengänge, die einmal mehr beweist, wie anschlussfähig diese heute noch sind. Dabei geht es weniger um den doktrinären Gehalt der kantischen Überlegungen, sondern mehr darum, die fragende Haltung der kritischen Philosophie einzuüben. Ein Beispiel dafür ist die Leitfrage des Buches, die alle Kapitel durchzieht und so miteinander verbindet: Darf ich jemanden dazu zwingen, seine Vernunft zu gebrauchen? Kann man Menschen dazu manipulieren, diesen Gebrauch einzuüben? Oder geht dieser Versuch nach hinten los?
Wer auf Hässliches verweist, das Böse in so erschreckenden wie eindrucksvollen Bildern malt, könnte im Sinn haben, dadurch das Gute zu lehren. Aber verkürzen solche Darstellungen nicht genau das, worum es im Denken eigentlich geht? Und verfehlen sie damit nicht genau das, worum es ihnen eigentlich geht?
Immer wieder begegnet dem Leser dabei die Antinomie von gutem Willen und schlechtem Ausgang. Wir suchen den Fortschritt, fürchten uns dann aber vor der Veränderung, die er bringt: „Bemerken wir wirklich nicht, dass wir die gesellschaftsverändernde Kraft einer Erfindung fürchten, die wir auch darum erfanden, weil wir die Gesellschaft nicht so lassen wollen, wie sie ist?“ Wir versuchen, mit Hilfe der Technik die Probleme zu lösen, die sich aus der Struktur dieses Handelns ergeben, und gestalten die technologischen Lösungen doch nach unserem Bild: „Wenn wir doch die Technik nach unserem Bilde entwerfen (…) – was berechtigt uns dann zu der Hoffnung, mit Hilfe dieser Werkzeuge die Probleme unserer Struktur zu lösen?“
Es sind diese immer neu aufgeworfenen Widersprüche, die die Lektüre von „Hässliches Sehen“ anregend machen. Wie in einer Art Ethnologie der eigenen Kultur, die erst den Schritt zu ihrer Verfremdung gehen muss, wundert sich Stangneth gemeinsam mit dem Leser über manche Ausweglosigkeit, in die wir uns selbst hineinmanövriert haben. Dabei geht dieses Sich-Wundern, dieses Staunen im besten Sinne philosophisch vonstatten: nicht als Spott oder Belehrung von oben, sondern aus der Perspektive einer Teilnehmerin, die beständig „Wir“ sagt und sich damit einschließt.
Auch thematisch ist „Hässliches Sehen“ hoch anschlussfähig, kommen doch die Algorithmen der sozialen Netzwerke ebenso zur Sprache wie das „Social Credit System“, das gerade in China installiert wird. Doch auch hier werden diese Entwicklungen nicht düster an die Wand gemalt, sondern Stangneth betrachtet ihre Rückseite, die Bedingungen und blinden Flecke dieser Kontrollsysteme. Was dann noch bleibt, ist eine Form gespannter Gelassenheit, die aufmerksam hinsieht, aber sich nicht selbst irre macht, weil sie immer noch die Freiheit des Menschen und seine Vernunft als Ausweg sehen kann.
So ist „Hässliches Sehen“ im besten Sinne ein philosophischer Essay, in dem am Leitfaden einer übergeordneten Frage das Grundsätzliche zur Sprache kommt. Dabei gelingt es in jedem Kapitel, dieses Grundsätzliche mit anschaulichen Beispielen und einer gehörigen Portion Witz aus immer neuen Perspektiven zur Sprache zu bringen. Ob das Faktum der Vernunft oder der Zusammenhang zwischen Gewissen und Gottesvorstellung oder das Phantasma vollkommener Transparenz – nach der Lektüre wird man durch die Welt weniger erschreckt. Und hat zugleich gelernt, stets wachsam zu bleiben. Das ist eine Lektion in gespannter Gelassenheit und damit einer Haltung, die heute vielleicht mehr denn je benötigt wird.
DANIEL-PASCAL ZORN
Wir suchen den Fortschritt,
fürchten uns dann aber vor
der Veränderung, die er bringt
Nach der Lektüre wird man
durch die Welt
weniger erschreckt
Bettina Stangneth: Hässliches Sehen. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019. 160 Seiten, 20 Euro.
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Mit ihrem Essay „Hässliches Sehen“ erprobt Bettina Stangneth eine Haltung gespannter Gelassenheit
Für Bettina Stangneths Buch „Hässliches Sehen“ könnte die Weisheit stehen, die dem Schriftsteller George Bernhard Shaw zugeschrieben wird: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, nicht mit schlechten.“ Genau diese etwas schmerzhafte Differenz, die Kontrollverlust und Unsicherheit suggeriert, formuliert die Philosophin in ihrem neuen Buch in immer neuen Variationen: Das, was wir glauben zu tun, und das, was wir tatsächlich tun, ist sehr oft nicht dasselbe. Dabei dreht und wendet sie das, was wir für unseren Alltag und das Selbstverständliche darin halten, betrachtet die Rückseiten und blinden Flecken und stellt mehr als einmal fest: Irgendwas stimmt hier nicht.
Bettina Stangneth vertritt philosophisch eine radikal aufklärerische Haltung. Das ist nicht leicht in einer Zeit, in der diese Aufklärung fast ebenso vergessen ist wie ihre Dialektik, durch die sie zum gnadenlosen Motor kultureller Instrumentalisierung werden kann. So hat es etwas Idealistisches, wenn die Autorin ganz am Ende ihres Buches, im vorletzten Absatz schreibt: „Das, was unsere Kultur bedroht, ist unsere Weigerung, die Verantwortung für uns selber zu übernehmen. Seit über 250 Jahren liegt das Programm auf dem Tisch. Niemand kann sagen, er hätte davon nichts gewusst.“ Wer ein solches, durchaus sympathisches Sendungsbewusstsein vertritt, muss die Sache mit der Aufklärung klug angehen, um ihrer Dialektik zu entgehen.
Das gelingt Stangneth auf intellektuell zugleich unaufgeregte und anregende Weise. Ihr Buch kommt in einem fast beiläufigen Plauderton daher und schneidet mal dieses, mal jenes Thema an. Auf diese Weise neigt man als Leser dazu, bei fünf Sätzen vier Mal zu nicken, um beim fünften Satz zu erkennen, dass es da ein Problem gibt. Dabei werden durchaus gewichtige Fragen behandelt: Wie kann gutes Handeln und Denken weitergegeben werden? Welche Rolle kann dabei das Bildhafte, das scheinbar Unmittelbare spielen? Immer wieder wird die Unverständlichkeit der Philosophie beklagt – gibt es also eine Abkürzung zur Ethik über die Ästhetik?
„Hässliches Sehen“ ist der dritte Teil einer Trilogie, gemeinsam mit „Böses Denken“ und „Lügen lesen“ aus den Jahren 2016 und 2017. Allen drei Bänden ist der eher programmatische Titel gemeinsam, unter dem die Autorin ihre Gedanken in die Form eines Essays bringt. Man hat den Eindruck eines philosophischen Selbstgesprächs, und so sieht es Stangneth tatsächlich, die in einem Interview feststellte, dass sie nicht für den Leser oder die Leserin, sondern für sich selbst schreibt, um einen Bezug zum eigenen Gedanken herzustellen, einem Gedanken, der kritische Distanz und interesseloses Wohlgefallen miteinander verbinden kann. „Ich schreibe, um herauszufinden, ob ich meine eigenen Argumente mag.“ Dass das nicht in einer esoterischen, in sich zirkelnden Selbstklärung vonstattengehen muss, wie oft in der Philosophie, sondern in einem interessanten und stellenweise sogar witzigen Dialog der Autorin mit sich selbst und dem Leser, zeigen alle drei Bände.
In „Hässliches Sehen“ geht Stangneth von einem durchaus realistischen Blick auf die menschliche Vernunft aus. Es sei, schreibt sie, „auf Dauer ziemlich langweilig (…), vernünftig zu sein. Es macht keinen Spaß, ist nicht verwegen (…), provoziert nur selten“, aber vor allem fühlt es sich „nicht nach dem großen Abenteuer an, über das sich Bücher schreiben lassen“.
Vernunft ist möglich, aber Menschen wollen mehr als das. Deswegen neigen sie dazu, die Vernunft gering zu schätzen, die sie mit allen anderen Menschen verbindet. Das ist aber zum Scheitern verurteilt, denn was auch immer wir tun, selbst wenn wir die Vernunft als bloße Illusion darlegen und beste Argumente finden, warum wir nur biologische Maschinen sind: das Darlegen und Argumentieren, die Biologie und die Scheidung von Realität und Illusion zeigen stets zurück auf die Vernunft, die bei allem dabei ist.
Unverkennbar ist dieses Faktum der Vernunft, wie Stangneths Überlegungen insgesamt, durch eine genaue Kenntnis der Philosophie Immanuel Kants informiert. „Hässliches Sehen“ ist damit auch eine Aktualisierung kantischer Gedankengänge, die einmal mehr beweist, wie anschlussfähig diese heute noch sind. Dabei geht es weniger um den doktrinären Gehalt der kantischen Überlegungen, sondern mehr darum, die fragende Haltung der kritischen Philosophie einzuüben. Ein Beispiel dafür ist die Leitfrage des Buches, die alle Kapitel durchzieht und so miteinander verbindet: Darf ich jemanden dazu zwingen, seine Vernunft zu gebrauchen? Kann man Menschen dazu manipulieren, diesen Gebrauch einzuüben? Oder geht dieser Versuch nach hinten los?
Wer auf Hässliches verweist, das Böse in so erschreckenden wie eindrucksvollen Bildern malt, könnte im Sinn haben, dadurch das Gute zu lehren. Aber verkürzen solche Darstellungen nicht genau das, worum es im Denken eigentlich geht? Und verfehlen sie damit nicht genau das, worum es ihnen eigentlich geht?
Immer wieder begegnet dem Leser dabei die Antinomie von gutem Willen und schlechtem Ausgang. Wir suchen den Fortschritt, fürchten uns dann aber vor der Veränderung, die er bringt: „Bemerken wir wirklich nicht, dass wir die gesellschaftsverändernde Kraft einer Erfindung fürchten, die wir auch darum erfanden, weil wir die Gesellschaft nicht so lassen wollen, wie sie ist?“ Wir versuchen, mit Hilfe der Technik die Probleme zu lösen, die sich aus der Struktur dieses Handelns ergeben, und gestalten die technologischen Lösungen doch nach unserem Bild: „Wenn wir doch die Technik nach unserem Bilde entwerfen (…) – was berechtigt uns dann zu der Hoffnung, mit Hilfe dieser Werkzeuge die Probleme unserer Struktur zu lösen?“
Es sind diese immer neu aufgeworfenen Widersprüche, die die Lektüre von „Hässliches Sehen“ anregend machen. Wie in einer Art Ethnologie der eigenen Kultur, die erst den Schritt zu ihrer Verfremdung gehen muss, wundert sich Stangneth gemeinsam mit dem Leser über manche Ausweglosigkeit, in die wir uns selbst hineinmanövriert haben. Dabei geht dieses Sich-Wundern, dieses Staunen im besten Sinne philosophisch vonstatten: nicht als Spott oder Belehrung von oben, sondern aus der Perspektive einer Teilnehmerin, die beständig „Wir“ sagt und sich damit einschließt.
Auch thematisch ist „Hässliches Sehen“ hoch anschlussfähig, kommen doch die Algorithmen der sozialen Netzwerke ebenso zur Sprache wie das „Social Credit System“, das gerade in China installiert wird. Doch auch hier werden diese Entwicklungen nicht düster an die Wand gemalt, sondern Stangneth betrachtet ihre Rückseite, die Bedingungen und blinden Flecke dieser Kontrollsysteme. Was dann noch bleibt, ist eine Form gespannter Gelassenheit, die aufmerksam hinsieht, aber sich nicht selbst irre macht, weil sie immer noch die Freiheit des Menschen und seine Vernunft als Ausweg sehen kann.
So ist „Hässliches Sehen“ im besten Sinne ein philosophischer Essay, in dem am Leitfaden einer übergeordneten Frage das Grundsätzliche zur Sprache kommt. Dabei gelingt es in jedem Kapitel, dieses Grundsätzliche mit anschaulichen Beispielen und einer gehörigen Portion Witz aus immer neuen Perspektiven zur Sprache zu bringen. Ob das Faktum der Vernunft oder der Zusammenhang zwischen Gewissen und Gottesvorstellung oder das Phantasma vollkommener Transparenz – nach der Lektüre wird man durch die Welt weniger erschreckt. Und hat zugleich gelernt, stets wachsam zu bleiben. Das ist eine Lektion in gespannter Gelassenheit und damit einer Haltung, die heute vielleicht mehr denn je benötigt wird.
DANIEL-PASCAL ZORN
Wir suchen den Fortschritt,
fürchten uns dann aber vor
der Veränderung, die er bringt
Nach der Lektüre wird man
durch die Welt
weniger erschreckt
Bettina Stangneth: Hässliches Sehen. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019. 160 Seiten, 20 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Es ist für den Leser der Kritik nicht ganz leicht zu verstehen, was hier mit "hässlichem Sehen" eigentlich gemeint ist. Dies sei der dritte Teil einer Trilogie, in der die Philosophin in essayistischer Weise eine "radikal aufklärerische Haltung" verfechte, erläutert der rezensierende Kollege Daniel-Pascal Zorn. Die Philosophin scheint ganz allgemein darüber nachzudenken, wie Bilder in bestimmten Denk- oder Argumentationszusammenhängen eingesetzt werden. Zorn lobt dabei die lockere, unprätenziöse Weise, in der sie das tut. Es gibt etwa Erwägungen über Vernunft, die ein nicht immer glamouröses Programm sei und doch irgendwie unvermeidlich. Immanuel Kant habe jedenfalls nach wie vor große Aktualität. Stangneth betreibe "eine Art Ethnologie der eigenen Kultur", so Zorn weiter und dies tue sie zum Glück mit sehr viel Witz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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So ist "Hässliches Sehen" im besten Sinne ein philosophischer Essay, in dem am Leitfaden einer übergeordneten Frage das Grundsätzliche zur Sprache kommt. Dabei gelingt es in jedem Kapitel, dieses Grundsätzliche mit anschaulichen Beispielen und einer gehörigen Portion Witz aus immer neuen Perspektiven zur Sprache zu bringen. Daniel-Pascal Zorn Süddeutsche Zeitung 20190411