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Ein Mann, eben stand er während des Feierabendgedrängels noch am Eingang eines Warenhauses, folgt aus einer Laune heraus einer Frau. Er kennt sie nicht, sieht sie auch nur von hinten, aber wie in einem Spiel sagt er sich: Geht sie dort entlang, folge ich ihr nicht weiter; geht sie in die andere Richtung, spiele ich das Spiel noch eine kleine Weile weiter. Es bedeutet ja nichts, niemand kommt zu Schaden, und der Abstand in der Menge ist so groß, dass die Frau es gar nicht bemerken wird. Eher ist es eine sportliche Aufgabe, sie in der Menge nicht zu verlieren. Was ihn bewegt, ist erst einmal…mehr

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Produktbeschreibung
Ein Mann, eben stand er während des Feierabendgedrängels noch am Eingang eines Warenhauses, folgt aus einer Laune heraus einer Frau. Er kennt sie nicht, sieht sie auch nur von hinten, aber wie in einem Spiel sagt er sich: Geht sie dort entlang, folge ich ihr nicht weiter; geht sie in die andere Richtung, spiele ich das Spiel noch eine kleine Weile weiter. Es bedeutet ja nichts, niemand kommt zu Schaden, und der Abstand in der Menge ist so groß, dass die Frau es gar nicht bemerken wird. Eher ist es eine sportliche Aufgabe, sie in der Menge nicht zu verlieren. Was ihn bewegt, ist erst einmal unklar. Ist der Verfolger einfach ein gelangweilter Schnösel? Ein Verrückter? Ein Verbrecher? Er scheint selbst vor etwas zu fliehen. Etwas Bedrohliches liegt in der Luft, etwas Getriebenes. Ein atemloser Sog entsteht, in den auch der Leser gerät, je länger die Verfolgung anhält.

Autorenporträt
Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun/Schweiz. Dramatiker, Romancier, Essayist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in fast 20 Sprachen übersetzt. Für sein Werk wurde Bärfuss vielfach ausgezeichnet. Er lebt in Zürich.
Rezensionen
»Stringent und kraftvoll von der ersten bis zur letzten Seite.« Manfred Papst, NZZ am Sonntag

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.02.2017

Du und dein Akku
Ohne Smartphone hört man die Sirenenklänge: Mit seinem Roman „Hagard“ ist der Schweizer
Autor Lukas Bärfuss für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Zu Recht
VON MEIKE FESSMANN
Wer die Gegenwart fassen will, dem schlüpft sie durch die Finger. Man braucht eine List, um sie einzufangen. Je schneller sie wird, desto gelassener muss man sein. In seinem neuen Roman „Hagard“ hat der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss der beschleunigten Gegenwart eine großartige Falle gestellt. Er führt seinen Helden, einen Liegenschaftsverwalter Ende vierzig unter hohem Termindruck, an einem Märztag des Jahres 2014 auf Abwege. Aus einer Laune heraus folgt er einer Frau, die er gar nicht kennt. Er heftet sich an ihre Fersen. Sie stecken in „pflaumenblauen Ballerinas“. Leicht und flink bewegen sie sich aus einem Pulk heraus, der gerade einem Zürcher Kaufhaus entströmt.
Eigentlich wartet Philip auf einen Geschäftspartner, der sich offenbar aus taktischen Gründen verspätet. Es ist Dienstagnachmittag, sechzehn Uhr fünfzehn, in nicht einmal zwei Stunden muss er seinen Sohn von der Tagesmutter abholen. Für Donnerstag früh ist er auf einen Flug nach Gran Canaria gebucht, dort geht es um Seniorenwohnungen, einen großen Deal, das größte Geschäft, seit er sich selbständig gemacht hat.
Am Anfang ist es nur ein kleiner Zeitvertreib, ein Spiel, das er jederzeit abbrechen kann. Er will sehen, wohin die junge Frau geht. Er lässt sich von ihrer Anmut betören, genießt ihre Gesten, beobachtet das Licht auf ihrem Haar, den Wind, der ihren Chiffonrock bauscht, die Art, wie sie aus einem Brunnen trinkt. Ihre Wendigkeit gefällt ihm, auch wenn er, in den letzten Jahren etwas aus der Form geraten, der mädchenhaften Gestalt kaum hinterherkommt. Immer wieder verliert er sie aus dem Blick, immer wieder ist er drauf und dran aufzugeben. Seine Termine fallen ihm ein, außerdem weiß er, dass er etwas tut, was sich nicht gehört. Als sie in einer Pelzhandlung verschwindet und bald darauf mit einem Kleidungsstück im Arm herauskommt, ist es um ihn geschehen.
Wie Sacher-Masochs „Venus im Pelz“ ist auch diese Geschichte eher eine Novelle als ein Roman. Straff führt Lukas Bärfuss den zentralen Handlungsstrang, der die Vernichtung einer soliden, auf Effektivität getrimmten Existenz in gerade einmal sechsunddreißig Stunden in Szene setzt. Dass dies ebenso glaubwürdig wie rätselhaft geschieht, ist nicht das einzige Wunder dieser Novelle. Der 1971 in Thun geborene Schriftsteller erschafft zugleich ein starkes Relief unserer Gegenwart.
Geradezu sinnbildlich in die Topografie Zürichs eingekerbt, psychologisch illuminiert von einer Mentalität, die für das eigene Leben keine großen Affektamplituden vorsieht, aber jederzeit bereit ist, in Abwehrreflexe und Hasstiraden gegen andere auszubrechen, erkundet er den Menschen in der gegenwärtigen Phase des Maschinenzeitalters. Unter der Hand verfolgt der Roman eine starke These: dass das Smartphone unsere Lebenswelt grundlegend verändert und die menschliche Triebstruktur umstülpt, mehr noch, dass es an der „Abschaffung des Menschen“ beteiligt sein wird.
Philip lässt sich verzaubern. Und auch der Leser wird von der Doppel-Orchestrierung des Romans in Bann gezogen. Einerseits spielt er in der exakt datierten Gegenwart zweier Märztage 2014, in denen die Nachrichten von der am 8. März verschwundenen Boeing 777 der Malaysia Airlines, der Besetzung der Krim und der Vogelgrippe aus Fernost künden. Andererseits hören wir eine Tonspur, deren Sirenengesänge deutlich älter sind. Sie reicht bis in die Antike zurück, auch wenn sie um die vorletzte Jahrhundertwende am verlockendsten tönte. Es ist der Gesang von der großen Verschwendung, von Verausgabung und Übertretung, der Gesang des Verschleuderns, Verbrennens und Verglühens, der Gesang des Begehrens und des Liebeswahns.
Er ist ständig vernehmbar, während der Roman die sinkende Energiereserve des Smartphone-Akkus seines Helden protokolliert. Ist es nicht ein klägliches Leben? Dieses Leben am Gängelband elektrischer Energie? Immer auf der Suche nach dem nächsten Anschluss, immer in Sorge, der Akku könnte genau in dem Moment den Geist aufgeben, in dem man ihn am nötigsten braucht? Mit einer Ambivalenz, wie sie nur in der Literatur möglich ist, kostet die Novelle den Übertretungsgestus aus. Philip, dem sein Smartphone gerade noch ein „Freund“ war, entdeckt den Genuss einer starken Verbindung. Je mehr er sich von den pflaumenblauen Ballerinas in ein anderes Leben „mitziehen“ lässt, je mehr er seine Existenz an die Unbekannte bindet, desto unbedeutender werden ihm das Gerät und sein restliches Leben. Er spart nicht nur an der versiegenden Energie, wenn er kaum noch Mitteilungen entgegennimmt. Er will sich auch nicht mehr dreinreden lassen, weder von der Sekretärin, deren psychische Konstitution er beinahe besser kennt als seine eigene, noch von der mexikanischen Tagesmutter, deren Ordnungsliebe ihm auf die Nerven geht. Die Gewalt, der Zorn und die Aggressivität, die in diesem liebestollen Helden hausen, bleiben in jedem Moment spürbar. Dieser Endvierziger ist kein charmanter Verführer, eher ein außer Rand und Band geratener Leistungsträger.
Es ist zweifellos eine männliche Phantasmagorie, die der Roman in Szene setzt. Während die ersten Bilder der Frau noch eher zart im impressionistischen Stil eines Herman Bang gezeichnet sind, verwandelt die Begierde sie in eine Lichtgöttin, deren Auftritt von „Photonenwogen“ begleitet wird. Die Lust verleiht dem Helden starke Energie, droht ihn aber auch der Lächerlichkeit preiszugeben. Das Animalische rückt ihm als Karikatur auf den Leib: von der Elster, die den novellentypischen Falken ersetzt und den Eindringling aus ihrem Territorium verscheuchen will, bis zum Frettchen, dem hässlichen Verwandten des Hermelins, das der Liebestrunkene in Form eines Pantoffels am Fuß trägt, nachdem er auf der Jagd nach der Angebeteten einen Stiefel verlor.
Von Hermes Trismegistos über Leonardo bis Kafka reichen die Anspielungen, die den Stoff dieser wilden Novelle gegen eine allzu geradlinige Lektüre abdichten. „Hagard“ ist kein Thesenroman, sondern ein literarisches Traumspiel: Wie sieht es aus, wenn einer von einem Moment auf den anderen aus den Zwängen der Gegenwart aussteigt? Wie lange hält er durch? Länger als die Laufzeit eines Akkus?
Wie in seinem vorherigen Roman, „Koala“, der vom Selbstmord seines Bruders und also von einer traurigen Form der Verschwendung erzählt, dramatisiert Lukas Bärfuss auch in diesem Buch einen Namen. War es dort der Pfadfindername des Halbbruders, so ist es nun, wenn der eben noch alerte Geschäftsmann mit nacktem Fuß über den kalten, feuchten Boden einer Bahnhofsszenerie hinkt, der eigene Nachname. So setzt Bärfuss tragikomisch das Zusammenspiel von Plumpheit und Verletzlichkeit, von animalischer Stärke und der Peinlichkeit menschlicher Barfüßigkeit in Szene.
Dass der Autor mit seinem Stoff lange gekämpft hat, sieht man dem Roman, der schon vor einem Jahr angekündigt war, kaum noch an. Bärfuss hat sich für Philips Geschichte einen Erzähler erfunden, der Freund, Schöpfer und Doppelgänger ist. Der Titel, der wie ein skandinavischer Eigenname anmutet, ist ein französisches Adjektiv, „hagard“. Es bedeutet wild, verstört, verängstigt, aber auch scheu und irrend.
„Hagard“ ist ein Meisterstück, das seine Achillesferse nicht verbirgt: Es ist ein ästhetisch souveränes, aber auch verletzliches Porträt des Menschen auf der Epochenschwelle. Der Natur schon lange nicht mehr zugehörig, zeigt ihm der Blick in den Himmel nicht die Sterne und erst recht nicht das Antlitz Gottes. Er zeigt ihm Satelliten, die ihn kalt beobachten.
Am Anfang ist es nur ein
kleiner Zeitvertreib, ein Spiel, das
er jederzeit abbrechen kann
Auf der Jagd nach der
Angebeteten gerät der Held
an den Rand der Lächerlichkeit
Dass der Autor lange mit seinem
Stoff gekämpft hat, sieht man
dem fertigen Buch nicht an
Wie erzählt man von einem, der aus seinem Leben herausfällt? Lukas Bärfuss, hier im Café Odéon in Biel, macht es in „Hagard“ vor.
Foto: Christine Bärlocher/Ex-Press
Lukas Bärfuss: Hagard. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
174 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2017

Auf den Spuren der Füße einer Frau ohne Gesicht

Wenn eine zufällige Begegnung jede Gewissheit zertrümmert: In seinem Roman "Hagard" inszeniert Lukas Bärfuss einen sehnsuchtgetriebenen Weltuntergang in sechsunddreißig Stunden.

Auf Seite 43 hat er ihr Gesicht "weiterhin nicht erkennen" können. Dabei ist er ihr seit dem Anfang des Romans auf den Fersen. Zwanzig Seiten später hat er "ihr Gesicht noch immer nicht gesehen, aber er weiß, wo sie wohnt". Seite 104: "Er vorne, die Frau, deren Gesicht er noch nicht gesehen hat, hinter ihm."

Die Präzisierungen sind unnötig, ja ärgerlich. Denn es ist die Frage, die den Leser auf dieser atemraubenden Verfolgung in Atem hält. Dass Philipp, Ende vierzig, das Gesicht der Frau verborgen bleibt, geht jeweils aus den genauen Beschreibungen hervor - und wo es Zweifel geben könnte, sollte man sie nicht ausräumen. Seit fünfzehn Stunden folgt er schon ihrer Fährte. Manchmal hat er "sie" aus den Augen, nie aber ihre Spur verloren. Auf Seite 104 "kommt er ihr näher und näher, weicht nach links aus, will sie mit gewissem Abstand überholen, es ist vollbracht, ein Schatten, der an ihm vorbeizieht, ein Geruch, Maiglöckchen vielleicht". Philipp steht jetzt vor den Rolltreppen und weiß nicht, welche "sie" nehmen wird: nach oben, nach unten?

Lange hat man auf den neuen Roman des Schweizer Schriftstellers und Dramatikers Lukas Bärfuss, der mit einem Stück über "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" bekannt geworden war, warten müssen. Sein Erscheinen wurde verschoben. Jetzt ist er da: "Hagard". Hagard?

Das ist weder der Name des Ich-Erzählers noch der Hauptfigur Philipp, neben denen der Verfasser drei Frauen auftreten lässt. Da ist Belinda, Tagesmutter von Philipps Kind und illegal im Land, von der man lange glaubt, sie wäre die Gattin des auf Abwege gekommenen Immobilienmaklers. Er hat ein kleines Büro mit einer pflichtbewussten, nicht mehr ganz jungen Sekretärin namens Vera. Und schließlich "sie", die wie der Ich-Erzähler keinen Namen hat. Als Engel, Königin, Göttin, "Priesterin des Zerebralen" wird sie bezeichnet. Ihr Auftritt ist ein "Diamantblitz" oder ein "erster Strahl" der aufgehenden Sonne, ihr "Licht weiß und golden". Kitschig oder deplaziert wirkt dieses Vokabular erstaunlicherweise gar nicht. "Umdrehen" will sich Philipp, nachdem er sie überholt hat: "umdrehen und sich erlösen" - im Anblick ihres Gesichts, das er aber auch diesmal nicht zu sehen bekommt.

"Am Anfang dieser Geschichte steht ein Paar Damenschuhe", rekapituliert der Ich-Erzähler, der sie im Nachhinein verstehen will. Sie beginnt mit einer verpassten Verabredung in Zürich: Ein Pleitier, der Philipp ein Grundstück verkaufen möchte, erscheint nicht. Philip dreht eine Runde und beobachtet voller Verachtung Menschen, die aus einem Kaufhaus kommen und in ihre Siedlungen am Stadtrand gelangen wollen. Darunter Jugendliche - "sie wussten nicht, dass sie längst in der Falle saßen, längst geknechtet von den Kreditverträgen".

Über Philipp wird sie gleich zuschnappen - oder aufgehen? Er nimmt "ein Paar pflaumenblaue Ballerinas" wahr. Das Geschäft, das er abschließen wollte, wird völlig uninteressant. Er folgt den Schuhen durch das Gewühl der Menge. Hat ihm die Frau ohne Gesicht, zu der die Füße gehören, nicht ein Zeichen gemacht? Sie betritt ein Geschäft und kommt mit einem Pelz heraus. Bei der Börse nehmen sie die Straßenbahn. Dann geht es im Vorortzug in irgendeine Schlafgemeinde. Philipp hat keine Ahnung, wo er sich befindet. "Sie" verschwindet in einem Haus. Vergeblich versucht er, durch alle möglichen Öffnungen hineinzugelangen. Ein Taxifahrer muss ihm den Wagen, der im Parkhaus in Zürich steht, holen. Er lässt sich eine Pizza zum Auto liefern, in dem er die Nacht verbringt.

Am Morgen danach: die gleiche Strecke zurück. Auf der Flucht vor den Kontrolleuren verliert Philipp einen Schuh. "Gestern noch hätte er die Sache zügig geregelt, die Strafe bezahlt und Schluss. Jetzt hat er nicht mal Papiere." Aber für das Aschenputtel Philipp interessiert sich seine Prinzessin nicht. Hat sie überhaupt etwas von den Nachstellungen mitbekommen? Philipp ist zum Schwarzfahrer geworden, binnen 24 Stunden verwandelt er sich in einen Penner. Er klaut Essensreste, die ihn anekeln, und wartet vor einem Haus mit Fenstern wie "Froschaugen". An der Technischen Hochschule "sieht er sie, aber er kann nicht erkennen, womit sie beschäftigt ist".

Im Affentempo wird in "Hagard" stundenlang gewartet. Sehen und Riechen bestimmen die Wahrnehmung der Welt in diesem Roman, in dem Philipp nur seinem Instinkt folgt und der Ich-Erzähler von seinen intellektuellen Fähigkeiten im Stich gelassen wird: "Ich weiß alles, und ich verstehe nichts." Dass Philipps Uhr stehenbleibt, ist eines der schwächeren Symbole. Doch fortan wird das "kluge Telefon" zum Zeitmesser. Der Countdown läuft, "Akkustand noch vier Prozent". Das Ladekabel, mit dem er im Auto die Nutzungsdauer des Geräts hätte verlängern können, hatte er bereits für eine anstehende Reise verpackt, die er nie antreten wird.

Das Erlöschen des Displays wird zum Weltuntergang. Nach langem Suchen findet Philipp einen Apparat "aus dem letzten Jahrtausend", der aber keine Münzen schluckt. Philip muss um eine Karte betteln. Mit dem Smartphone, das "Kopf und Namen" zeigte, hat er seinen Speicher verloren: Er kennt die Nummer, die er anrufen will, nicht auswendig. Und im Büro meldet sich der Anrufbeantworter mit seiner eigenen Stimme. Für einmal hat Vera, die Philipp zu diesem Zeitpunkt noch hätte retten können, ihren Arbeitsplatz vorzeitig verlassen. Sie ist im Bett mit Max, der ihr sagt, dass sie ein bisschen wie Barbara Sukowa aussehe.

Das ist, Irrtum vorbehalten, die einzige Sexszene in "Hagard". Aus dem Französischen kann man den Buchtitel, der im Roman als Name oder Begriff nicht vorkommt, mit "ausgezehrt", "verstört" oder "verschüchtert" übersetzen. Als Synonyme verweisen die Wörterbücher auf "Delirium", "Demenz", "Horror" - auch "Vision". Lukas Bärfuss hat in einem Interview präzisiert, dass "Hagard" ein Fachwort aus der Jägersprache sei. Mit ihm würden gefangene und abgerichtete Falken bezeichnet, die sich nie vollständig zähmen lassen.

Gegen Schluss mehren sich die nicht mehr ausschließlich individuellen Katastrophen. Manchmal scheint Bärfuss die Dramaturgie zu entgleiten, dabei steigert er nur das Tempo und den Anspruch an die Leser, die er in diese Geschichte hineinzieht und letztlich so ratlos zurücklässt wie den Ich-Erzähler. In Zürich und dessen Vorstadt inszeniert Lukas Bärfuss eine Welt, die sich in der Globalisierung auflöst. Ihr Kolorit und ihre Kulisse erschließt er mit beiläufigen Beobachtungen und Bemerkungen; auch Hitler, die Vogelgrippe und Putin kommen vor. Flug MHA 370 der Malaysia Airlines, deren Boeing 777 sich spurlos im Nichts verlor, zieht vom Anfang bis zum Ende seine unaufdringliche Symbolspur durch diesen himmlischen Roman über "den Untergang der Welt, wie wir sie kannten".

Am Schluss weiß selbst der Ich-Erzähler nicht genau, "wie Philipp in jener Nacht, als Vera bei Max lag, auf den Balkon gelangen konnte". Im Auto hatte er vor dem Haus die Nacht verbracht. Nach einer abenteuerlichen Odyssee mit einem schwarzen Chauffeur, dem er ein paar hundert Franken versprach, aber noch immer ohne Schuh, war Philipp hierher zurückgekehrt. Seinen BMW hatte die Polizei abgeschleppt. Er sieht den Pelz, "auch die Schuhe sind da". Der Kreis schließt sich: "Hier ist sie. Hier ist meine Nachricht an das Universum. Eine Nachricht an meinen Schöpfer. Ich sterbe, aber ich verschwinde nicht. Dies ist das Ende, und hier will ich beginnen." An dieser Stelle allerdings hätte man gerne erfahren, was wirklich passierte, nachdem Philipp die Scheiben eingeschlagen hatte. Und vor allem: wie er "sie" gesehen hat.

JÜRG ALTWEGG

Lukas Bärfuss: "Hagard". Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 178 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Nicht unbedingt begeistert, aber sehr anerkennend bespricht Rezensentin Judith von Sternburg diesen Roman des Schweizers Lukas Bärfuss, der vom "totalen Ruin" eines Lebens in zwei Tagen erzählt. Vieles bleibt mysteriös in dieser Geschichte, räumt die Rezensentin ein, doch entwickle sie viel Komik und einen großen Sog: Ein Mann jagt sinnlos einer Frau hinterher, verliert dabei sein Smartphone, sein Auto, seine Papiere und offenbar auch seine Existenz, aber wie genau, das verrät uns Sternburg nicht. Virtuos und clever findet die Rezensentin diesen Roman konstruiert, denn Bärfuss doppele die fatale Verfolgungsjagd: Hinter dem Mann, der eine Frau verfolgt, steht ein Ich-Erzähler, der einer Figur nachjagt. Am Ende erkennt Sternburg darin eine Analogie auf den Menschen von heute, der viel wisse, ohne dass es ihm etwas nützt.

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