Haiku sind japanische Kurzgedichte, die sich aus der mittelalterlichen Tradition des Kettengedichts Haikai entwickelt haben. Der Begriff „Haiku“ ist erst im späten 19. Jahrhundert entstanden, als das Anfangsglied des klassischen Kettengedichts längst eine eigene Kunstform war, die sich bereits in
viele Spielarten und Schulen aufgespalten hatte. Gemeinsam ist ihnen, dass sie eine strenge…mehrHaiku sind japanische Kurzgedichte, die sich aus der mittelalterlichen Tradition des Kettengedichts Haikai entwickelt haben. Der Begriff „Haiku“ ist erst im späten 19. Jahrhundert entstanden, als das Anfangsglied des klassischen Kettengedichts längst eine eigene Kunstform war, die sich bereits in viele Spielarten und Schulen aufgespalten hatte. Gemeinsam ist ihnen, dass sie eine strenge Versstruktur von 5-7-5 Silben und einen Jahreszeitenbezug besitzen, der sich aus den sogenannten Jahreszeitenworten ergibt, die man ggf. auch in umfangreichen Katalogen nachschlagen kann. Viele Haiku spielen auf japanische Traditionen, Feste oder handwerkliche Tätigkeiten an, die es heute nicht mehr gibt und die nicht selten auch für Japaner einer Kommentierung bedürfen. Entsprechend umfangreich ist die Kommentarliteratur, die in der Regel auch Biografisches berücksichtigt.
Ich erwähne das hier so ausführlich, um klarzumachen, dass eine Haiku-Sammlung ohne Kommentierung vielleicht einen gewissen sprachlichen Reiz darstellt, aber das Wesentliche nicht übermitteln kann: Die Interpretation vor dem kulturellen Hintergrund. Und erst da werden Haiku nach meiner Erfahrung erst so richtig interessant. Eduard Klopfenstein, der schon einige hervorragend kommentierte Haiku-Anthologien herausgegeben hat, und Masami Ono-Feller, die als einziges Mitglied der japanischen Renku-Gesellschaft außerhalb Japans auch aktiv in der zeitgenössischen Haiku-Szene vernetzt ist, haben über 300 Gedichte aus fünfhundert Jahren zusammengetragen und damit einen historisch-stilistischen Abriss geschaffen, wie es ihn nach meinem Wissen bisher in deutscher Sprache nicht gibt.
Jedes Gedicht wird zunächst auf Japanisch wiedergegeben, neben der Notation in Kanji und Hiragana (zwei japanischen Schriftsystemen) auch im Kunrei-Notationssystem, um auch dem deutschen Leser eine Klangvorstellung zu geben. Die entsprechenden Jahreszeitenworte sind markiert und werden aufgeschlüsselt.
Der Kommentar erklärt biografische und/oder (kultur)historische Hintergründe und legt besonderen Wert auf Probleme der Übersetzung. Grammatikalische Unschärfen, die im Japanischen absolut beabsichtigt sind, lassen sich oft nicht sinnvoll in die deutsche Sprache übertragen, ebenso wie die häufig vorkommenden „Türangelworte“, die sich in zwei Satzteile gleichzeitig erstrecken. Es gibt so etwas zwar auch im Deutschen, aber meistens kann man sie nicht mit dem Versmaß oder dem Sinn in Einklang bringen. Eduard Klopfensteins Übersetzungen versuchen so weit wie eben möglich das Versmaß zu erhalten und die dabei entstehenden Schwierigkeiten im Kommentar aufzulösen. Das ist äußerst spannend und fügt den Haiku gleich mehrere neue Ebenen hinzu.
Gerade wegen der umfassenden Erklärungen wird dem Leser schnell bewusst, dass Assoziationsketten, wie wir sie mit unserem westlichen Kulturhorizont erstellen, nicht unbedingt dieselben sind, wie sie Japaner mit dem ihren knüpfen. Ich will damit keinesfalls den (eindeutig falschen) Mythos aufwärmen, dass nur Japaner japanische Kultur verstehen, nur muss man sich an diese Denkweise schrittweise herantasten. Durch den chronologischen Aufbau der Sammlung bekommt man zunehmend ein Gespür für das Wesen des Haiku und damit in gewisser Weise auch für die Seele Japans.
Es sind alle bedeutenden Autoren der Haiku-Geschichte vertreten, sowohl mit ihren berühmtesten Werken als auch weniger bekannten. Außerdem sind auch einige Dichterinnen für diese Sammlung „entdeckt“ worden, die man hier im Westen fast überhaupt nicht kennt. Herausgekommen ist eine sehr umfangreiche, qualifiziert kommentierte Haiku-Sammlung für die breite Öffentlichkeit, die sich auch ohne Vorkenntnisse leicht erschließt.