Drei Reisen unternimmt die Ich-Erzählerin in Esther Kinskys Geländeroman. Alle drei führen sie nach Italien, doch nicht an die bekannten, im Kunstführer verzeichneten Orte, nicht nach Rom, Florenz oder Siena, sondern in abseitige Landstriche und Gegenden - nach Olevano Romano etwa, einer Kleinstadt in den Hügeln nordöstlich der italienischen Hauptstadt gelegen, oder in die Valli di Comacchio, die Lagunenlandschaft im Delta des Po, halb von Vögeln beherrschte Wasserwelt, halb dem Wasser abgetrotztes Ackerland. Zwischen diesen beiden Geländeerkundungen im Gebirge und in der Ebene führt die dritte Reise die Erzählerin zurück in die Kindheit: Wie bruchstückhafte Filmsequenzen tauchen die Erinnerungen an zahlreiche Fahrten durch das Italien der Siebzigerjahre auf, dominiert von der Figur des Vaters.
Esther Kinskys Streifzüge und Wanderungen - im Gedächtnis ebenso wie gehend oder fahrend in der Gegenwart - sind Italienische Reisen eigener Art. Sie erkunden mit allen Sinnen äußeres Terrain und führen doch ins Innere, zu Abbrüchen der Trauer und des Schmerzes und zu Inseln des Trostes. Der einfühlsame, präzise Blick der Reisenden entlockt jedem Gelände, was eigentlich im Verborgenen liegt: Geheimnis und Schönheit.
Esther Kinskys Streifzüge und Wanderungen - im Gedächtnis ebenso wie gehend oder fahrend in der Gegenwart - sind Italienische Reisen eigener Art. Sie erkunden mit allen Sinnen äußeres Terrain und führen doch ins Innere, zu Abbrüchen der Trauer und des Schmerzes und zu Inseln des Trostes. Der einfühlsame, präzise Blick der Reisenden entlockt jedem Gelände, was eigentlich im Verborgenen liegt: Geheimnis und Schönheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2018Wie die Amsel schwarz wurde
Gewinn oder Verlust, das ist manchmal nur eine Frage der Betonung: Esther Kinsky fährt nach Italien und erkundet in ihrem Geländeroman "Hain" den Ort, wo sich die Toten und die Lebenden begegnen.
Die Reise, die von der hinterbliebenen Lebensgefährtin eines Mannes namens "M." unternommen wird, beginnt im Zeichen des Verlusts: "Es war Januar, als ich in Olevano ankam, zwei Monate nach M.s Beerdigung", notiert sie: "Die Reise war lang, führte durch schmuddelige Winterlandschaften, die sich unentschlossen an graue Schneereste klammerten", und die Schilderung der Route, so scheint es, rechtfertigt die Kapitelüberschrift "Weg". Allerdings kann man den Vokal lang oder kurz aussprechen und damit die Strecke oder den Verlust meinen, muss sich aber nur dann zwischen diesen beiden Lesarten entscheiden, wenn man das Wort ausspricht. Belässt man es beim stummen Lesen, kommt man Esther Kinskys Buch, für das sie die einleuchtende Gattungsbezeichnung "Geländeroman" gewählt hat, sicherlich näher. Denn es ist diese Ambivalenz, dieses unangestrengt Durchscheinende, diese schimmernde Bedeutungsvielfalt all dessen, was die Erzählerin von zwei aktuellen Italienreisen und der Erinnerung an viele frühere, mit dem längst verstorbenen Vater unternommene, notiert und bewahrt, das dem Buch seinen außergewöhnlichen Zauber verleiht.
Der Verlust des Anfangs setzt sich auch während der Reise fort: Unterwegs wird das Auto der Erzählerin aufgebrochen und der mitgeführte Koffer gestohlen, in dem sich die Kleidung des Verstorbenen befand - die Trauernde hatte vorgehabt, in der Wohnung im italienischen Olevano Romano nachts M.s Hemden zu tragen. Dieser Plan ist schon eines der deutlichsten Anzeichen, wie es um die Erzählerin steht, die sonst sehr viel mehr über die Landschaft, die sie bereist, preisgibt, als über sich selbst. Man stellt sie sich vor wie eine Erstarrte, die gemessenen Schritts durch das Städtchen in den Bergen nordöstlich von Rom läuft, die sich ins Auto setzt und Ausflüge macht und immer wieder den Friedhof besucht, die bei den Behörden vorstellig wird, um etwas über ein bestimmtes Grab zu erfahren oder stundenlang den Olivenbaumschneidern bei ihrer Arbeit zusieht.
Über sich selbst sprechen muss sie aber auch gar nicht, solange sie in dieser besonderen Weise von dem erzählt, was sie sieht, vor allem in den kunstvoll beiläufigen Sätzen, die jeweils die kurzen Kapitel einleiten: "Die Tage wurden länger, aber kaum wärmer und heller" ist so ein Satz, den man mühelos auf das Innen wie das Außen beziehen wird, und der Verlust, der alles grundiert und nur selten benannt wird, tritt hier wie in vielen anderen Beschreibungen so deutlich hervor, dass er den Leser zuverlässig erreicht.
Es ist eine intensiv erfahrene, leise Trauer, die von der auch sich selbst gegenüber scharfsichtigen Erzählerin in Sprache gebannt wird, samt aller Versuche, damit umzugehen. Als sie etwa erfährt, dass ganz in der Nähe der Ort Palestrina liegt, aus dem der Kirchenmusiker stammt, fährt sie dorthin: "Vor vielen Jahren hatte ich in einer Palestrinamesse gesungen und dabei gemerkt, wie ich in der Musik trauerlos der Welt abhandenkam, unsichtbar wurde und nichts mehr sah." Sie erzählt ein Märchen nach, von einem schneeweißen Vogel, der sich in der Not in einen Kaminschlund begibt und nun, als schwarze Amsel, aller Verwandlung und Versehrung zum Trotz weiterlebt. Und sie probiert aus, welche Folgen das Alltägliche auf ihren Zustand haben kann, wenn sie es im Bewusstsein des Verlusts durchführt. So kauft sie, weil M. immer eine solche Freude daran hatte, dem Obsthändler ein paar Orangen ab - einen "Trauerkauf" nennt sie das, ein "Versuchsritual", und was in einem anderen Zusammenhang unzugänglich oder auch banal sein könnte, erhält in diesem Buch, das in jeder Zeile vom Verhältnis zwischen Tod und Leben spricht, eine besondere Dimension: Geht es darum, in den Orangen M.s Bild heraufzubeschwören, ihn gar auf kurze Zeit zurückzuholen? Oder geht es umgekehrt darum, seinen Geist, die Erinnerung an ihn mit einer Art Opfer zu befrieden?
Tatsächlich ist die Erinnerung an M. etwas, das offensichtlich keiner Kontrolle unterliegt - manchmal meldet er sich im Traum, wo er mit verstörender Deutlichkeit in rasender Schnelle aus dem Bereich der Lebenden in den der Toten wechselt. Und er erscheint ganz am Ende des Buchs, als die Erzählerin bei der Abreise nun aus dem Po-Delta ihre Sachen packt, darunter auch die Kameratasche. Dort ertastet sie "in einem nie genutzten Seitenfach einen eckigen Umriss." Der gehört zu einem Negativstreifen, der, gegen das Licht gehalten, auf einmal den "sofort erkannten" M. zeigt. Der blinzelt gegen das Licht, heißt es, und es ist in der Kunst der Autorin begründet, dass man dieses Blinzeln zugleich beiden Situationen geschuldet weiß, einmal der, in der das Bild aufgenommen wurde, zweitens aber der, in der das Negativ wieder gefunden und aus der Dunkelheit der Kameratasche ins italienische Winterlicht gehalten wird.
Es ist ein dem Leben zugewandtes Buch, das doch permanent die Grenzen des Totenreichs und auch des Totengedenkens auslotet, und die kursive Einleitung dieses Geländeromans schlägt den Ton an, der durch das übrige Buch hallt, wenn sie den Raum zwischen Leben und Tod als etwas eigenes beschreibt, etwas, das in keinem der beiden Zustände ganz aufgeht. Es setzt sich fort in vielen Bildern, die diese Grauzone aufs Schönste mit den Mitteln einer Sprache beschreiben, die mühelos den Rhein mit dem Styx überblenden und das deutsche Fährpersonal mit Charon. Und wenn es einmal heißt "Bis hierher gehe dein Totenreich", dann wird man diesen Ausspruch zugleich rührend finden und mutig, keineswegs aber wird man auf seine Wirksamkeit vertrauen.
Einmal, nach Wochen in den Bergen, sitzt die Erzählerin im Gras und blickt über die Landschaft. Jetzt stellt sie eine Verbindung her zwischen den Zielen ihrer bisherigen Ausflüge, und zugleich klingt das, was topographische Beschreibung sein sollte, wie das Sprechen über die eigene Situation, den eigenen Lebensweg nach M.s Tod. Das setzt sich im Traum fort, wo sie für sich selbst die Frage nach der Zugehörigkeit zu den Lebendigen oder den Toten beantworten muss, und ob sie weiterhin unter den Lebenden als Gespenst herumziehen will.
Als sie die Gegend verlässt, notiert sie, wie plötzlich "wie im Märchen" das Bleiherz zerspringt. Auch dies eine zweischneidige Formulierung. Als ob es noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, wovon dieser reiche, traurige, kostbare Roman lebt.
TILMAN SPRECKELSEN
Esther Kinsky: "Hain".
Geländeroman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 287 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gewinn oder Verlust, das ist manchmal nur eine Frage der Betonung: Esther Kinsky fährt nach Italien und erkundet in ihrem Geländeroman "Hain" den Ort, wo sich die Toten und die Lebenden begegnen.
Die Reise, die von der hinterbliebenen Lebensgefährtin eines Mannes namens "M." unternommen wird, beginnt im Zeichen des Verlusts: "Es war Januar, als ich in Olevano ankam, zwei Monate nach M.s Beerdigung", notiert sie: "Die Reise war lang, führte durch schmuddelige Winterlandschaften, die sich unentschlossen an graue Schneereste klammerten", und die Schilderung der Route, so scheint es, rechtfertigt die Kapitelüberschrift "Weg". Allerdings kann man den Vokal lang oder kurz aussprechen und damit die Strecke oder den Verlust meinen, muss sich aber nur dann zwischen diesen beiden Lesarten entscheiden, wenn man das Wort ausspricht. Belässt man es beim stummen Lesen, kommt man Esther Kinskys Buch, für das sie die einleuchtende Gattungsbezeichnung "Geländeroman" gewählt hat, sicherlich näher. Denn es ist diese Ambivalenz, dieses unangestrengt Durchscheinende, diese schimmernde Bedeutungsvielfalt all dessen, was die Erzählerin von zwei aktuellen Italienreisen und der Erinnerung an viele frühere, mit dem längst verstorbenen Vater unternommene, notiert und bewahrt, das dem Buch seinen außergewöhnlichen Zauber verleiht.
Der Verlust des Anfangs setzt sich auch während der Reise fort: Unterwegs wird das Auto der Erzählerin aufgebrochen und der mitgeführte Koffer gestohlen, in dem sich die Kleidung des Verstorbenen befand - die Trauernde hatte vorgehabt, in der Wohnung im italienischen Olevano Romano nachts M.s Hemden zu tragen. Dieser Plan ist schon eines der deutlichsten Anzeichen, wie es um die Erzählerin steht, die sonst sehr viel mehr über die Landschaft, die sie bereist, preisgibt, als über sich selbst. Man stellt sie sich vor wie eine Erstarrte, die gemessenen Schritts durch das Städtchen in den Bergen nordöstlich von Rom läuft, die sich ins Auto setzt und Ausflüge macht und immer wieder den Friedhof besucht, die bei den Behörden vorstellig wird, um etwas über ein bestimmtes Grab zu erfahren oder stundenlang den Olivenbaumschneidern bei ihrer Arbeit zusieht.
Über sich selbst sprechen muss sie aber auch gar nicht, solange sie in dieser besonderen Weise von dem erzählt, was sie sieht, vor allem in den kunstvoll beiläufigen Sätzen, die jeweils die kurzen Kapitel einleiten: "Die Tage wurden länger, aber kaum wärmer und heller" ist so ein Satz, den man mühelos auf das Innen wie das Außen beziehen wird, und der Verlust, der alles grundiert und nur selten benannt wird, tritt hier wie in vielen anderen Beschreibungen so deutlich hervor, dass er den Leser zuverlässig erreicht.
Es ist eine intensiv erfahrene, leise Trauer, die von der auch sich selbst gegenüber scharfsichtigen Erzählerin in Sprache gebannt wird, samt aller Versuche, damit umzugehen. Als sie etwa erfährt, dass ganz in der Nähe der Ort Palestrina liegt, aus dem der Kirchenmusiker stammt, fährt sie dorthin: "Vor vielen Jahren hatte ich in einer Palestrinamesse gesungen und dabei gemerkt, wie ich in der Musik trauerlos der Welt abhandenkam, unsichtbar wurde und nichts mehr sah." Sie erzählt ein Märchen nach, von einem schneeweißen Vogel, der sich in der Not in einen Kaminschlund begibt und nun, als schwarze Amsel, aller Verwandlung und Versehrung zum Trotz weiterlebt. Und sie probiert aus, welche Folgen das Alltägliche auf ihren Zustand haben kann, wenn sie es im Bewusstsein des Verlusts durchführt. So kauft sie, weil M. immer eine solche Freude daran hatte, dem Obsthändler ein paar Orangen ab - einen "Trauerkauf" nennt sie das, ein "Versuchsritual", und was in einem anderen Zusammenhang unzugänglich oder auch banal sein könnte, erhält in diesem Buch, das in jeder Zeile vom Verhältnis zwischen Tod und Leben spricht, eine besondere Dimension: Geht es darum, in den Orangen M.s Bild heraufzubeschwören, ihn gar auf kurze Zeit zurückzuholen? Oder geht es umgekehrt darum, seinen Geist, die Erinnerung an ihn mit einer Art Opfer zu befrieden?
Tatsächlich ist die Erinnerung an M. etwas, das offensichtlich keiner Kontrolle unterliegt - manchmal meldet er sich im Traum, wo er mit verstörender Deutlichkeit in rasender Schnelle aus dem Bereich der Lebenden in den der Toten wechselt. Und er erscheint ganz am Ende des Buchs, als die Erzählerin bei der Abreise nun aus dem Po-Delta ihre Sachen packt, darunter auch die Kameratasche. Dort ertastet sie "in einem nie genutzten Seitenfach einen eckigen Umriss." Der gehört zu einem Negativstreifen, der, gegen das Licht gehalten, auf einmal den "sofort erkannten" M. zeigt. Der blinzelt gegen das Licht, heißt es, und es ist in der Kunst der Autorin begründet, dass man dieses Blinzeln zugleich beiden Situationen geschuldet weiß, einmal der, in der das Bild aufgenommen wurde, zweitens aber der, in der das Negativ wieder gefunden und aus der Dunkelheit der Kameratasche ins italienische Winterlicht gehalten wird.
Es ist ein dem Leben zugewandtes Buch, das doch permanent die Grenzen des Totenreichs und auch des Totengedenkens auslotet, und die kursive Einleitung dieses Geländeromans schlägt den Ton an, der durch das übrige Buch hallt, wenn sie den Raum zwischen Leben und Tod als etwas eigenes beschreibt, etwas, das in keinem der beiden Zustände ganz aufgeht. Es setzt sich fort in vielen Bildern, die diese Grauzone aufs Schönste mit den Mitteln einer Sprache beschreiben, die mühelos den Rhein mit dem Styx überblenden und das deutsche Fährpersonal mit Charon. Und wenn es einmal heißt "Bis hierher gehe dein Totenreich", dann wird man diesen Ausspruch zugleich rührend finden und mutig, keineswegs aber wird man auf seine Wirksamkeit vertrauen.
Einmal, nach Wochen in den Bergen, sitzt die Erzählerin im Gras und blickt über die Landschaft. Jetzt stellt sie eine Verbindung her zwischen den Zielen ihrer bisherigen Ausflüge, und zugleich klingt das, was topographische Beschreibung sein sollte, wie das Sprechen über die eigene Situation, den eigenen Lebensweg nach M.s Tod. Das setzt sich im Traum fort, wo sie für sich selbst die Frage nach der Zugehörigkeit zu den Lebendigen oder den Toten beantworten muss, und ob sie weiterhin unter den Lebenden als Gespenst herumziehen will.
Als sie die Gegend verlässt, notiert sie, wie plötzlich "wie im Märchen" das Bleiherz zerspringt. Auch dies eine zweischneidige Formulierung. Als ob es noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, wovon dieser reiche, traurige, kostbare Roman lebt.
TILMAN SPRECKELSEN
Esther Kinsky: "Hain".
Geländeroman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 287 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.02.2018Falsche Flamingos
Esther Kinskys neues Werk „Hain“ ist eine verzweigte Spurensuche
durch die italienische Landschaft und den Zustand der Trauer
VON HUBERT WINKELS
Nein, Flamingos passen nicht ins Landschaftsbild dieses Romans. Von Weitem gesehen sind sie erträglich, „schienen sie wie eine Ansammlung aus schmutzig rosa Kissen, unbefugt abgeladener Abfall, ausgesonderte Requisiten längst vergessener Vergnügungen, die jetzt darauf warteten, vom Wind weitergetrieben zu werden“. Aber aus der Nähe gesehen bilden sie in ihrer exzentrisch geschwungenen Rosigkeit einen Misston unter den Farben, in die der Roman sich kleidet. Es sind die brauntönigen Winterfarben, das nasse Grau der Bruch- und Fundsteine der Dörfer und Kleinstädte, die im römischen Umland an den Hügeln und Felsaufsätzen kleben. Ein kalter Wind schiebt tief liegende Wolken über dürres Geäst, und in den Tälern steigen fern liegende Rauchsäulen auf vom brennenden Baumschnitt der Zypressen und Olivenbäume. Alles ist ferngerückt und leicht verwaschen, das Nahe ebenso wie das real Entfernte. Glanzloser ist noch keine Landschaft ausgebreitet, glanzloser noch kein Roman gemalt worden. Dafür strahlt er eine Schönheit des Verzichts aus, der Abkehr von allem. Trauer muss die Erde tragen, und voll Trauer gesellt sich die namenlose Erzählerin ihren teuren Toten.
„Geländeroman“ hat Esther Kinsky die Gattung ihres neuen Buchs mit dem Titel „Hain“ genannt. Schon der Ausdruck „Gelände“ hat dieses Ungenaue, Undefinierte einer Szene ohne Kontur, Profil und Orientierung. Gelände ist unterdeterminierte Landschaft. Durch solche Gegend reist die Erzählerin allein. Ihr Mann ist kürzlich gestorben. Die erste Station ihrer dreimonatigen Trauerreise ist Olevano Romano, südlich von Rom, hierzulande berühmt durch die deutschen Maler, die dort eine Kolonie gebildet hatten. Kein Wort davon im Roman, kein Künstlername, die einzige Sehenswürdigkeit ist der Friedhof, der dem Ort gegenüber auf einem Felsplateau liegt und dessen Würdigkeit darin liegt, dass er den Abwesenden einen Raum gibt, Kolumbarien, Gräber, Beinhäuser. Nichts ist spektakulär, alles firmiert an der Grenze zum Unsichtbaren, zum Nichtsein, zur Nicht-Erscheinung. Auf diese immer unscharfen Grenzverläufe hat es Esther Kinsky abgesehen. Sie hat unendlich viele Wörter und Wendungen dafür, ein fast schon unheimlich ausdifferenziertes Vokabular für die Brache, das Marschland, den Hain, das Gehölz, für jenes botanisch-geologische Dazwischen, das auch ein Dazwischen der Bedeutung ist. Sie hat nicht nur einen eigenen Sinn entwickelt für diese fremde Welt ohne Menschen, der sich auf großartige Weise in ihrem Roman „Am Fluss“ offenbart, in dem sie über Hunderte Seiten dem Lauf des eher kleinen Themse-Zuflusses Lea folgt. Sie hat auch, wie sich nun zeigt, einen tiefen Sinn für die Landschaften der Toten. Sie verwandelt die Naturbeschreibung in ein symbolisch hoch verdichtetes Requiem. „Hain“ ist eine italienische Friedhofsbereisung durch und durch, bis in die Gräberstädte der Etrusker hinein, bis in die leisen Tonfälle der Beschreibung, bis zur Selbstzurücknahme des behauptenden Charakters der Worte selbst. So viel Abwesenheit in der Anwesenheit der Wörter war selten, und es ist eine große Kunst.
Man scheut sich ein wenig, dies zu sagen, weil der Roman jede Geste der Größe, erst recht das Superlativische meidet. Er möchte selbst verschwinden in jenem Untergrund der Toten und ist sich doch seiner poetisch setzenden Kraft sehr bewusst. Esther Kinsky verrätselt hier nichts. Gleich im kursiv gesetzten Eingangskapitel erzählt sie vom Brauch des Totengedenkens in den rumänischen orthodoxen Kirchen. Dort befinden sich zwei Gehäuse für angezündete Kerzen. Auf der linken Seite stehen die Kerzen für die Lebenden, die „vii“, auf der rechten die für die Gestorbenen, die „morti“. Und für die eben Gestorbenen wird die noch brennende Kerze von links nach rechts getragen. Der Roman nun siedelt genau in jenem Zwischenbereich, den das Hinübertragen der Kerzen auf die Seite der Toten bildet. „M“ heißt der jüngst verstorbene Gefährte der Erzählerin in „Hain“. „M“ erscheint immer nur ganz kurz, wenige Wörter gelten ihm, aber er ist auch der aktuelle Reisegefährte, und deshalb teilt er alles mit der Erzählerin, oder besser, sie teilt alles mit ihm.
Die winterliche italienische Szenerie, das Totengelände, ist die Erscheinung des Toten in landschaftlicher Gestalt. Das mag zu prätentiös klingen für einen solchen Roman der vordergründigen Bescheidenheit, aber schon sein Motto gibt die Reflexionshöhe ganz ungeniert preis: „Hat es Sinn“, fragt Ludwig Wittgenstein in seiner „Philosophischen Grammatik“, „auf eine Baumgruppe zu zeigen und zu fragen ‚Verstehst du, was dieses Baumgruppe sagt?‘. Im Allgemeinen nicht; aber könnte man nicht mit der Anordnung von Bäumen einen Sinn ausdrücken, könnte das nicht eine Geheimsprache sein?“ Mit der Baumgruppe hätten wir auch schon ein Synonym für Hain, ein ungemein altes und reiches Wort übrigens, das man spontan mit dem Attribut „heilig“ verbindet und das seit Klopstock auch als Sitz der Dichtkunst gelten kann. So wurde der Hain zum Namen einer bedeutenden Dichterschule. Bekannter noch als der Göttinger Hain dürfte die Verbindung des Hains mit den Toten sein, der Totenhain, der campo santo, häufig aus dicht stehenden Zypressen gebildet, von denen es im Roman wiederum, in pointiert symbol-botanischer Entgegensetzung heißt: „Zypressen. Sempervirens, der nie vergehende Totenbaum, ein scharf gegen den Himmel ragendes Widerwort auf die ungestrengen Pinien“. An die Schirmpinien mit ihren ausladenden Kronen auf den Hügeln Roms möchte man denken, ungestreng und ein unbeschwertes Leben anzeigend.
So arbeitet der Roman, Klang, Etymologie und symbolischen Verflechtungen der Wörter in verschiedenen Sprachen nachhorchend, Linien nachzeichnend, die wie die teuren Toten aus der Ferne in die Gegenwart reichen, in einem Zeichensystem von anderer Art. Doch nicht nur die Sprache evoziert mit dürren Zeichen Abwesendes, alle Medien tun dies. Viele davon spielen in Esther Kinsky Roman eine Rolle, ganz unterschiedlich dimensioniert: Zuerst die Fotokamera und die Belichtung der Negative, Geistererscheinung; dann das Fotopositiv und die Diaschau, bei der Vaters Bildordnung zerstört wird; die Erzählerin trägt immer einen Feldstecher bei sich. Als Kind hat sie auf Reisen mit ihren Eltern durch Italien gerne die vorüberziehende Landschaft durch einen kleinen Operngucker betrachtet. An alte Filme, die häufig reißen und deren lose Enden dann nicht mehr passgenau zusammengefügt werden, erinnert sie, was der Erscheinungsform des Unsichtbaren im Sichtbaren entspricht: Das Ruckeln, die Überlappung, Verschiebung und die Risskanten. Das große Apsis-ausfüllende Mosaik, auch jene byzantinischen Wunderwerke in Ravenna, deren vereinzelte und in leichter Nichtpassung gewölbte Steinchen aus der Ferne optisch wieder zur geschlossenen Fläche ergänzt werden. Und immer wieder die Hochreliefs auf den Grabsteinen, die auf italienischen Friedhöfen der Gegenwart durch in Email gefasste Porträtfotografien ersetzt sind. Auch hier sind die Beobachtungen prägnant: Die steinerne Silhouette mit ihrem Blick nach innen, das Emailporträt, das sich im Blick von außen spiegeln will. Verborgen im glanzlosen Glanz der Beschreibungen ist eine Fülle medienpsychologischer Beobachtungen versammelt.
Am Ende des Romans steht in einem kurzen, wiederum kursiv gesetzten Kapitel ein gemaltes Triptychon, eine Predella des geistlichen Malers Fra Angelico. Es ist ein Trauerbild, eine Lamentatio, eine Totenmesse für Franziskus von Assisi. Die Tafeln sind in einen Bereich der Lebenden und einen der Hinterbliebenen geschieden. Die Mitte bildet der Tod. Auch der Roman selbst besteht aus drei Tafeln, „Olevano“ heißt die erste, „Comacchio“ die letzte, nach einer Stadt im Po-Delta, dem dort Land abgerungen wurde, um ein unfruchtbares Salzgelände zu schaffen, wo die falschfarbenen Flamingos stehen und die Nekropolen der Etrusker nicht weit sind. In beiden Gegenden, Geländen, geht die Erzählerin allein; die lebenden Menschen bleiben klein und fern wie geschrumpfte Metaphern. Die mittlere Tafel aber, „Chiavenna“, nach der norditalienischen Kleinstadt, gehört dem anderen ständig mitbedeuteten Toten des Romans, dem Vater der Erzählerin, der mit seiner Familie immer wieder nach Italien gereist ist, die Natur, die Geschichte, die Kunst erklärend, begeistert vor allem anderen von der Malerei, dem himmlischen Blau des Fra Angelico.
Wenn man die dichte symbol- und referenzreiche Arbeit Esther Kinskys würdigen will, kann man hier wie an fast jeder Stelle des Romans innehalten und den Bezügen nachspüren. Auch auf der dreifaltigen Predella findet sich das Blau, das, wie das Rosa der Flamingos, inmitten der Fehlfarben des Romans kein Recht auf ein starkes Dasein hat. Zur mittleren Tafel heißt es im letzten Satz des Romans: „Es ist ein Bild der Trauer, auf dem das blaue Dreieck über den Türmen und Mauern des Klosterhofs niemandem etwas bedeutete, es hängt wie eine kleine Pflichtübung dort am Rand, der kostbare Lapislazuli wurde umsonst mühsam gewonnen und zu Pulver gestoßen, es gereicht zu keinem Trost in der Hinterbliebenenschaft.“
Die Erzählerin ist in erster Linie „Hinterbliebenenschaft“: Die Trauer entindividualisiert, trägt den Einzelnen ein in eine größere Ordnung, macht ihn zum Teil einer Allegorie. Esther Kinsky bewegt sich erzählend auf dem schmalen Grat zwischen Vereinzelung und Symbolik. Auf diese Weise gerät sie auf der individuellen Seite nie ins Sentimentale und auf der bildhaften Seite nicht ins Pathetische. Langsam, fast schwerflüssig ist die Bewegung im Roman, doch äußerst beweglich die Sprache, die diese Bewegungen erzeugt, in ihrer tonalen Heruntergestimmtheit fast ohne Übergang wechselnd von den landschaftlichen Realia zum quasinatürlichen Sinnbild. So entwickeln sich geisterhafte Anwesenheiten. In einem vergessenen Fach einer alten Fototasche findet die Erzählerin ein altes Filmnegativ und erkennt darauf die Umrisse von „M“. Technische Medien und große Kunst sind Totenbeschwörungen. Etwas Trauriges ist ihnen immer zu eigen. Bei der Lektüre von „Hain“ wird die Trauer gar zum Modus der Lektüre. Es ist meisterlich und herzerhebend und gereicht sehr wohl zum Trost der Leserschaft.
Naturbeschreibungen
verwandelt sie in ein symbolisch
verdichtetes Requiem
Hier ist eine ganze Fülle
medienpsychologischer
Beobachtungen versammelt
Man müsste eigentlich an jeder
Stelle innehalten und selbst
den Bezügen nachspüren
Esther Kinsky: Hain.
Geländeroman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
287 Seiten, 24 Euro.
E-Book 20,99 Euro.
Die Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky. Foto: F. Mantovani/Opale/Leemage/laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Esther Kinskys neues Werk „Hain“ ist eine verzweigte Spurensuche
durch die italienische Landschaft und den Zustand der Trauer
VON HUBERT WINKELS
Nein, Flamingos passen nicht ins Landschaftsbild dieses Romans. Von Weitem gesehen sind sie erträglich, „schienen sie wie eine Ansammlung aus schmutzig rosa Kissen, unbefugt abgeladener Abfall, ausgesonderte Requisiten längst vergessener Vergnügungen, die jetzt darauf warteten, vom Wind weitergetrieben zu werden“. Aber aus der Nähe gesehen bilden sie in ihrer exzentrisch geschwungenen Rosigkeit einen Misston unter den Farben, in die der Roman sich kleidet. Es sind die brauntönigen Winterfarben, das nasse Grau der Bruch- und Fundsteine der Dörfer und Kleinstädte, die im römischen Umland an den Hügeln und Felsaufsätzen kleben. Ein kalter Wind schiebt tief liegende Wolken über dürres Geäst, und in den Tälern steigen fern liegende Rauchsäulen auf vom brennenden Baumschnitt der Zypressen und Olivenbäume. Alles ist ferngerückt und leicht verwaschen, das Nahe ebenso wie das real Entfernte. Glanzloser ist noch keine Landschaft ausgebreitet, glanzloser noch kein Roman gemalt worden. Dafür strahlt er eine Schönheit des Verzichts aus, der Abkehr von allem. Trauer muss die Erde tragen, und voll Trauer gesellt sich die namenlose Erzählerin ihren teuren Toten.
„Geländeroman“ hat Esther Kinsky die Gattung ihres neuen Buchs mit dem Titel „Hain“ genannt. Schon der Ausdruck „Gelände“ hat dieses Ungenaue, Undefinierte einer Szene ohne Kontur, Profil und Orientierung. Gelände ist unterdeterminierte Landschaft. Durch solche Gegend reist die Erzählerin allein. Ihr Mann ist kürzlich gestorben. Die erste Station ihrer dreimonatigen Trauerreise ist Olevano Romano, südlich von Rom, hierzulande berühmt durch die deutschen Maler, die dort eine Kolonie gebildet hatten. Kein Wort davon im Roman, kein Künstlername, die einzige Sehenswürdigkeit ist der Friedhof, der dem Ort gegenüber auf einem Felsplateau liegt und dessen Würdigkeit darin liegt, dass er den Abwesenden einen Raum gibt, Kolumbarien, Gräber, Beinhäuser. Nichts ist spektakulär, alles firmiert an der Grenze zum Unsichtbaren, zum Nichtsein, zur Nicht-Erscheinung. Auf diese immer unscharfen Grenzverläufe hat es Esther Kinsky abgesehen. Sie hat unendlich viele Wörter und Wendungen dafür, ein fast schon unheimlich ausdifferenziertes Vokabular für die Brache, das Marschland, den Hain, das Gehölz, für jenes botanisch-geologische Dazwischen, das auch ein Dazwischen der Bedeutung ist. Sie hat nicht nur einen eigenen Sinn entwickelt für diese fremde Welt ohne Menschen, der sich auf großartige Weise in ihrem Roman „Am Fluss“ offenbart, in dem sie über Hunderte Seiten dem Lauf des eher kleinen Themse-Zuflusses Lea folgt. Sie hat auch, wie sich nun zeigt, einen tiefen Sinn für die Landschaften der Toten. Sie verwandelt die Naturbeschreibung in ein symbolisch hoch verdichtetes Requiem. „Hain“ ist eine italienische Friedhofsbereisung durch und durch, bis in die Gräberstädte der Etrusker hinein, bis in die leisen Tonfälle der Beschreibung, bis zur Selbstzurücknahme des behauptenden Charakters der Worte selbst. So viel Abwesenheit in der Anwesenheit der Wörter war selten, und es ist eine große Kunst.
Man scheut sich ein wenig, dies zu sagen, weil der Roman jede Geste der Größe, erst recht das Superlativische meidet. Er möchte selbst verschwinden in jenem Untergrund der Toten und ist sich doch seiner poetisch setzenden Kraft sehr bewusst. Esther Kinsky verrätselt hier nichts. Gleich im kursiv gesetzten Eingangskapitel erzählt sie vom Brauch des Totengedenkens in den rumänischen orthodoxen Kirchen. Dort befinden sich zwei Gehäuse für angezündete Kerzen. Auf der linken Seite stehen die Kerzen für die Lebenden, die „vii“, auf der rechten die für die Gestorbenen, die „morti“. Und für die eben Gestorbenen wird die noch brennende Kerze von links nach rechts getragen. Der Roman nun siedelt genau in jenem Zwischenbereich, den das Hinübertragen der Kerzen auf die Seite der Toten bildet. „M“ heißt der jüngst verstorbene Gefährte der Erzählerin in „Hain“. „M“ erscheint immer nur ganz kurz, wenige Wörter gelten ihm, aber er ist auch der aktuelle Reisegefährte, und deshalb teilt er alles mit der Erzählerin, oder besser, sie teilt alles mit ihm.
Die winterliche italienische Szenerie, das Totengelände, ist die Erscheinung des Toten in landschaftlicher Gestalt. Das mag zu prätentiös klingen für einen solchen Roman der vordergründigen Bescheidenheit, aber schon sein Motto gibt die Reflexionshöhe ganz ungeniert preis: „Hat es Sinn“, fragt Ludwig Wittgenstein in seiner „Philosophischen Grammatik“, „auf eine Baumgruppe zu zeigen und zu fragen ‚Verstehst du, was dieses Baumgruppe sagt?‘. Im Allgemeinen nicht; aber könnte man nicht mit der Anordnung von Bäumen einen Sinn ausdrücken, könnte das nicht eine Geheimsprache sein?“ Mit der Baumgruppe hätten wir auch schon ein Synonym für Hain, ein ungemein altes und reiches Wort übrigens, das man spontan mit dem Attribut „heilig“ verbindet und das seit Klopstock auch als Sitz der Dichtkunst gelten kann. So wurde der Hain zum Namen einer bedeutenden Dichterschule. Bekannter noch als der Göttinger Hain dürfte die Verbindung des Hains mit den Toten sein, der Totenhain, der campo santo, häufig aus dicht stehenden Zypressen gebildet, von denen es im Roman wiederum, in pointiert symbol-botanischer Entgegensetzung heißt: „Zypressen. Sempervirens, der nie vergehende Totenbaum, ein scharf gegen den Himmel ragendes Widerwort auf die ungestrengen Pinien“. An die Schirmpinien mit ihren ausladenden Kronen auf den Hügeln Roms möchte man denken, ungestreng und ein unbeschwertes Leben anzeigend.
So arbeitet der Roman, Klang, Etymologie und symbolischen Verflechtungen der Wörter in verschiedenen Sprachen nachhorchend, Linien nachzeichnend, die wie die teuren Toten aus der Ferne in die Gegenwart reichen, in einem Zeichensystem von anderer Art. Doch nicht nur die Sprache evoziert mit dürren Zeichen Abwesendes, alle Medien tun dies. Viele davon spielen in Esther Kinsky Roman eine Rolle, ganz unterschiedlich dimensioniert: Zuerst die Fotokamera und die Belichtung der Negative, Geistererscheinung; dann das Fotopositiv und die Diaschau, bei der Vaters Bildordnung zerstört wird; die Erzählerin trägt immer einen Feldstecher bei sich. Als Kind hat sie auf Reisen mit ihren Eltern durch Italien gerne die vorüberziehende Landschaft durch einen kleinen Operngucker betrachtet. An alte Filme, die häufig reißen und deren lose Enden dann nicht mehr passgenau zusammengefügt werden, erinnert sie, was der Erscheinungsform des Unsichtbaren im Sichtbaren entspricht: Das Ruckeln, die Überlappung, Verschiebung und die Risskanten. Das große Apsis-ausfüllende Mosaik, auch jene byzantinischen Wunderwerke in Ravenna, deren vereinzelte und in leichter Nichtpassung gewölbte Steinchen aus der Ferne optisch wieder zur geschlossenen Fläche ergänzt werden. Und immer wieder die Hochreliefs auf den Grabsteinen, die auf italienischen Friedhöfen der Gegenwart durch in Email gefasste Porträtfotografien ersetzt sind. Auch hier sind die Beobachtungen prägnant: Die steinerne Silhouette mit ihrem Blick nach innen, das Emailporträt, das sich im Blick von außen spiegeln will. Verborgen im glanzlosen Glanz der Beschreibungen ist eine Fülle medienpsychologischer Beobachtungen versammelt.
Am Ende des Romans steht in einem kurzen, wiederum kursiv gesetzten Kapitel ein gemaltes Triptychon, eine Predella des geistlichen Malers Fra Angelico. Es ist ein Trauerbild, eine Lamentatio, eine Totenmesse für Franziskus von Assisi. Die Tafeln sind in einen Bereich der Lebenden und einen der Hinterbliebenen geschieden. Die Mitte bildet der Tod. Auch der Roman selbst besteht aus drei Tafeln, „Olevano“ heißt die erste, „Comacchio“ die letzte, nach einer Stadt im Po-Delta, dem dort Land abgerungen wurde, um ein unfruchtbares Salzgelände zu schaffen, wo die falschfarbenen Flamingos stehen und die Nekropolen der Etrusker nicht weit sind. In beiden Gegenden, Geländen, geht die Erzählerin allein; die lebenden Menschen bleiben klein und fern wie geschrumpfte Metaphern. Die mittlere Tafel aber, „Chiavenna“, nach der norditalienischen Kleinstadt, gehört dem anderen ständig mitbedeuteten Toten des Romans, dem Vater der Erzählerin, der mit seiner Familie immer wieder nach Italien gereist ist, die Natur, die Geschichte, die Kunst erklärend, begeistert vor allem anderen von der Malerei, dem himmlischen Blau des Fra Angelico.
Wenn man die dichte symbol- und referenzreiche Arbeit Esther Kinskys würdigen will, kann man hier wie an fast jeder Stelle des Romans innehalten und den Bezügen nachspüren. Auch auf der dreifaltigen Predella findet sich das Blau, das, wie das Rosa der Flamingos, inmitten der Fehlfarben des Romans kein Recht auf ein starkes Dasein hat. Zur mittleren Tafel heißt es im letzten Satz des Romans: „Es ist ein Bild der Trauer, auf dem das blaue Dreieck über den Türmen und Mauern des Klosterhofs niemandem etwas bedeutete, es hängt wie eine kleine Pflichtübung dort am Rand, der kostbare Lapislazuli wurde umsonst mühsam gewonnen und zu Pulver gestoßen, es gereicht zu keinem Trost in der Hinterbliebenenschaft.“
Die Erzählerin ist in erster Linie „Hinterbliebenenschaft“: Die Trauer entindividualisiert, trägt den Einzelnen ein in eine größere Ordnung, macht ihn zum Teil einer Allegorie. Esther Kinsky bewegt sich erzählend auf dem schmalen Grat zwischen Vereinzelung und Symbolik. Auf diese Weise gerät sie auf der individuellen Seite nie ins Sentimentale und auf der bildhaften Seite nicht ins Pathetische. Langsam, fast schwerflüssig ist die Bewegung im Roman, doch äußerst beweglich die Sprache, die diese Bewegungen erzeugt, in ihrer tonalen Heruntergestimmtheit fast ohne Übergang wechselnd von den landschaftlichen Realia zum quasinatürlichen Sinnbild. So entwickeln sich geisterhafte Anwesenheiten. In einem vergessenen Fach einer alten Fototasche findet die Erzählerin ein altes Filmnegativ und erkennt darauf die Umrisse von „M“. Technische Medien und große Kunst sind Totenbeschwörungen. Etwas Trauriges ist ihnen immer zu eigen. Bei der Lektüre von „Hain“ wird die Trauer gar zum Modus der Lektüre. Es ist meisterlich und herzerhebend und gereicht sehr wohl zum Trost der Leserschaft.
Naturbeschreibungen
verwandelt sie in ein symbolisch
verdichtetes Requiem
Hier ist eine ganze Fülle
medienpsychologischer
Beobachtungen versammelt
Man müsste eigentlich an jeder
Stelle innehalten und selbst
den Bezügen nachspüren
Esther Kinsky: Hain.
Geländeroman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
287 Seiten, 24 Euro.
E-Book 20,99 Euro.
Die Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky. Foto: F. Mantovani/Opale/Leemage/laif
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Eine abgespecktere Literatur als Esther Kinskys Roman "Hain" ist kaum vorstellbar - ein Buch wie dieses zu lesen, wahrscheinlich auch es zu schreiben, ist die absolute "ästhetische Askese", so der Rezensent Ijoma Mangold - schwierig, manchmal anstrengend und bestimmt nichts für jeden. Das wäre zu glauben, allerdings lässt der Chor der Lobeshymnen in den Feuilletons anderes vermuten: Esther Kinskys literarisches Programm scheint in all seiner Magerkeit zu überzeugen. Der asketische Charakter dieser Literatur scheint ihr eine besondere zähe Kraft zu verleihen, eine Kraft, die auch die Erzählerin in diesem Roman braucht, denn ihr ist vor kurzem ein geliebter Mensch abhanden gekommen. Diesen Verlust zu verarbeiten, reist sie nach Italien, wo sie während der Wintermonate viel spaziert, ihre Umwelt jedoch stets und auch erzählerisch auf Distanz hält. Mangold nennt den Roman ein "Trauerbuch" und ist besonders von der kalten Schärfe und Genauigkeit angetan. Dazu verwende die Autorin eine beeindruckende Palette von Grautönen, die in ihrer Vielfalt wohl kaum zu übertreffen sei. In diesem ernsten Grau-in-Grau, in der gestochenen Schärfe und literarischen Selbstkasteiung liegt allerdings eine ganz eigene Form von Pathetik - fast schon ein bisschen "prätentiös", so der zwinkernde Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Auch wer schreibt, bewegt sich auf undefiniertem Gelände ... Esther Kinsky ist bisher vor allem als Lyrikerin und Übersetzerin hervorgetreten. Und vielleicht sind diese Nuancen der äusseren und inneren Landschaften nur einer Übersetzerin möglich, jemandem, der am Gewicht der Worte trägt und jeden Satz auf die Goldwaage legt, bis er so leicht wie eine Vogelfeder geworden ist.« Andrea Köhler Neue Zürcher Zeitung 20180608