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Produktdetails
  • Verlag: Volk und Welt
  • Originaltitel: Poluostrov Zidjatin
  • Seitenzahl: 357
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 512g
  • ISBN-13: 9783353011282
  • ISBN-10: 3353011285
  • Artikelnr.: 24051778
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2014

Wenn russische Jungs von Marilyn Monroe träumen
Sprachgewaltig und spitzfindig: Oleg Jurjew komponiert seinen Roman "Halbinsel Judatin" neu

Dass man sein kann, wer und was man will, ist ein amerikanischer Traum, der vor dem Hintergrund der sowjetischen Realität zu westlichem Flitter zerfiel. In Billy Wilders Film "Manche mögen's heiß" gaukeln die Hauptakteure aus mehr oder weniger ehrbaren Gründen stets vor, jemand anderer zu sein, und werden am Ende doch für das geliebt, was sie sind. "Nobody is perfect", meinte der Millionär Osgood gelassen, als sich seine angebetete Lady als männlicher Jerry entpuppte, der Liebe tat's keinen Abbruch.

Der Film war wohl in der Sowjetunion der achtziger Jahre ein Renner. In Oleg Jurjews nach Überarbeitung durch den Autor neu aufgelegtem Roman "Halbinsel Judatin" durchkreuzen er und vor allem seine Hauptdarstellerin Marilyn Monroe die Tagträume zweier Dreizehnjähriger, die fieberkrank in einem alten Packhaus liegen. Das stammt noch aus den Zeiten Peters des Großen, als der von dieser fiktiven Insel Judatin aus Baumaterial für sein neues Rom an die Newa-Mündung transportieren ließ.

Es sind die Tage vor dem russischen Osterfest 1985. Im fernen Moskau stirbt der greise Parteichef Tschernenko; was von seinem Nachfolger zu halten ist, weiß man noch nicht. Dass mit diesem Gorbatschow das sowjetische Imperium schon bald seinem Untergang entgegenrasen sollte, ahnt im russisch-finnischen Grenzgebiet jedenfalls keiner. Im Sperrgebiet herrscht der allgemeine Schlendrian der späten Sowjet-Ära. Die Kinder tauschen bei durchreisenden finnischen Touristen Sowjetabzeichen gegen Kaugummis oder Bibeln ein. Die Zigeuner, die von den sowjetischen Behörden in einer Pelztierkolchose vergeblich sesshaft gemacht werden sollten, ziehen pünktlich im Frühjahr wieder ins Nomadendasein davon, kein Fünfjahresplan kann sie aufhalten. Die hehren Ziele des Sozialismus haben sich im Rausch aus billigem Fusel verflüchtigt. Selbst die Grenztruppen sind nicht mehr, was sie mal waren.

Hin und wieder verschwinden Inselbewohner, unlängst zwei Lehrerinnen. Dass es sich um eine Flucht in den Westen handeln könnte, wird tunlichst verschwiegen. Derzeit sucht man angeblich einen russischen Jungen, die Leute munkeln, Juden könnten ihn gekidnappt haben, als Opfergabe zum Pessachfest. Pogromstimmung liegt in der Luft.

Vielleicht hatte der 1959 im damaligen Leningrad geborene Oleg Jurjew die Sentenz französisch-jüdischen Philosophen Jacques Derrida, man sei umso mehr Jude, je weniger man einer sei, im Sinn, als er 1999 seinen Roman über zwei jüdische Daseinsweisen veröffentlichte - über einen Marranen und über einen säkularen, ungläubigen Juden. Der Marrane ist als unter dem Druck der Assimilierung im Spanien und Portugal der Reconquista zum Christentum übergetretener Israelit eine zentrale Identifikationsfigur bei Derrida. Sie steht dafür, dass wir nie ganz mit uns identisch, also nie ganz das sind, was Kultur, Geschichte und Gesellschaft aus uns gemacht haben.

Jurjew, als Jude in der Sowjetunion sozialisiert und seit 1991 als russisch schreibender Schriftsteller in Deutschland lebend, ist Experte, wenn es um komplizierte Fragen der Identität geht. Als Jude, als Dichter, als Intellektueller war er, wie er in der Dankesrede für den Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil sagte, in seinem Herkunftsland gleich mehrfach in der Diaspora. Die sowjetische Realität habe er auch deshalb nur als trüben Film wahrgenommen, der das wirkliche Leben umhüllte.

Ähnlich ergeht es seinen beiden Helden, aus deren Erinnerungen und vom Fieber getrübten Eindrücken der Außenwelt zwei miteinander verflochtene Monologe entstehen. Im Packhaus leben die Judatas: Oma Raja und deren dreizehnjähriger Enkel, seine älteren Schwestern und der geistig behinderte Jascha. Sie führen ihren Stammbaum auf spanische Marranen zurück, Kryptojuden, die unter sagenumwobenen Umständen in den Norden Russlands gelangten und unter Nikolaus I. dem Druck zur Russifizierung nachgaben, sich insgeheim aber als Hüter jüdischer Riten und Gebote betrachteten. Die alte semitische Sprache haben sie längst verloren; was sich erhalten hat, ist krude mündlich überliefert oder einer entwendeten Bibel aus vorrevolutionären Zeiten entnommen.

Rajas Enkel muss fiebernd das Bett hüten, die Folgen seiner späten Beschneidung werden mit Mohnsalbe und Mohntrunk auskuriert. Der rasende Bewusstseinsstrom des Jungen, in dem er nicht nur über die Lebenswelt von Judatin, sondern auch über den Auszug der Juden aus Ägypten, das Pessachfest, den Propheten Elias und die Aufschüttung eines Berges Sinai auf Judatin phantasiert, verwebt sich in der nun von Jurjew neu komponierten Version seines Romans mit dem seines Doppelgängers Jasytschkin, der eine Etage tiefer mit einer Grippe flachliegt. Der ist ein waschechter Leningrader und säkularer Jude, ein "irrgläubiger Heide", wie sein Name im Russischen besagt, der nicht einmal weiß, was Hebräer sind, wenn ihn seine Klassenkameraden als solchen beschimpfen. Beide Knaben glauben, der jeweils andere sei der angeblich von Juden gekidnappte Junge, keiner weiß vom Jüdischsein des anderen.

Wer von den beiden Jungen ist nun Jude oder wer mehr und wer weniger? Der fiebernde Marrane, dessen Großmutter glaubt, sie seien die Letzten ihres Volkes, oder der Säkulare, der keine Ahnung über seine Herkunft hat, im sowjetischen Alltag aber stets dafür gehänselt wird? In der bigotten Welt der sowjetischen Mimikry tragen beide in sich das Geheimnis über ihre Identität, zu dem sie keinen Zugang mehr haben, obwohl es ihr Leben bestimmt "Judatin" hat im Deutschen einen recht harmlosen Klang, im Russischen steckt darin ein böses antisemitisches Schimpfwort. Elke Erb und Sergej Gladkich haben ihr Bestes gegeben, diesen von Wortkaskaden, zeitgeschichtlichen und biblischen Zitaten oder Persiflagen überquellenden Text in ein musikalisch vibrierendes Deutsch zu bringen, das dem sprachgewaltigen zweistimmigen Original gerecht wird. Manchmal hätte man sich ein Glossar gewünscht, doch Autor und Verlag haben sich offensichtlich für den mündigen Leser entschieden. Nobody is perfect.

SABINE BERKING.

Oleg Jurjew. "Halbinsel Judatin". Roman. Vom Autor neugeordnete Fassung.

Aus dem Russischen von Elke Erb, Mitarbeit Sergej Gladkich. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2014. 300 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.05.2000

Doppelte Buch-Führung
Oleg Jurjews russisch-jüdische „Halbinsel Judatin”
Oleg Jurjew oder die Liebe eines Schriftstellers zur Geometrie: In seinem „sechseckigen” Debütroman „Der Frankfurter Stier” von 1996 griff er eine Begebenheit aus der Chronik der jüdischen Gemeinde Frankfurts auf, die schon Achim von Arnim in der Erzählung Die Majoratsherren” erwähnt. Im Jahre 1640 wurde ein Rind regelrecht exekutiert, nachdem das auf dem Judenfriedhof grasende und dort zum Wahrzeichen gewordene Tier (christliche) Bürgerkinder angeblich „übel beschädigt” hatte. Das Inhaltsverzeichnis des Frankfurter Stiers” ist dem sechseckigen Davidstern oder dem Sechseck aus der Kabbala nachgebildet. Religiöse Gestalten wie der Golem und der Urmensch Adam Kadmon geleiten beim Lesen um die sechs Ecken, eine Geometrie der Wunder entfaltend. Die poetische Qualität von Jurjews Sprache samt ihrem Reichtum an Bildern, Wendungen und Windungen lässt sich nur unzulänglich wiedergeben. Seine Phänomenologie hat ein eigenes, unverkennbares Muster.
Oleg Jurjew wurde 1959 im damaligen Leningrad als Sohn assimilierter russischer Juden geboren. 1992 war er, der seit 1990 abwechselnd in Frankfurt am Main und in seiner Geburtsstadt lebt, Stipendiat der Stuttgarter Akademie Solitude. Die hauseigene Edition veröffentlichte seine Leningrader Geschichten”, ein Buch über „Bäume, Insekten, Frauen und natürlich über den Mond”. 1993 erregte er als „zufälliger Dramatiker” mit der Aufführung seines Theaterstücks Kleiner Pogrom am Bahnhofsbüffet” bei den Berliner Festwochen Aufsehen. Die Unterdrückung und nicht selten offene Feindseligkeit gegenüber Juden in der antizionistischen Sowjetunion und der Russischen Föderation ist ein ständiges, oft ironisiertes Thema seiner Arbeiten.
Zwei Ideenwelten, zwei Idiome
Jurjews neues Buch Halbinsel Judatin” wurde wie Der Frankfurter Stier” vom Übersetzerduo Elke Erb und Sergej Gladkich in ein stupendes, verspieltes, quicklebendiges Deutsch gebracht. Der Roman besticht zunächst durch seine symmetrische Anlage. Es handelt sich um ein Zwitterwesen, ein doppeltes Buch, das sowohl vorwärts als auch rückwärts aufgeschlagen werden kann. Ist man lesend in der Mitte angelangt, dreht man den Band auf den Kopf und fängt mit der entgegengesetzten Geschichte an. Auch hier also wieder eine besondere äußere Form, ein ausgetüfteltes Ideengehäuse. Der Autor, ein autonomer Post-Avantgardist, weiß es auszufüllen.
Eine Halbinsel namens Judatin gibt es nicht. Die aus zwei inneren Monologen bestehende Handlung spielt sich an einem Küstenort bei Wyborg nahe der finnischen Grenze ab, am 5. und 6. April 1985. Es ist der Termin des jüdischen Osterfestes, unmittelbar nach der Ernennung Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU. Auf zwei Stockwerken eines „Packhauses”, das unter Peter dem Großen auf der „Judatschen Landzunge (auf russisch: ,Grenzsperrzone Halbinsel Judatin‘)” errichtet wurde, liegen zwei Dreizehnjährige fiebernd im Bett. Sie lassen ihren Gedanken freien Lauf. Vom Judentum des jeweils anderen wissen sie nichts. Es kursiert das üble Gerücht, ein russischer Junge sei von Juden entführt worden, um für Pessach rituell geopfert zu werden. So sorgen sich beide um den anderen – den sie für einen Nichtjuden halten. Jeder von ihnen lauert auf ein Exemplar der Pionerskaja Prawda am Kiosk „Kulturwaren. Lebensmittel. Petroleum”. Um die Kioskverkäuferin Werka, „weißleuchtend mit ihrem großen Gesicht, gelbleuchtend mit ihrer mächtigen Frisur” ranken sich aparte pubertäre Phantasien.
Das eine Haus wird von zwei unterschiedlichen Traditionen des Judentums bevölkert, zwei völlig gegensätzlichen Ideenwelten und den entsprechenden Idiomen. Im Dachgeschoss erholt sich der einheimische Sohn der Familie Judata, Großmutter Rajas „Fürstchen”, von der rituellen Beschneidung. Im Alter von dreizehn Jahren ist er ein Bar Mizwa, ein hebräischer „Gesetzespflichtiger”. Die Judatas sind sogenannte Marranen oder Kryptojuden, getaufte Juden, die im Zuge der sogenannten Jüdischen Häresie nach 1471 konvertieren mussten, ihren Glauben aber heimlich bewahrt haben. Aufgrund der Verfolgungen zogen sie sich in die Einöde zurück. Ihr Selbstverständnis ist das von Auserwählten, Übriggebliebenen, Hütern der Schrift. „Wir sind die einzigen Juden auf dieser Welt, andere gibt es nicht mehr”, suggeriert Raja dem Enkel.
Rückzug steht gegen Weltoffenheit, Geborgenheit gegen erschwerte, da wurzellose Orientierung. Im Dachgeschoss werden die alten Mythen gepflegt und für das Jahr 2000 nicht der Kommunismus, sondern das Jüngste Gericht erwartet. Während in dieser Enklave der Bogen von Moses’ Gesetzestafeln bis zur Ankunft des Propheten Elias am Wyborger Bahnhof geschlagen wird, tobt im Parterre das fröhliche Chaos der Agnostiker: Nicht die heilige Schrift, sondern Radio und Fernseher liefern die Trivialmythen. Hier ist die assimilierte jüdische Familie Jasytschnik aus Leningrad zu Gast: der erkältete Sohn, seine Schwester sowie deren Mann Jakow Markowitsch Permanent. „Bloß gut, dass unsere untrigen Urlauber zum russischen Ostern aus dem Packhaus abgefahren sein werden: Wenigstens klebt sich dann Jakow Markowitsch, dieser unbeschnittene Mieterin-Gatte, mit seinem ewigen Gebabbel nicht an uns wie ein Birkenblatt im Dampfbad”, denkt sich der Junge unterm Dach. Der andere wundert sich über den Familiennamen Judata: „Klingt wie opjata, diese Stockschwämme. Ich war noch nie bei ihnen oben. ”
Für den Leningrader Ich-Erzähler ist seine Zugehörigkeit zum Judentum etwas Abstraktes. „Hebräer” kennt er eigentlich nur aus dem Fernsehen. Ihn beschäftigt weit mehr die politische Lage, das Interregnum nach Andropows und Tschernenkos Tod: Wird der Neue im Kreml den Personenkult wieder einführen? Grell scheinen Versatzstücke der sowjetischen Alltagskultur auf, verdichten sich zu einem urkomischen Potpourri aus der Sicht eines Heranwachsenden. Kaskaden von Namen, Adjektiven, behördlichen Bezeichnungen bringen ein kleines sowjetisches Universum in seinen Monolog. Allerdings befördert diese Suada von Sinneseindrücken zugleich eine starke Künstlichkeit des Textes.
Halbinsel Judatin” birgt durch die raffinierte Doppelstruktur ein modernes Museum des Judentums: Im einen Teil ist die weltliche Variante, im anderen eine aus der Zeit gefallene geheimbündlerische Tradition zu besichtigen. Nebenbei versendet der Roman Morsezeichen aus der Sowjetunion kurz vor ihrem Untergang – auch damit vermittelt er spielerisch Historizität. Oleg Jurjew bewahrt Aspekte jüdischer Identität, indem er sie durch Sprache neu erschafft. Selten war Geometrisches so beredt.
KATRIN HILLGRUBER
OLEG JURJEW: Halbinsel Judatin. Roman. Aus dem Russischen von Elke Erb und Sergej Gladkich. Verlag Volk & Welt, Berlin. 359 Seiten, 38 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Viel Wissenswertes teilt Katrin Hillgruber hier über die eigentliche Besprechung hinaus mit: über den Debütroman „Der Frankfurter Stier“, in sechseckigem Format 1996 erschienen, und ein paar andere Werke des 1959 in Leningrad geborenen „Sohnes assimilierter russischer Juden“, der seit 1990 zwischen seinem Geburtsort und Frankfurt pendelt. Der neue Roman ist wieder in besonderer Form gedruckt; man kann das Buch zunächst von vorn nach hinten lesen, muss in der Mitte angekommen es jedoch umdrehen und vom Rücken her die Lektüre, wieder bis zur Mitte laufend, fortsetzen. Dies zeichnet, so Hillgruber, den Schriftsteller als „autonomen Post-Avangardisten“ aus, der das zugrundeliegende „Ideengehäuse“ jedoch auch auszufüllen versteht. Worum es geht, das beschreibt die Rezensentin im weiteren als „modernes Museum des Judentums“. Dessen schon so handgreiflich vorgeführte Doppelstruktur ist ausgefüllt mit der „weltlichen Variante“ und einer eher „geheimbündlerischen Tradition“ des sowjetischen Judentums; ausgespielt wird beides in einem Haus in der Nähe der finnischen Grenze zu Pessach 1985, direkt nach Gorbatschows Ernennung. Im oberen Stockwerk erzählen sich zwei Halbwüchsige, die einander nicht als Juden erkennen, von ihren Ängsten über antisemitische Gerüchte, während unten im Haus das „fröhliche Chaos der Agnostiker“ herrscht. Mit seiner Mischung aus „Versatzstücken der sowjetischen Alltagskultur“ aus Radio und Fernsehen und halb- bzw. gar-nicht-verstandenen Bruchstücken jüdischer Tradition vermittelt der Roman, so Hillgruber, auf spielerische Weise einen Eindruck vielfältiger Identitätsverwirrung: „Oleg Jurjew bewahrt Aspekte jüdischer Identität, indem er sie durch Sprache neu erschafft.“

© Perlentaucher Medien GmbH
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