Eine Wanderung über den Berliner Invalidenfriedhof und die Lebensgeschichte der jungen Fliegerin Marga von Etzdorf - Uwe Timms vielstimmiger und vielschichtiger Roman.
Marga von Etzdorf - eine Fliegerin und ihre Geschichte
Bei einem ihrer spektakulären Langstreckenflüge lernt die junge Fliegerin Marga von Etzdorf einen deutschen Diplomaten kennen und verbringt eine ungewöhnliche Nacht mit ihm, nah und doch getrennt. Wenig später, im Mai 1933, erschießt sie sich in Aleppo, Syrien. Was ist geschehen?
Uwe Timms Erzähler wandert Jahrzehnte später über den Berliner Invalidenfriedhof, wo Marga von Etzdorfs Grab liegt, aber auch die von Scharnhorst und Heydrich. Er hört die Stimmen der Toten, forscht nach Margas, nach unserer Geschichte.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Marga von Etzdorf - eine Fliegerin und ihre Geschichte
Bei einem ihrer spektakulären Langstreckenflüge lernt die junge Fliegerin Marga von Etzdorf einen deutschen Diplomaten kennen und verbringt eine ungewöhnliche Nacht mit ihm, nah und doch getrennt. Wenig später, im Mai 1933, erschießt sie sich in Aleppo, Syrien. Was ist geschehen?
Uwe Timms Erzähler wandert Jahrzehnte später über den Berliner Invalidenfriedhof, wo Marga von Etzdorfs Grab liegt, aber auch die von Scharnhorst und Heydrich. Er hört die Stimmen der Toten, forscht nach Margas, nach unserer Geschichte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2009Seufzen und Sausen
In seinem bewundernswert kunstvollen Roman über die Fliegerin Marga von Etzdorf hebt Uwe Timm den Sagenschatz des preußisch-deutschen Altertums.
Etwa in der Mitte seines Romans "Halbschatten" lässt Uwe Timm die Fliegerin Marga von Etzdorf davon erzählen, wie sie 1930 bei einem Spaziergang in der nordafrikanischen Wüste von zwei spanischen Offizieren gebeten worden sei, ein deutsches Gedicht aufzusagen. "Und als ich fragte, von welchem deutschen Dichter, antworteten beide wie aus einem Munde: Heine." Aus dem Gedicht "Abenddämmerung" aus dem "Buch der Lieder" zitiert der Roman die letzten zehn Verse, deren erste drei lauten: "Wenn wir am Sommerabend, / Auf den Treppensteinen der Haustür, / Zum stillen Erzählen niederkauerten".
Im zitierten Teil des Gedichts bleibt implizit, was vorher ausgesprochen worden ist: dass das Ich des Gedichts ein männliches ist. Der Dichter erzählt, was er "einst, als Knabe, / Von Nachbarskindern vernahm": Sagen und Märchen. Die Wahl dieses Gedichts sagt etwas über die Frau aus, die es rezitiert, und über den Roman, in dem es zitiert wird. Bei Marga von Etzdorf, die in der Luft singt und sich Gedichte von Heine und Eichendorff aufsagt, sind es Erzählungen aus der Kindheit, die, ihren Erzählungen zufolge, ihr den Berufswunsch der Fliegerin eingegeben haben.
Auf dem Landgut der Großeltern tauchte eines Tages ein Amerikaner auf, der ihr als Erster vom Fliegen erzählte. Er war im Krieg zum Piloten ausgebildet worden, aber nicht mehr zum Einsatz gekommen. Noch bevor aber die Rede auf diese Himmelsabenteuer des Gastes kam, hatte er die fünfzehnjährige Marga und ihre Schwester schon fasziniert allein durch die Art, wie er sich bewegte. Timms Roman ist ein Gewebe aus Erzählungen. Alles, was der Roman erzählt, wird schon als Erzähltes wiedergegeben, in der Regel durch eine Kette von Erzählerfiguren vermittelt. Aber jeder Erzählung ging ein sinnliches Erlebnis voraus, das kein Erzähler vorweggenommen hatte, ein unvermittelt eintretendes Ereignis. Wie der junge Amerikaner dastand in der Halle des Gutshauses, "ein wenig den Kopf zur Seite geneigt, eine Hand in der Hosentasche", war er "tatsächlich eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt". Er hatte den Auftritt einer sagenhaften Gestalt. Deshalb konnte sich an den unangemeldeten Besucher im Gedächtnis der Schwestern eine legendäre Überlieferung knüpfen.
Als Marga von Etzdorf 1931 nach ihrem Rekordflug japanischen Boden betrat, erwartete sie ein Wiedergänger des Kindheitshelden, der Diplomat Christian von Dahlem, der tatsächlich an Luftschlachten teilgenommen hatte. In Timms historischem Roman, der stellenweise einen dokumentarischen Anspruch erheben kann, ist Dahlem die auffälligste erfundene Figur: eine mythische Gestalt, ein moderner, problematischer Halbgott, die Verkörperung der Bestimmung im Leben der Marga von Etzdorf, als die sie die Fliegerei erkannte. Zum Unterpfand der Verbindung, welche die Etzdorf und Dahlem in der ersten Nacht in Japan eingehen, als sie einander, von einer Stoffwand getrennt, ihre Lebensgeschichten erzählen, wird ein Zigarettenetui. Es hatte Dahlem bei einem Luftkampf das Leben gerettet. Vollendet wird das Bild der unpreußischen Lässigkeit, das der Amerikaner abgegeben hatte, durch die Zigarette.
Dahlem hat das im Krieg erlernte Fliegen nicht zum Beruf gemacht. So hätte eine Liebesbeziehung zur Voraussetzung, dass er die Vertauschung der Geschlechterrollen akzeptieren müsste. Marga von Etzdorf erzählt, indem sie unter dem Sternenhimmel der Wüste Heines "Abenddämmerung" aufsagt, alles über sich: Seit jeher sah sie sich in ihren Sagen und Märchen als Knabe.
In den im Roman nicht zitierten Versen des Gedichts wird das Wellenrauschen am Strand beschworen, das dem Dichter die Erzählungen der Sommerabende ins Gedächtnis ruft: "Ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen, / Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen, / Dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen". Diese Verse verweisen auf die Poetik des Romans, dessen Form der Autor mit einer musikalischen Gattung verglichen hat: dem Oratorium. Die Stimme Marga von Etzdorfs, die sich am 28. Mai 1933 nach der Landung in Aleppo erschossen hat und auf dem Berliner Invalidenfriedhof begraben wurde, wechselt sich ab mit den Stimmen anderer historischer Persönlichkeiten, deren Gräber sich auf demselben Friedhof finden beziehungsweise, wie im Fall von Reinhard Heydrich, gerade nicht mehr finden.
Da das seltsame Geräusch, das dem Ich-Erzähler in die Ohren steigt, als er unter dem Geleit eines Fremdenführers über den Friedhof wandert, nicht aus dem Wasser kommt, sondern aus der Erde, einer Erde, in die Massenmörder mit größtem Pomp und Zufallsopfer des Endkampfs um Berlin ohne Zeremoniell versenkt worden sind, mischen sich ins Murmeln, Seufzen und Sausen unheimlichere Töne, ein Röcheln und Gurgeln, ist das Lachen ein Scheppern und Meckern. Die Rezitation der Rezitation der "Abenddämmerung" ruft in der Totenstadt das Gezeter eines Nachbarn hervor: "Was ist das für ein Gejüdel. Is doch von Heine, gell?" Unfriedlich liegen Helden, Versager und Verbrecher beieinander, an letzte Ruhe ist nicht zu denken.
Uwe Timm hat eine Welt erhebender und abschreckender Erzählungen ausgegraben, den Sagenschatz des preußisch-deutschen Altertums. Wie über diese Lebensform zu richten ist, die uns ferner gerückt ist als je eine mythische Vorzeit, das gibt die überaus kunstvolle, dabei bewundernswert ökonomische und insofern urpreußische Machart der Stimmencollage nicht vor. Können wir dem kurzen Leben der Langstreckenfliegerin mit dem gewaltsamen Ende im Jahre des Unheils eine Bedeutung in der Erzählung unserer Nationalgeschichte zuweisen?
Der spanische Hauptmann, der Heine zu hören wünschte, hatte Marga von Etzdorf ein Gedicht von Federico García Lorca mit dem Titel "Memento" vorgetragen. "Ich hörte die Sprache, die Melodie, ohne zu verstehen, und doch verstand ich. Ein Gedicht, in dem der Tod aufgehoben war, aufgehoben im Klang." Die zweite Strophe lautet: "Wenn ich dereinst sterbe / zwischen den Orangen / und den guten Minzen." Die Fliegerin hatte den Soldaten Orangen mitgebracht. Die dritte Strophe: "Wenn ich dereinst sterbe, / dann begrabt mich, wenn ihr wollt, / in einer Wetterfahne."
Marga von Etzdorf verursacht in Aleppo eine Bruchlandung, weil sie mit dem Wind statt gegen den Wind landet. Der französische Kommandant des Flughafens versucht sie zu trösten. "Er zeigt auf den Windsack, um deutlich zu machen, der Windsack war sichtbar und vorschriftsmäßig angebracht." So subtil und diskret ist dieser bewegende Roman gearbeitet.
PATRICK BAHNERS
Uwe Timm: "Halbschatten". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 270 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem bewundernswert kunstvollen Roman über die Fliegerin Marga von Etzdorf hebt Uwe Timm den Sagenschatz des preußisch-deutschen Altertums.
Etwa in der Mitte seines Romans "Halbschatten" lässt Uwe Timm die Fliegerin Marga von Etzdorf davon erzählen, wie sie 1930 bei einem Spaziergang in der nordafrikanischen Wüste von zwei spanischen Offizieren gebeten worden sei, ein deutsches Gedicht aufzusagen. "Und als ich fragte, von welchem deutschen Dichter, antworteten beide wie aus einem Munde: Heine." Aus dem Gedicht "Abenddämmerung" aus dem "Buch der Lieder" zitiert der Roman die letzten zehn Verse, deren erste drei lauten: "Wenn wir am Sommerabend, / Auf den Treppensteinen der Haustür, / Zum stillen Erzählen niederkauerten".
Im zitierten Teil des Gedichts bleibt implizit, was vorher ausgesprochen worden ist: dass das Ich des Gedichts ein männliches ist. Der Dichter erzählt, was er "einst, als Knabe, / Von Nachbarskindern vernahm": Sagen und Märchen. Die Wahl dieses Gedichts sagt etwas über die Frau aus, die es rezitiert, und über den Roman, in dem es zitiert wird. Bei Marga von Etzdorf, die in der Luft singt und sich Gedichte von Heine und Eichendorff aufsagt, sind es Erzählungen aus der Kindheit, die, ihren Erzählungen zufolge, ihr den Berufswunsch der Fliegerin eingegeben haben.
Auf dem Landgut der Großeltern tauchte eines Tages ein Amerikaner auf, der ihr als Erster vom Fliegen erzählte. Er war im Krieg zum Piloten ausgebildet worden, aber nicht mehr zum Einsatz gekommen. Noch bevor aber die Rede auf diese Himmelsabenteuer des Gastes kam, hatte er die fünfzehnjährige Marga und ihre Schwester schon fasziniert allein durch die Art, wie er sich bewegte. Timms Roman ist ein Gewebe aus Erzählungen. Alles, was der Roman erzählt, wird schon als Erzähltes wiedergegeben, in der Regel durch eine Kette von Erzählerfiguren vermittelt. Aber jeder Erzählung ging ein sinnliches Erlebnis voraus, das kein Erzähler vorweggenommen hatte, ein unvermittelt eintretendes Ereignis. Wie der junge Amerikaner dastand in der Halle des Gutshauses, "ein wenig den Kopf zur Seite geneigt, eine Hand in der Hosentasche", war er "tatsächlich eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt". Er hatte den Auftritt einer sagenhaften Gestalt. Deshalb konnte sich an den unangemeldeten Besucher im Gedächtnis der Schwestern eine legendäre Überlieferung knüpfen.
Als Marga von Etzdorf 1931 nach ihrem Rekordflug japanischen Boden betrat, erwartete sie ein Wiedergänger des Kindheitshelden, der Diplomat Christian von Dahlem, der tatsächlich an Luftschlachten teilgenommen hatte. In Timms historischem Roman, der stellenweise einen dokumentarischen Anspruch erheben kann, ist Dahlem die auffälligste erfundene Figur: eine mythische Gestalt, ein moderner, problematischer Halbgott, die Verkörperung der Bestimmung im Leben der Marga von Etzdorf, als die sie die Fliegerei erkannte. Zum Unterpfand der Verbindung, welche die Etzdorf und Dahlem in der ersten Nacht in Japan eingehen, als sie einander, von einer Stoffwand getrennt, ihre Lebensgeschichten erzählen, wird ein Zigarettenetui. Es hatte Dahlem bei einem Luftkampf das Leben gerettet. Vollendet wird das Bild der unpreußischen Lässigkeit, das der Amerikaner abgegeben hatte, durch die Zigarette.
Dahlem hat das im Krieg erlernte Fliegen nicht zum Beruf gemacht. So hätte eine Liebesbeziehung zur Voraussetzung, dass er die Vertauschung der Geschlechterrollen akzeptieren müsste. Marga von Etzdorf erzählt, indem sie unter dem Sternenhimmel der Wüste Heines "Abenddämmerung" aufsagt, alles über sich: Seit jeher sah sie sich in ihren Sagen und Märchen als Knabe.
In den im Roman nicht zitierten Versen des Gedichts wird das Wellenrauschen am Strand beschworen, das dem Dichter die Erzählungen der Sommerabende ins Gedächtnis ruft: "Ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen, / Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen, / Dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen". Diese Verse verweisen auf die Poetik des Romans, dessen Form der Autor mit einer musikalischen Gattung verglichen hat: dem Oratorium. Die Stimme Marga von Etzdorfs, die sich am 28. Mai 1933 nach der Landung in Aleppo erschossen hat und auf dem Berliner Invalidenfriedhof begraben wurde, wechselt sich ab mit den Stimmen anderer historischer Persönlichkeiten, deren Gräber sich auf demselben Friedhof finden beziehungsweise, wie im Fall von Reinhard Heydrich, gerade nicht mehr finden.
Da das seltsame Geräusch, das dem Ich-Erzähler in die Ohren steigt, als er unter dem Geleit eines Fremdenführers über den Friedhof wandert, nicht aus dem Wasser kommt, sondern aus der Erde, einer Erde, in die Massenmörder mit größtem Pomp und Zufallsopfer des Endkampfs um Berlin ohne Zeremoniell versenkt worden sind, mischen sich ins Murmeln, Seufzen und Sausen unheimlichere Töne, ein Röcheln und Gurgeln, ist das Lachen ein Scheppern und Meckern. Die Rezitation der Rezitation der "Abenddämmerung" ruft in der Totenstadt das Gezeter eines Nachbarn hervor: "Was ist das für ein Gejüdel. Is doch von Heine, gell?" Unfriedlich liegen Helden, Versager und Verbrecher beieinander, an letzte Ruhe ist nicht zu denken.
Uwe Timm hat eine Welt erhebender und abschreckender Erzählungen ausgegraben, den Sagenschatz des preußisch-deutschen Altertums. Wie über diese Lebensform zu richten ist, die uns ferner gerückt ist als je eine mythische Vorzeit, das gibt die überaus kunstvolle, dabei bewundernswert ökonomische und insofern urpreußische Machart der Stimmencollage nicht vor. Können wir dem kurzen Leben der Langstreckenfliegerin mit dem gewaltsamen Ende im Jahre des Unheils eine Bedeutung in der Erzählung unserer Nationalgeschichte zuweisen?
Der spanische Hauptmann, der Heine zu hören wünschte, hatte Marga von Etzdorf ein Gedicht von Federico García Lorca mit dem Titel "Memento" vorgetragen. "Ich hörte die Sprache, die Melodie, ohne zu verstehen, und doch verstand ich. Ein Gedicht, in dem der Tod aufgehoben war, aufgehoben im Klang." Die zweite Strophe lautet: "Wenn ich dereinst sterbe / zwischen den Orangen / und den guten Minzen." Die Fliegerin hatte den Soldaten Orangen mitgebracht. Die dritte Strophe: "Wenn ich dereinst sterbe, / dann begrabt mich, wenn ihr wollt, / in einer Wetterfahne."
Marga von Etzdorf verursacht in Aleppo eine Bruchlandung, weil sie mit dem Wind statt gegen den Wind landet. Der französische Kommandant des Flughafens versucht sie zu trösten. "Er zeigt auf den Windsack, um deutlich zu machen, der Windsack war sichtbar und vorschriftsmäßig angebracht." So subtil und diskret ist dieser bewegende Roman gearbeitet.
PATRICK BAHNERS
Uwe Timm: "Halbschatten". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 270 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.08.2008Könnte es so gewesen sein?
Lebensumriss einer Selbstmörderin: Uwe Timms Roman „Halbschatten” über die Pilotin Marga von Etzdorf
„Ein Gebirge, aufgetürmt, schroffe Felsen, blaugrau” – eine Panoramalandschaft, mit der ein Film beginnt? Kaum ein Dutzend Zeilen dauert diese Einstellung, dann ein Schnitt, und die virtuelle Kamera ist nach oben gerichtet, „beim Eintauchen in das ziellose Grau. Feuchtigkeit, sichtlose Kühle, dann langsam, wird das Grau heller, und plötzlich dieses Blau der Tiefe.” Noch wissen wir nicht, worum es hier gehen wird. Selbst nur daran gewöhnt, die Wolkendecke hinter einem doppelt verglasten Bullauge zu durchstoßen, ahnen wir nur wenig von der Faszination des Fliegens im halboffenen Cockpit. Da ist auch schon der nächste Schnitt: Wir sind auf der Erde, auf einem Friedhof, erfahren, dass er früher militärisches Sperrgebiet gewesen ist . . .
Der rasante Wechsel von Perspektiven, Szenen, Reden ohne Anführungszeichen, wie hier gleich auf der ersten Seite des Buches, ist das Erste, was auffällt. Rasch lernt man, sich auf die skizzierten Situationen einzustellen und nimmt dann umso mehr Anteil an langen Gesprächen, Diskussionen, an rührenden oder aufregenden Erlebnissen. Dem Talent des Autors wie seiner Beherrschung des Schriftstellerhandwerks ist es zu verdanken, dass man als Leser gespannt und vom Inhalt berührt bleibt, ohne zu vergessen, dass dies eine brillante literarische Inszenierung ist.
„Dann fiel die Mauer, sagt der Stadtführer” – wir sind in Berlin, und was wir da über den Invalidenfriedhof lesen, sind die Worte dieses Stadtführers. Er hat keinen Namen, heißt nur „der Graue” und zeigt jetzt auf den Grabstein von Mölders, „Oberst und Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg, 101 Abschüsse, wie es so schön heißt”. Nun meldet sich auch ein Ich, ein Erzähler: „Es war eine Führung, allein für mich.” Der Graue zeigt ihm zwischen allen diesen gestandenen und gefallenen Männern, von Scharnhorst bis Heydrich, auch den Grabstein einer Frau, Marga von Etzdorf: „Er ist neu gesetzt worden, der alte war in den Kampfhandlungen . . . zerstört worden, ein Granitbrocken, ein Findling. Der Flug ist das Leben wert. 1907 geboren, 1933 gestorben. Eine Fliegerin, eine der ersten in Deutschland.” Der Stadtführer weiß alles über Marga von Etzdorf, er hat sogar in den Archiven des Auswärtigen Amtes geforscht, und unser Erzähler hat ihn überhaupt nur getroffen, um etwas über diese Fliegerin zu erfahren. Sie hatte seine Neugier geweckt, weil sie nicht, wie vermutet, abgestürzt war, sondern sich in Aleppo nach einer Bruchlandung mit einer Maschinenpistole erschossen hatte.
Der Graue übernimmt bereitwillig die Erzählerrolle und berichtet von jenem Interview, das Marga von Etzdorf am 18. August 1931 gegeben hat, kurz vor ihrem Abflug von Tempelhof nach Japan. Da hören auch wir sie sprechen und vergessen schnell, dass eigentlich nur er spricht – zumal plötzlich auch noch ein Miller etwas sagt. Der liegt ebenfalls hier begraben, ein Schauspieler, ein Freund, der die Etzdorf gut kannte. Nun sind die Gräber geöffnet, die Toten sprechen, der Graue erklärt beiläufig, wer sie sind, wer sie waren. Dieser epische Handstreich wird mutig und nicht ohne Ironie geführt: „Was hat er gesagt? Man versteht ihn schlecht. Ja, hat auch den Mund voll Erde. Sie flog für Deutschland. Quark, sagt Miller. Sie flog gern. Basta.”
So delegiert der Autor die Rolle des allwissenden Erzählers an den vielwissenden Stadtführer und den vielstimmigen Chor der Toten. Der Graue hat die Etzdorf nicht selber gekannt, aber der Zufall hat ihm ein silbernes Zigarettenetui mit einem Messingsplitter in die Hände gespielt, ein schönes Dingsymbol wie in einer klassischen Novelle. Und er bringt hinter der Erzählerfigur auch den Autor ins Spiel: „ ,Wen interessiert das noch?‘, murmelt er, ,sagt Ihnen das noch etwas: Systemzeit? Oder der Graf Luckner? . . . Welcher Jahrgang sind Sie? 1940 geboren. Das hier sagt Ihnen immer weniger und den Jüngeren gar nichts mehr.‘ ” Der kleine Hinweis genügt; Uwe Timm ist 1940 geboren. Der lebendige Autor besetzt seine Erzählerrolle, wie schon in früheren Büchern.
Stimmt es denn, was der Graue vermutet, dass „das hier” den Jüngeren gar nichts mehr sagt? Kurz nach dem Erscheinen von „Am Beispiel meines Bruders” (2003) drängten sich „die Jüngeren” auf der Frankfurter Buchmesse in Scharen um Uwe Timm. Ihre Neugier galt zwar auch der verschütteten Lebensgeschichte von Uwes großem Bruder, dem SS-Mann Karl-Heinz Timm, Jahrgang 1924, mehr noch aber dem, der sie nun endlich zu erzählen und dem Toten eine Stimme zu geben versucht hatte.
Die Generation von Uwe Timm musste sich, ob sie wollte oder nicht, einer Vergangenheit stellen, die verschwiegen, verharmlost, verleugnet wurde. Unwillkürlich zählte sie sich darum auch selber zu den vom Nationalsozialismus Geschädigten und ließ das gern ihre eigenen Eltern spüren, ob die nun Nazis gewesen waren oder nicht. Die „Jüngeren”, das sind die erwachsenen Kinder dieser Generation. Sie haben private Sorgen und neue globale Ängste. Wie damals in Frankfurt auf Uwe Timm blicken sie ein wenig befremdet, doch nicht ohne Sympathie auf diese Eltern und deren Obsession einer vorenthaltenen Vergangenheit voller Altlasten.
Der letzte Satz im Tagebuch des SS-Mannes lautete: „Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen.” Literatur wird hier zu einer sensibleren Geschichtsschreibung – und zu einem politischen Bekenntnis, wenn der jüngere Bruder aus dem, was in diesem letzten Satz verschwiegen wird, den Wunsch herausdestilliert, „diese Lücke möge für ein Nein stehen.” Wir finden diesen Wunsch nach einem Nein in dem neuen Roman wieder. Die begeisterte Fliegerin gerät in das Getriebe der nationalsozialistischen Machtübernahme, über den Sinn ihres Selbstmords gibt es widersprüchliche Ansichten: Scham über den Anfängerfehler, mit dem Wind gelandet zu sein, verschmähte Liebe und vielleicht doch auch die Entscheidung, sich aus den Fängen des verführerischen Machtapparats gewaltsam zu befreien? „Vielleicht wäre sie ja auch Testpilotin der Luftwaffe geworden wie die Hanna Reitsch. Die Etzdorf nicht, sagt der Graue. Wer Heine-Gedichte auswendig kann, der nimmt einen anderen Weg. Wer weiß? Ja, wer weiß.”
Den Kern bildet eine Novellenhandlung um Marga von Etzdorf, die wir, wie den Freund Miller und andere, selber sprechen hören: In Tokio beherbergt sie der deutsche Konsul Christian von Dahlem, auch er ein Flieger. Es ist kein Zimmer für sie frei, beide verbringen die Nacht, diskret durch ein aufgespanntes Tuch getrennt, in einem Raum. „Ich hörte, wie er nebenan aufstand, zum Vorhang kam, sein Schatten zeichnete sich übergroß auf dem Tuch ab, und er schob mir sein Etui durch” – jenes Etui, das der Graue nun in Händen hält.
Das Nachtgespräch beginnt mit einer schönen Rede Dahlems über die japanische Ästhetik des Schattens, und die junge Frau sagt: „Seine Beschreibung war wie die Beschreibung meines Innersten.” Ihre Flugbesessenheit, ihre Zuneigung zu Dahlem und ihre dadurch ausgelöste Verstrickung in Spionage und Waffenschmuggel, ihr theatralischer Selbstmord knüpfen einen klassischen Plot für eine tragische Novelle, aber das ist nicht Uwe Timms Roman. Seine Vielstimmigkeit zeichnet vielmehr ein historisches Panorama im „Halbschatten”, der das Vergangene sichtbar macht und in die Gegenwart projiziert, aber nicht ausdeutet.
Die fragmentierte Erzählung, die Zeitsprünge, die in mehreren Perspektiven mehrfach berichteten Ereignisse erscheinen dem Leser oft wie ein Puzzle, ein Abbild des fragmentierten Lebens. Aber bei fortschreitender Lektüre versteht man, dass wir den Zweck dieser Technik weniger in ihrer beabsichtigten Wirkung auf den Leser als beim Autor suchen müssen: Sie verlangt, die Vergangenheit ausschließlich in unzählbaren, mehrfach vermittelten Erinnerungen zu suchen.
Uwe Timms diskrete Erzählweise bezeichnet in ihrer Form selbst genau die Grenze zwischen dem, was erzählbar und dem, was nicht erzählbar ist. Den Augenblick der Stille, welcher sich einstellt, wenn man das Buch zum Schluss nachdenklich aus der Hand legt, verdanken wir der Kunst Uwe Timms, dem hier ein Stück Literatur als stellvertretende Erinnerung gelungen ist. „So könnte es gewesen sein, sagt der Graue. Sie müssen jetzt gehen. Das Tor wird gleich geschlossen.”HANS-HERBERT RÄKEL
UWE TIMM: Halbschatten. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2008. 270 Seiten, 19,80 Euro.
Uwe Timm erzählt in seinem neuen Buch vom kurzen Leben der deutschen Fliegerin Marga von Etzdorf (1907-1933). Fotos: Brigitte Friedrich, Ullstein
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Lebensumriss einer Selbstmörderin: Uwe Timms Roman „Halbschatten” über die Pilotin Marga von Etzdorf
„Ein Gebirge, aufgetürmt, schroffe Felsen, blaugrau” – eine Panoramalandschaft, mit der ein Film beginnt? Kaum ein Dutzend Zeilen dauert diese Einstellung, dann ein Schnitt, und die virtuelle Kamera ist nach oben gerichtet, „beim Eintauchen in das ziellose Grau. Feuchtigkeit, sichtlose Kühle, dann langsam, wird das Grau heller, und plötzlich dieses Blau der Tiefe.” Noch wissen wir nicht, worum es hier gehen wird. Selbst nur daran gewöhnt, die Wolkendecke hinter einem doppelt verglasten Bullauge zu durchstoßen, ahnen wir nur wenig von der Faszination des Fliegens im halboffenen Cockpit. Da ist auch schon der nächste Schnitt: Wir sind auf der Erde, auf einem Friedhof, erfahren, dass er früher militärisches Sperrgebiet gewesen ist . . .
Der rasante Wechsel von Perspektiven, Szenen, Reden ohne Anführungszeichen, wie hier gleich auf der ersten Seite des Buches, ist das Erste, was auffällt. Rasch lernt man, sich auf die skizzierten Situationen einzustellen und nimmt dann umso mehr Anteil an langen Gesprächen, Diskussionen, an rührenden oder aufregenden Erlebnissen. Dem Talent des Autors wie seiner Beherrschung des Schriftstellerhandwerks ist es zu verdanken, dass man als Leser gespannt und vom Inhalt berührt bleibt, ohne zu vergessen, dass dies eine brillante literarische Inszenierung ist.
„Dann fiel die Mauer, sagt der Stadtführer” – wir sind in Berlin, und was wir da über den Invalidenfriedhof lesen, sind die Worte dieses Stadtführers. Er hat keinen Namen, heißt nur „der Graue” und zeigt jetzt auf den Grabstein von Mölders, „Oberst und Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg, 101 Abschüsse, wie es so schön heißt”. Nun meldet sich auch ein Ich, ein Erzähler: „Es war eine Führung, allein für mich.” Der Graue zeigt ihm zwischen allen diesen gestandenen und gefallenen Männern, von Scharnhorst bis Heydrich, auch den Grabstein einer Frau, Marga von Etzdorf: „Er ist neu gesetzt worden, der alte war in den Kampfhandlungen . . . zerstört worden, ein Granitbrocken, ein Findling. Der Flug ist das Leben wert. 1907 geboren, 1933 gestorben. Eine Fliegerin, eine der ersten in Deutschland.” Der Stadtführer weiß alles über Marga von Etzdorf, er hat sogar in den Archiven des Auswärtigen Amtes geforscht, und unser Erzähler hat ihn überhaupt nur getroffen, um etwas über diese Fliegerin zu erfahren. Sie hatte seine Neugier geweckt, weil sie nicht, wie vermutet, abgestürzt war, sondern sich in Aleppo nach einer Bruchlandung mit einer Maschinenpistole erschossen hatte.
Der Graue übernimmt bereitwillig die Erzählerrolle und berichtet von jenem Interview, das Marga von Etzdorf am 18. August 1931 gegeben hat, kurz vor ihrem Abflug von Tempelhof nach Japan. Da hören auch wir sie sprechen und vergessen schnell, dass eigentlich nur er spricht – zumal plötzlich auch noch ein Miller etwas sagt. Der liegt ebenfalls hier begraben, ein Schauspieler, ein Freund, der die Etzdorf gut kannte. Nun sind die Gräber geöffnet, die Toten sprechen, der Graue erklärt beiläufig, wer sie sind, wer sie waren. Dieser epische Handstreich wird mutig und nicht ohne Ironie geführt: „Was hat er gesagt? Man versteht ihn schlecht. Ja, hat auch den Mund voll Erde. Sie flog für Deutschland. Quark, sagt Miller. Sie flog gern. Basta.”
So delegiert der Autor die Rolle des allwissenden Erzählers an den vielwissenden Stadtführer und den vielstimmigen Chor der Toten. Der Graue hat die Etzdorf nicht selber gekannt, aber der Zufall hat ihm ein silbernes Zigarettenetui mit einem Messingsplitter in die Hände gespielt, ein schönes Dingsymbol wie in einer klassischen Novelle. Und er bringt hinter der Erzählerfigur auch den Autor ins Spiel: „ ,Wen interessiert das noch?‘, murmelt er, ,sagt Ihnen das noch etwas: Systemzeit? Oder der Graf Luckner? . . . Welcher Jahrgang sind Sie? 1940 geboren. Das hier sagt Ihnen immer weniger und den Jüngeren gar nichts mehr.‘ ” Der kleine Hinweis genügt; Uwe Timm ist 1940 geboren. Der lebendige Autor besetzt seine Erzählerrolle, wie schon in früheren Büchern.
Stimmt es denn, was der Graue vermutet, dass „das hier” den Jüngeren gar nichts mehr sagt? Kurz nach dem Erscheinen von „Am Beispiel meines Bruders” (2003) drängten sich „die Jüngeren” auf der Frankfurter Buchmesse in Scharen um Uwe Timm. Ihre Neugier galt zwar auch der verschütteten Lebensgeschichte von Uwes großem Bruder, dem SS-Mann Karl-Heinz Timm, Jahrgang 1924, mehr noch aber dem, der sie nun endlich zu erzählen und dem Toten eine Stimme zu geben versucht hatte.
Die Generation von Uwe Timm musste sich, ob sie wollte oder nicht, einer Vergangenheit stellen, die verschwiegen, verharmlost, verleugnet wurde. Unwillkürlich zählte sie sich darum auch selber zu den vom Nationalsozialismus Geschädigten und ließ das gern ihre eigenen Eltern spüren, ob die nun Nazis gewesen waren oder nicht. Die „Jüngeren”, das sind die erwachsenen Kinder dieser Generation. Sie haben private Sorgen und neue globale Ängste. Wie damals in Frankfurt auf Uwe Timm blicken sie ein wenig befremdet, doch nicht ohne Sympathie auf diese Eltern und deren Obsession einer vorenthaltenen Vergangenheit voller Altlasten.
Der letzte Satz im Tagebuch des SS-Mannes lautete: „Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen.” Literatur wird hier zu einer sensibleren Geschichtsschreibung – und zu einem politischen Bekenntnis, wenn der jüngere Bruder aus dem, was in diesem letzten Satz verschwiegen wird, den Wunsch herausdestilliert, „diese Lücke möge für ein Nein stehen.” Wir finden diesen Wunsch nach einem Nein in dem neuen Roman wieder. Die begeisterte Fliegerin gerät in das Getriebe der nationalsozialistischen Machtübernahme, über den Sinn ihres Selbstmords gibt es widersprüchliche Ansichten: Scham über den Anfängerfehler, mit dem Wind gelandet zu sein, verschmähte Liebe und vielleicht doch auch die Entscheidung, sich aus den Fängen des verführerischen Machtapparats gewaltsam zu befreien? „Vielleicht wäre sie ja auch Testpilotin der Luftwaffe geworden wie die Hanna Reitsch. Die Etzdorf nicht, sagt der Graue. Wer Heine-Gedichte auswendig kann, der nimmt einen anderen Weg. Wer weiß? Ja, wer weiß.”
Den Kern bildet eine Novellenhandlung um Marga von Etzdorf, die wir, wie den Freund Miller und andere, selber sprechen hören: In Tokio beherbergt sie der deutsche Konsul Christian von Dahlem, auch er ein Flieger. Es ist kein Zimmer für sie frei, beide verbringen die Nacht, diskret durch ein aufgespanntes Tuch getrennt, in einem Raum. „Ich hörte, wie er nebenan aufstand, zum Vorhang kam, sein Schatten zeichnete sich übergroß auf dem Tuch ab, und er schob mir sein Etui durch” – jenes Etui, das der Graue nun in Händen hält.
Das Nachtgespräch beginnt mit einer schönen Rede Dahlems über die japanische Ästhetik des Schattens, und die junge Frau sagt: „Seine Beschreibung war wie die Beschreibung meines Innersten.” Ihre Flugbesessenheit, ihre Zuneigung zu Dahlem und ihre dadurch ausgelöste Verstrickung in Spionage und Waffenschmuggel, ihr theatralischer Selbstmord knüpfen einen klassischen Plot für eine tragische Novelle, aber das ist nicht Uwe Timms Roman. Seine Vielstimmigkeit zeichnet vielmehr ein historisches Panorama im „Halbschatten”, der das Vergangene sichtbar macht und in die Gegenwart projiziert, aber nicht ausdeutet.
Die fragmentierte Erzählung, die Zeitsprünge, die in mehreren Perspektiven mehrfach berichteten Ereignisse erscheinen dem Leser oft wie ein Puzzle, ein Abbild des fragmentierten Lebens. Aber bei fortschreitender Lektüre versteht man, dass wir den Zweck dieser Technik weniger in ihrer beabsichtigten Wirkung auf den Leser als beim Autor suchen müssen: Sie verlangt, die Vergangenheit ausschließlich in unzählbaren, mehrfach vermittelten Erinnerungen zu suchen.
Uwe Timms diskrete Erzählweise bezeichnet in ihrer Form selbst genau die Grenze zwischen dem, was erzählbar und dem, was nicht erzählbar ist. Den Augenblick der Stille, welcher sich einstellt, wenn man das Buch zum Schluss nachdenklich aus der Hand legt, verdanken wir der Kunst Uwe Timms, dem hier ein Stück Literatur als stellvertretende Erinnerung gelungen ist. „So könnte es gewesen sein, sagt der Graue. Sie müssen jetzt gehen. Das Tor wird gleich geschlossen.”HANS-HERBERT RÄKEL
UWE TIMM: Halbschatten. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2008. 270 Seiten, 19,80 Euro.
Uwe Timm erzählt in seinem neuen Buch vom kurzen Leben der deutschen Fliegerin Marga von Etzdorf (1907-1933). Fotos: Brigitte Friedrich, Ullstein
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Laut Paul Jandl sei Uwe Timm mit seinem Roman "Halbschatten" viele Wagnisse eingegangen, die am Ende nicht aufgehen. Es geht um Begegnungen eines allwissenden Erzählers mit Toten des Berliner Invalidenfriedhofs. Der ästhetische Anspruch Timms, die Geister der Zeit 1933 bis 1945 heraufzubeschwören und selbst den widerlichsten Nazigrößen eine eigene Stimme zu verleihen, scheitert für Jandl an der Diffusität der Stimmen und der Verbindungslosigkeit der Geschichten. Was fehlt, ist Timms "eigener Ton" zwischen den etwas überwältigenden Bruchstücken. Da wundert es nicht, dass für Jandl die "leichtfüßig geschriebene Hommage" an die deutsche Fliegerin Marga von Etzdorf zum dominanteren Erzählstrang wird und diese Romanze die restlichen Erzählungen in den Schatten stellt. Die Geschichte um Etzdorf sei zwar fiktionalisiert, gibt aber einen Eindruck von Timms "genauem Blick". Konfrontationen mit deutscher Vergangenheit sähen trotzdem anders aus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Uwe Timm inszeniert technisch virtuos einen gezielten Zusammenprall von Geisteshaltungen.« Christoph Schröder taz