"Fußball ist keine Sache von Leben und Tod - es ist noch viel ernster." Bill Shankley
Fußball ist Geschäft, Ekstase und nicht zuletzt ein kulturelles Phänomen. Es gibt Songs über Rummenigges Beine und Gedichte über die Abstiegsängste des FC Energie Cottbus, es gibt Günter Netzer in Bronze gegossen und Toni Schumacher als Warholsches Pop-Porträt.
So hat der Fußball im Laufe der Jahre die allein von hemdsärmeligen Männern bevölkerte Südkurve verlassen; Künstler wie Markus Lüpertz oder Martin Kippenberger, Peter Handke oder Javier Marías sind bekennende Fans des "Clubs" aus Nürnberg oder der "Königlichen" von Real Madrid. Mädchen kicken "like Beckham".
Rechtzeitig zur Fußball-EM 2004 in Portugal hat Autor Andreas Höll die Schnittstellen von Fußball und Kultur aufgespürt und dabei ein Europa im Zustand des immerwährenden Ballfiebers ausgemacht. Sein Buch zeigt, daß der Fußballplatz mehr ist als das Rasenrechteck mit zwei Toren darauf: Er ist Theater und Modesalon, Gerüchteküche und Kunstkabinett, Tretmühle und Schlagerbude.
Andreas Höll ist Redakteur bei mdr-Kultur und hat mehrere Artikel zum Thema Fußball in "die zeit" veröffentlicht.
Fußball ist Geschäft, Ekstase und nicht zuletzt ein kulturelles Phänomen. Es gibt Songs über Rummenigges Beine und Gedichte über die Abstiegsängste des FC Energie Cottbus, es gibt Günter Netzer in Bronze gegossen und Toni Schumacher als Warholsches Pop-Porträt.
So hat der Fußball im Laufe der Jahre die allein von hemdsärmeligen Männern bevölkerte Südkurve verlassen; Künstler wie Markus Lüpertz oder Martin Kippenberger, Peter Handke oder Javier Marías sind bekennende Fans des "Clubs" aus Nürnberg oder der "Königlichen" von Real Madrid. Mädchen kicken "like Beckham".
Rechtzeitig zur Fußball-EM 2004 in Portugal hat Autor Andreas Höll die Schnittstellen von Fußball und Kultur aufgespürt und dabei ein Europa im Zustand des immerwährenden Ballfiebers ausgemacht. Sein Buch zeigt, daß der Fußballplatz mehr ist als das Rasenrechteck mit zwei Toren darauf: Er ist Theater und Modesalon, Gerüchteküche und Kunstkabinett, Tretmühle und Schlagerbude.
Andreas Höll ist Redakteur bei mdr-Kultur und hat mehrere Artikel zum Thema Fußball in "die zeit" veröffentlicht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2004Fallrückzieher in die Avantgarde
Dichter haben sie zum Kunstwerk erklärt. Sie haben es geglaubt - Günter Netzer, Oliver Kahn und der Wille zum Feuilleton
Was will das Feuilleton eigentlich immer in den Fußball hineinquatschen? Was muß denn da immer gedeutet werden und metaphorisch erhöht und dichterisch verschönt und bedeutend gemacht? Nur aus schlechtem Gewissen, daß man ein banales Hobby hat, muß man ja nicht gleich ein Gedicht drauf schreiben. Oder eine kunstvolle Rezension. Es führt ja auch meist zu nichts. Selbst, wenn man als Dichter, wie Peter Handke einst, sich so eng an die Wirklichkeit hält, daß man einfach die Mannschaftsaufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. Januar 1968 abschreibt und das Ganze dann Gedicht nennt und mal zuschaut, was passiert und ob das jemand druckt (und es wurde viel-, vieltausendfach gedruckt), dann liegt der Unterschied zur wirklichen Mannschaftsaufstellung eben nicht vor allem darin, daß Handkes Fassung von seinen Jüngern weihevoll verlesen werden kann, sondern darin, daß sie falsch ist. Denn nicht Leupold, wie im Gedicht vermerkt, lief damals als linker Verteidiger auf, sondern Hilpert. Das ist der Unterschied. Das Gedicht ist wertlos. Es ist falsch. Handke war eben einfach nicht auf dem Platz. Wahrscheinlich hat sich Leupold beim Warmmachen verletzt, Hilpert kam rein, und Handke hatte sein eiliges Gedicht schon vorher aus der Zeitung abgeschrieben. Jeder Fan hätte das Handke-Gedicht genauer schreiben können als der Dichter. "Fußball ist Fußball ist Fußball", heißt das letzte Kapitel in Dirk Schümers Fußballfeierbuch "Gott ist rund". Eigentlich wäre damit alles gesagt.
Wenn nicht an einem Abend im Jahr 1965 der Fußballspieler Günter Netzer in seinem Jaguar E auf dem Weg von der Handelsschule nach Hause an jener Bushaltestelle in Mönchengladbach gestoppt hätte. An der Bushaltestelle wartete Hannelore Girrulat. Ein Freund, der mit Netzer im Auto saß, machte die beiden miteinander bekannt. "Der Name Netzer sagt mir nichts", sagte Hannelore. Eine große Liebesgeschichte begann. Die Liebesgeschichte zwischen dem Fußballer Günter Netzer und der Goldschmiedin Hannelore Girrulat, die Liebesgeschichte zwischen dem Fußball und der Kunst. "Es waren keine Welten, die da aufeinanderprallten", schreibt Günter Netzer in seiner morgen erscheinenden Autobiographie, "es waren Galaxien." Netzer wohnte noch bei seinen Eltern. Sein Leben bestand aus Fußball und aus Topfpflanzen und aus schnellen Autos. "Ihre Welt bestand aus Kunst und Mode und Ästhetik und Musik und aus all dem, was man damals anfing, Pop zu nennen. Manche sagten auch Avantgarde dazu. Dann sagte ich: ,Aha!'"
Netzer sagte Aha. Damit fing es an. Er lernte Hannelores Freunde kennen. Die Maler um den Kölner Galeristen Michael Werner. Sigmar Polke und A. R. Penck, Georg Baselitz und Markus Lüpertz. Ihre Welt, die Welt der Kunst, begeisterte Netzer. Es war "das Leben", das sie ihm zeigten. Es war die Kunst, war Inspiration und neues Denken. Netzer nahm alles begeistert auf. Einmal, ein einziges Mal wollte sich nicht die Kunst den Fußball aneignen, sondern der Fußball die Kunst. "Nicht diese Künstler waren von mir beeindruckt, sondern ich von ihnen." Und Netzer trug schwarz, und Netzer ließ die Haare wachsen, Netzer eröffnete die Diskothek "lovers lane", und Netzer hörte Rolling Stones und Bob Dylan. Über Fußball wurde kaum gesprochen, damals in den Künstlerkreisen. Wenn doch, hörte Netzer besonders gerne zu: "Dann wurde mir nämlich erklärt, daß meine Spielweise und meine Pässe den Aufbruch der Avantgarde auf dem Fußballplatz fortsetzen sollten. Was mir da alles erzählt wurde, von der Ästhetik der weiten Pässe, den Visionen des raumöffnenden Zuspiels - so hatte ich mein Spiel noch nie gesehen. Aber es gefiel mir. Ich spielte doch nur Fußball, wie es mir gegeben war, aus der Intuition heraus. Aber so schön hatte ich meine Art des Fußballs niemals erklärt bekommen, warum sollte ich widersprechen?"
Am Anfang wandte er wohl noch ein, das sei doch alles ein wenig zu intelligent gedacht und etwas zu viel hineininterpretiert in sein unbewußtes Spiel, aber die Maler wiesen ihn zurecht: "Wissen wir Maler beim Pinselstrich, was der Kunstbetrachter beim Anschauen empfindet? Weiß der Komponist, was er anrichtet, wenn er seine Töne setzt?" Da gab Netzer auf. Und spielte fortan mit der Ahnung seines Kunstauftrags. Und stolz. Angeblich wurde ihm aus der Meisterklasse von Joseph Beuys heraus sogar eine Professur für Bildende Kunst angeboten. Mehrfach sogar, behauptet Netzer. Das wollen wir mal eine kleine Übertreibung nennen. Doch sonst wird fast nichts übertrieben, in dem Buch. Und die einmalige Liebes- und Inspirationsgeschichte zwischen dem Fußball und der Kunst steht zusammengefaßt in dieser Passage: "Habe ich Pässe in die Tiefe des Raumes geschlagen, weil sich meine Horizonte erweitert hatten? Ich hatte einen offeneren Blick bekommen, aber ich glaube, meine Art des Spiels war vorgegeben, und daß ich den Mut hatte, diese Art zu spielen, hat mehr mit Hennes Weisweiler zu tun, als mit Avantgarde."
Das haben sie alle vergessen, all die feuilletonistischen Nachahmer, die Gedichte und Weihegesänge auf "Netzer" und die "Tiefe des Raumes" gesungen haben in all den Jahren, als Günter Netzer ein Feuilletonistentraum wurde, Projektionsfläche für jede Fußballutopie. Gesellschaftsutopie. Kunstutopie. Wie nach ihm kaum ein Spieler mehr.
Höchstens Oliver Kahn. Der Titan, der vielbesungene, vielbedichtete. Orpheus. Grieche. Antiker Held. Der Größte. Dem man längst jede poetische Metapher der Unbezwingbarkeit - seit zwei Jahren auch der anscheinend noch poetischeren "Bezwingbarkeit" - übergestülpt hat. Jetzt sieht man, wozu das führen kann. Er hält sich selbst für einen Dichter. Für einen Philosophen. Einen netzerartigen Fußballkünstler. Die Kunst liebt mich? Ich muß sie wiederlieben, hat er sich wohl gedacht und "Reflexionen" geschrieben - angeblich extra ohne Ghostwriter. Dieses Buch, "Nummer eins", wird seinem Ruf mehr schaden als die drei katastrophalen Fehlgriffe in den letzten zwei Jahren.
Wir sehen einem Helden beim Denken zu, und heraus kommt: nichts. Nur Kunstwille. Feuilleton-Wille. Wille zur Bedeutung. Quatsch. "Fußball ist Kunst", schreibt Herr Titan. Und daß er seine täglichen Trainingseinheiten "wie ein Pianist" absolviere, "der trotz all seiner Virtuosität weiß, daß er die Goldberg-Variationen von Bach nie perfekt spielen wird". Oliver "Glenn Gould" Kahn setzt sich in Position. Selten hat ein Buch eine so große Bedeutungssehnsucht mit so geringer Bedeutung verbunden: "Auf meinem Lieblings-T-Shirt steht das Wort ,Rebel'. Rebell. Vielleicht möchte ich damit zum Ausdruck bringen, daß ich nicht so sein will, wie man mich vielleicht gern hätte."
Ja, vielleicht. Vielleicht sähe man ihn einfach gerne nur im Tor. Und müßte dann nicht wissen, daß Kahn sich neben Glenn Gould auch gern als Möwe Jonathan sieht: "Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie gefährlich es sein kann, wenn man sich aus der Masse, in diesem Fall aus einem Schwarm Vögel, hervorhebt. Jonathan ist keine gewöhnliche Möwe, sondern besessen von dem Willen, das Beste aus sich herauszuholen, um es in der Kunst des Fliegens zu einer außergewöhnlichen Meisterschaft zu bringen. Niemand und nichts kann sie aufhalten. Aber aufgrund seines Freiheitsdranges wird Jonathan aus der Gemeinschaft der Möwen verbannt."
Schade für die Möwe. Kahn weiß: "Letztlich ist das Streben nach Perfektion sehr anstrengend." Und gefährlich: "Manche behaupten, Sport sei Mord, besonders der Profisport. Diese Ansicht halte ich für übertrieben." Denn gefährlicher ist das Leben neben dem Fußball: "Das Privatleben wird sicherlich eine große Herausforderung für mich bleiben." Wie es auch in der Vergangenheit war: "Die Trennung von meiner Frau hatte nichts mit ihrer Person zu tun." Weil alles, alles nur mit der Person von Oliver Kahn zu tun hat. Und der einzige positive Held des Buches ist - neben Oliver Kahn - Marco Bode, weil man sich mit dem so gut über Literatur unterhalten kann.
Was haben die Dichter angerichtet, als sie den Fußball und seine Helden überhöhten. Niemand reagierte darauf so lässig wie Netzer selbst, der schreibt: "Bitte schön, mir soll es recht sein, was man da alles in den Fußball hineininterpretieren kann, und vielleicht ist Fußball ja gerade deswegen so faszinierend, weil es eine Ebene gibt, die irgendwo hinter dem Ergebnis liegt." Vor allem aber gilt: "Die Spieler brauchen davon nichts zu wissen, wahrscheinlich ist es sogar schädlich, wenn sie sich zu viele Gedanken darüber machen, was sie mit ihrem Spiel beim Zuschauer auslösen."
VOLKER WEIDERMANN
Günter Netzer (mit Helmut Schümann): Aus der Tiefe des Raumes. Mein Leben. Rowohlt 2004. 270 Seiten. 19,90 Euro
Oliver Kahn: Nummer eins. Droemer 2004. 176 Seiten. 14,90 Euro
Andreas Höll: Halbzeiten für die Ewigkeit. Über die wichtigste Nebensache der Welt. Kiepenheuer 2004. 184 Seiten. 12,50 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dichter haben sie zum Kunstwerk erklärt. Sie haben es geglaubt - Günter Netzer, Oliver Kahn und der Wille zum Feuilleton
Was will das Feuilleton eigentlich immer in den Fußball hineinquatschen? Was muß denn da immer gedeutet werden und metaphorisch erhöht und dichterisch verschönt und bedeutend gemacht? Nur aus schlechtem Gewissen, daß man ein banales Hobby hat, muß man ja nicht gleich ein Gedicht drauf schreiben. Oder eine kunstvolle Rezension. Es führt ja auch meist zu nichts. Selbst, wenn man als Dichter, wie Peter Handke einst, sich so eng an die Wirklichkeit hält, daß man einfach die Mannschaftsaufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. Januar 1968 abschreibt und das Ganze dann Gedicht nennt und mal zuschaut, was passiert und ob das jemand druckt (und es wurde viel-, vieltausendfach gedruckt), dann liegt der Unterschied zur wirklichen Mannschaftsaufstellung eben nicht vor allem darin, daß Handkes Fassung von seinen Jüngern weihevoll verlesen werden kann, sondern darin, daß sie falsch ist. Denn nicht Leupold, wie im Gedicht vermerkt, lief damals als linker Verteidiger auf, sondern Hilpert. Das ist der Unterschied. Das Gedicht ist wertlos. Es ist falsch. Handke war eben einfach nicht auf dem Platz. Wahrscheinlich hat sich Leupold beim Warmmachen verletzt, Hilpert kam rein, und Handke hatte sein eiliges Gedicht schon vorher aus der Zeitung abgeschrieben. Jeder Fan hätte das Handke-Gedicht genauer schreiben können als der Dichter. "Fußball ist Fußball ist Fußball", heißt das letzte Kapitel in Dirk Schümers Fußballfeierbuch "Gott ist rund". Eigentlich wäre damit alles gesagt.
Wenn nicht an einem Abend im Jahr 1965 der Fußballspieler Günter Netzer in seinem Jaguar E auf dem Weg von der Handelsschule nach Hause an jener Bushaltestelle in Mönchengladbach gestoppt hätte. An der Bushaltestelle wartete Hannelore Girrulat. Ein Freund, der mit Netzer im Auto saß, machte die beiden miteinander bekannt. "Der Name Netzer sagt mir nichts", sagte Hannelore. Eine große Liebesgeschichte begann. Die Liebesgeschichte zwischen dem Fußballer Günter Netzer und der Goldschmiedin Hannelore Girrulat, die Liebesgeschichte zwischen dem Fußball und der Kunst. "Es waren keine Welten, die da aufeinanderprallten", schreibt Günter Netzer in seiner morgen erscheinenden Autobiographie, "es waren Galaxien." Netzer wohnte noch bei seinen Eltern. Sein Leben bestand aus Fußball und aus Topfpflanzen und aus schnellen Autos. "Ihre Welt bestand aus Kunst und Mode und Ästhetik und Musik und aus all dem, was man damals anfing, Pop zu nennen. Manche sagten auch Avantgarde dazu. Dann sagte ich: ,Aha!'"
Netzer sagte Aha. Damit fing es an. Er lernte Hannelores Freunde kennen. Die Maler um den Kölner Galeristen Michael Werner. Sigmar Polke und A. R. Penck, Georg Baselitz und Markus Lüpertz. Ihre Welt, die Welt der Kunst, begeisterte Netzer. Es war "das Leben", das sie ihm zeigten. Es war die Kunst, war Inspiration und neues Denken. Netzer nahm alles begeistert auf. Einmal, ein einziges Mal wollte sich nicht die Kunst den Fußball aneignen, sondern der Fußball die Kunst. "Nicht diese Künstler waren von mir beeindruckt, sondern ich von ihnen." Und Netzer trug schwarz, und Netzer ließ die Haare wachsen, Netzer eröffnete die Diskothek "lovers lane", und Netzer hörte Rolling Stones und Bob Dylan. Über Fußball wurde kaum gesprochen, damals in den Künstlerkreisen. Wenn doch, hörte Netzer besonders gerne zu: "Dann wurde mir nämlich erklärt, daß meine Spielweise und meine Pässe den Aufbruch der Avantgarde auf dem Fußballplatz fortsetzen sollten. Was mir da alles erzählt wurde, von der Ästhetik der weiten Pässe, den Visionen des raumöffnenden Zuspiels - so hatte ich mein Spiel noch nie gesehen. Aber es gefiel mir. Ich spielte doch nur Fußball, wie es mir gegeben war, aus der Intuition heraus. Aber so schön hatte ich meine Art des Fußballs niemals erklärt bekommen, warum sollte ich widersprechen?"
Am Anfang wandte er wohl noch ein, das sei doch alles ein wenig zu intelligent gedacht und etwas zu viel hineininterpretiert in sein unbewußtes Spiel, aber die Maler wiesen ihn zurecht: "Wissen wir Maler beim Pinselstrich, was der Kunstbetrachter beim Anschauen empfindet? Weiß der Komponist, was er anrichtet, wenn er seine Töne setzt?" Da gab Netzer auf. Und spielte fortan mit der Ahnung seines Kunstauftrags. Und stolz. Angeblich wurde ihm aus der Meisterklasse von Joseph Beuys heraus sogar eine Professur für Bildende Kunst angeboten. Mehrfach sogar, behauptet Netzer. Das wollen wir mal eine kleine Übertreibung nennen. Doch sonst wird fast nichts übertrieben, in dem Buch. Und die einmalige Liebes- und Inspirationsgeschichte zwischen dem Fußball und der Kunst steht zusammengefaßt in dieser Passage: "Habe ich Pässe in die Tiefe des Raumes geschlagen, weil sich meine Horizonte erweitert hatten? Ich hatte einen offeneren Blick bekommen, aber ich glaube, meine Art des Spiels war vorgegeben, und daß ich den Mut hatte, diese Art zu spielen, hat mehr mit Hennes Weisweiler zu tun, als mit Avantgarde."
Das haben sie alle vergessen, all die feuilletonistischen Nachahmer, die Gedichte und Weihegesänge auf "Netzer" und die "Tiefe des Raumes" gesungen haben in all den Jahren, als Günter Netzer ein Feuilletonistentraum wurde, Projektionsfläche für jede Fußballutopie. Gesellschaftsutopie. Kunstutopie. Wie nach ihm kaum ein Spieler mehr.
Höchstens Oliver Kahn. Der Titan, der vielbesungene, vielbedichtete. Orpheus. Grieche. Antiker Held. Der Größte. Dem man längst jede poetische Metapher der Unbezwingbarkeit - seit zwei Jahren auch der anscheinend noch poetischeren "Bezwingbarkeit" - übergestülpt hat. Jetzt sieht man, wozu das führen kann. Er hält sich selbst für einen Dichter. Für einen Philosophen. Einen netzerartigen Fußballkünstler. Die Kunst liebt mich? Ich muß sie wiederlieben, hat er sich wohl gedacht und "Reflexionen" geschrieben - angeblich extra ohne Ghostwriter. Dieses Buch, "Nummer eins", wird seinem Ruf mehr schaden als die drei katastrophalen Fehlgriffe in den letzten zwei Jahren.
Wir sehen einem Helden beim Denken zu, und heraus kommt: nichts. Nur Kunstwille. Feuilleton-Wille. Wille zur Bedeutung. Quatsch. "Fußball ist Kunst", schreibt Herr Titan. Und daß er seine täglichen Trainingseinheiten "wie ein Pianist" absolviere, "der trotz all seiner Virtuosität weiß, daß er die Goldberg-Variationen von Bach nie perfekt spielen wird". Oliver "Glenn Gould" Kahn setzt sich in Position. Selten hat ein Buch eine so große Bedeutungssehnsucht mit so geringer Bedeutung verbunden: "Auf meinem Lieblings-T-Shirt steht das Wort ,Rebel'. Rebell. Vielleicht möchte ich damit zum Ausdruck bringen, daß ich nicht so sein will, wie man mich vielleicht gern hätte."
Ja, vielleicht. Vielleicht sähe man ihn einfach gerne nur im Tor. Und müßte dann nicht wissen, daß Kahn sich neben Glenn Gould auch gern als Möwe Jonathan sieht: "Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie gefährlich es sein kann, wenn man sich aus der Masse, in diesem Fall aus einem Schwarm Vögel, hervorhebt. Jonathan ist keine gewöhnliche Möwe, sondern besessen von dem Willen, das Beste aus sich herauszuholen, um es in der Kunst des Fliegens zu einer außergewöhnlichen Meisterschaft zu bringen. Niemand und nichts kann sie aufhalten. Aber aufgrund seines Freiheitsdranges wird Jonathan aus der Gemeinschaft der Möwen verbannt."
Schade für die Möwe. Kahn weiß: "Letztlich ist das Streben nach Perfektion sehr anstrengend." Und gefährlich: "Manche behaupten, Sport sei Mord, besonders der Profisport. Diese Ansicht halte ich für übertrieben." Denn gefährlicher ist das Leben neben dem Fußball: "Das Privatleben wird sicherlich eine große Herausforderung für mich bleiben." Wie es auch in der Vergangenheit war: "Die Trennung von meiner Frau hatte nichts mit ihrer Person zu tun." Weil alles, alles nur mit der Person von Oliver Kahn zu tun hat. Und der einzige positive Held des Buches ist - neben Oliver Kahn - Marco Bode, weil man sich mit dem so gut über Literatur unterhalten kann.
Was haben die Dichter angerichtet, als sie den Fußball und seine Helden überhöhten. Niemand reagierte darauf so lässig wie Netzer selbst, der schreibt: "Bitte schön, mir soll es recht sein, was man da alles in den Fußball hineininterpretieren kann, und vielleicht ist Fußball ja gerade deswegen so faszinierend, weil es eine Ebene gibt, die irgendwo hinter dem Ergebnis liegt." Vor allem aber gilt: "Die Spieler brauchen davon nichts zu wissen, wahrscheinlich ist es sogar schädlich, wenn sie sich zu viele Gedanken darüber machen, was sie mit ihrem Spiel beim Zuschauer auslösen."
VOLKER WEIDERMANN
Günter Netzer (mit Helmut Schümann): Aus der Tiefe des Raumes. Mein Leben. Rowohlt 2004. 270 Seiten. 19,90 Euro
Oliver Kahn: Nummer eins. Droemer 2004. 176 Seiten. 14,90 Euro
Andreas Höll: Halbzeiten für die Ewigkeit. Über die wichtigste Nebensache der Welt. Kiepenheuer 2004. 184 Seiten. 12,50 Euro
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