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»Wo alles Text ist, da ist auch alles Lesen, da ist auch alles Schreiben.«
Wo alles Text ist, weil alles Code ist, gibt es kein Werk mehr, nur noch Halbzeug, vorgefertigtes Rohmaterial. Bilder, Filme, Töne, Wörter - im Digitalen ist alles offen dafür, wieder und weiterverarbeitet, transcodiert und prozessiert zu werden. Hannes Bajohrs Lyrikband beweist, dass aus recycelten Texten scharfsinnige Gedichte entstehen können. Inspiriert von der Avantgarde der Moderne, bedient er sich der Technik des 21. Jahrhunderts: Mit Hilfe von Algorithmen hat er u. a. die Romane Kafkas, Bundestagsprotokolle…mehr

Produktbeschreibung
»Wo alles Text ist, da ist auch alles Lesen, da ist auch alles Schreiben.«

Wo alles Text ist, weil alles Code ist, gibt es kein Werk mehr, nur noch Halbzeug, vorgefertigtes Rohmaterial. Bilder, Filme, Töne, Wörter - im Digitalen ist alles offen dafür, wieder und weiterverarbeitet, transcodiert und prozessiert zu werden. Hannes Bajohrs Lyrikband beweist, dass aus recycelten Texten scharfsinnige Gedichte entstehen können. Inspiriert von der Avantgarde der Moderne, bedient er sich der Technik des 21. Jahrhunderts: Mit Hilfe von Algorithmen hat er u. a. die Romane Kafkas, Bundestagsprotokolle oder Klimaschutzberichte fragmentiert, transkribiert und neu geordnet. Seine Gedichte eröffnen so einen ganz anderen Blick auf Rezeption und Autorschaft im Zeitalter der Digitalisierung.
Autorenporträt
Hannes Bajohr, geboren 1984 in Berlin, studierte Philosophie, deutsche Literatur und Geschichte in Berlin und New York und wurde mit einer Arbeit über Hans Blumenbergs Sprachphilosophie promoviert. Neben seiner akademischen Arbeit übersetzte er unter anderem Kenneth Goldsmith und Judith Shklar aus dem Englischen und ist Autor von Prosa, Essays und digitaler Lyrik. 2022 gab er im Suhrkamp Verlag den Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Hans Jonas heraus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2018

Die wundersamen Verse des Hans-Olaf Henkel
Konzeptlyrik: Hannes Bajohrs Debütband "Halbzeug"

Nein, diese Gedichte verdanken sich weder einem Geniestreich, noch sind sie durch versiertes Worthandwerk am heimischen Schreibtisch entstanden. Alle Texte in Hannes Bajohrs erstem Gedichtband "Halbzeug" wurden vielmehr mit Hilfe von Computern generiert. Ihr Material entnehmen sie dem "german.literotica.Korpus" oder dem Fundus aller Grimm'schen "Kinder- und Hausmärchen", oder sie bedienen sich der "ca. 7000 Profile männlicher, heterosexueller Nutzer der Online-Dating-Plattform Parship".

Aus Datenpools wie diesen fertigt Bajohr mit Hilfe von vier Verfahren neue Texte: Er durchkämmt die Korpora nach zuvor festgelegten Eigenschaften, so dass im Anschluss etwa die häufigsten Fünfworteinheiten aus Kafkas Werken neben denen von Goethe stehen: "die hände in den taschen / bis auf einen gewissen grad / im zimmer auf und ab / auf mehr als eine weise". Oder er lässt in Quelltexten den (Pseudo-)Zufall schalten und walten, damit aus einer Rede von Hans-Olaf Henkel wundersame Verse entstehen wie: "der exportüberschuss bestellt zaren nach china / so in schwellenländern beethoven wütet".

Hannes Bajohr ruft Textdateien als Audiodateien ab und übersetzt diese Klanggebilde wieder in Bilddaten, damit ein Gedichtklassiker wie Eugen Gomringers "schweigen" eine neue, wiederum faszinierend regelmäßige Gestalt annimmt. Oder er verwandelt kanonische Texte, indem er Wort für Wort von der Synonymsuche des Microsoft-Programms "Word" neu formulieren lässt. Bajohr ist das unoriginale Genie der deutschsprachigen Literatur. Konungenial mit Gregor Weichbrodt betreibt er das Textkollektiv 0x0a, einen Namen hat er sich in den vergangenen Jahren mit seinen Publikationen zur digitalen Literatur gemacht. Zu seinem Schreibkonzept passt, dass die Idee dazu ihrerseits nicht von Bajohr stammt, sondern sich munter bei der Konzeptkunst des Amerikaners Kenneth Goldsmith bedient.

Während Goldsmith also das Original-Unoriginal-Genie ist, ahmt Bajohr ungeniert unoriginell das Original-Unorginelle nach. In dieser Erbfolge lässt sich mit leichter Hand "Halbzeug" generieren - Texte, die immer auf ihre begrenzte Halbwertszeit hinweisen, die im Moment ihres Entstehens eigentlich schon wieder zerfallen, weil sie nur das Materiallager für den nächsten Text darstellen. Die Poetik beruht ausschließlich auf dem Prinzip, dass Informationen in neue Kontexte und Formate bewegt werden, um so in neuem Licht zu erscheinen und ihre Leser zu bewegen.

Würde für diese Poesie eine Gottheit verantwortlich zeichnen, so wie einst Apollon für die bildliche und Dionysos für die unbildliche Kunst standen, so müsste in diesem Fall der Gott Proteus die Schutzherrschaft übernehmen. Jener Gott, der innerhalb kürzester Zeit seine Gestalt ändern konnte. Wann immer Bajohrs Proteuspoesie auf einer zündenden konzeptuellen Idee gründet, liefert sie erhellende Querschnitte von sprachlichen Milieus und Kulturen. Erstaunlich häufig glänzen die Verse voller Witz und Raffinesse, etwa wenn sie per Zufallsprinzip aus allen Textproben, die sich auf der Website des Avantgarde-Verlags kookbooks befinden, ein Verspaar filtern wie: "twilight von gewicht / im aufwachraum".

Das gemischte Doppel balanciert auf leichtfüßige Weise ein Gedicht von Uljana Wolf ("ach, wär ich nur im aufwachraum geblieben"), eine Theorie von Judith Butler ("Körper von Gewicht") und das "Inbetween" des eigenen Verfahrens aus und trifft die Stimmung in der Gegenwartslyrik auf den Punkt. Man möchte nicht ausschließlich konzeptuelle Lyrik lesen, aber man will sie auch in keinem Fall missen. Dazu bereitet sie viel zu inspirierende Lektürefreude.

CHRISTIAN METZ

Hannes Bajohr: "Halbzeug". Textverarbeitung.

Suhrkamp Verlag. Berlin 2018. 109 S., br., 16,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Bajohr macht uns mit synästhetischen Abenteuern vertraut und weckt die Lust, die Technik selber an anderen Gegenständen auszuprobieren.« Hans Hütt taz. die tageszeitung 20180820