Süddeutsche ZeitungEichhörnchen mit kleinen Rucksäcken auf der Schulter
Der Neurologe und Bestsellerautor Oliver Sacks wird achtzig Jahre alt. Sein neues Buch handelt von Halluzinationen
Der Neurologe Oliver Sacks, der an diesem Dienstag achtzig Jahre alt wird, hat ein Talent für Titel, die man sich merkt: „Der Tag, an dem mein Bein fortging“ oder „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“. Sie klingen skurril – und benennen doch den Gegenstand mit völliger Klarheit, nämlich die beunruhigende Dissoziation dessen, was wir als die selbstverständliche Einheit unser selbst erleben. Dass es sich bei Person, Subjekt und Körper-Ich nicht um eine Grundtatsache handelt, sondern um die synthetische Leistung eines unbekannten Apparats, von dem wir unter normalen Umständen nur das Resultat und nicht das Getriebe zu sehen kriegen: für diese Einsicht bedarf es der Panne. Wenn der glatte Kabelschlauch platzt, quillt plötzlich das verwirrende Vielerlei der Kabel zutage. So gehen Sacks’ Geschichten. Wer sie liest, ist hingerissen, nicht nur wegen der erschreckenden und faszinierenden Einblicke ins Innenleben unseres Gehirns, sondern vor allem wegen der Form, die der Autor wählt; wie Sigmund Freud ist Sacks zu gleichen Teilen Nervenarzt und Novellist und weiß seine Fälle vor allem zu erzählen.
Sein neues Buch heißt auf Englisch „Hallucinations“. Im Deutschen ist daraus geworden „Drachen, Doppelgänger und Dämonen“, worin nicht nur immer noch „Götter, Gräber und Gelehrte“ nachschwingt – die Sache erscheint auch weit dramatischer, als Sachs es im Sinn hat. Denn, und das gehört zu den wichtigsten Dingen, die sich hier lernen lassen: Halluzinationen sind keineswegs vorrangig in der unheimlichen Sphäre von Rausch und Wahn zu Hause, wo immer zweifelhaft bleiben muss, welche Mächte sich da offenbaren und ob sie uns, einmal gerufen, je wieder loslassen; sie bilden sozusagen bloß das Programm des Hirns im Leerlauf, wenn sonst nichts los ist oder irgendwas schiefgeht. In der Halluzination äußert sich kein Dämon, auch kein psychisches Schicksal – Freud kam bald davon ab, sie als Manifestationen des Unbewussten wie die Träume nutzen zu wollen. Halluzinationen sind normal, lautet die zugleich entwarnende und ein wenig enttäuschende Botschaft.
Und sie sind wohl weit häufiger, als man meint; denn die meisten Menschen haben gute Gründe, ihre entsprechenden Erlebnisse lieber nicht zu erwähnen. Sacks sortiert nach Bereichen des Vorkommens: Halluzinationen bei Migräne, Epilepsie, Reizentzug, Parkinson, Narkolepsie (plötzlichen Schlafanfällen), Teilausfall des Blickfelds, bei Einschlafen und Erwachen, nicht selten auch „einfach so“.
Gleich auf der ersten Seite zitiert Sacks seine „Lieblingsdefinition“, formuliert von William James schon 1890: „Eine Halluzination ist eine rein sensorische Bewusstseinsform, eine ebenso wahrhaftige Sinneswahrnehmung, wie sie in Gegenwart eines realen Objekts stattfindet. Nur dass das Objekt zufällig nicht da ist.“
Allerdings unterscheiden sich die Halluzinationen von bloßen Vorstellungsinhalten dann doch auch wieder durch ihre Unwillkürlichkeit, ihre Detailtreue und ihre bruchlose Kontinuität zur wahrgenommenen Außenwelt. Nur der gesunde Menschenverstand kann dann angeben, was real ist und was nicht. Wenn zum Beispiel jemandem plötzlich spannenlange Menschlein im orientalischen Kostüm vor Augen treten, dann ist es unwahrscheinlich, dass sie von außen kommen. Aber auch da kann man sich täuschen: Ein Halluzinierender, der regelmäßig schwebende Gestalten um sich sah, verärgerte eines Tages einen winkenden Fensterputzer vor seinem Hochhausbüro, als er nicht zurückgrüßte – er hatte ihn für halluzinatorische Routine gehalten. Wer rechnet denn mit Besuch von draußen im 30. Stock! Erst wenn dieses Unterscheidungsvermögen prinzipiell dahinfällt und derjenige, der befehlende Stimmen hört, anfängt, ihnen zu gehorchen, beginnt der Formenkreis der Erkrankung.
Man kann Halluzinationen genießen wie Kino: als etwas, das sich in unglaublicher Detailfreude darbietet, uns scheinbar ohne unser Zutun in den Schoß fällt – und uns nichts angeht. Die meisten Erfahrungsberichte betonen die emotionale Gleichgültigkeit, mit der diese bunten Erscheinungen aufgenommen werden, ästhetisch reizvoll und in der Verpuffung sich erschöpfend wie ein schönes Feuerwerk, all die intrikaten geometrischen Figuren, die herumwedelnden blauen Taschentücher, die Paraden von Eichhörnchen mit kleinen Rucksäcken auf der Schulter. Besondere Dankbarkeit dafür empfinden Menschen, die vor Kurzem erblindet sind. Oder wie Sacks es in seiner anschaulichen Sprache ausdrückt, es ist, als würden die Augen sagen: „Tut uns leid, dass wir dich im Stich gelassen haben. Wir geben zu, dass blind zu sein kein Spaß ist, daher haben wir dieses kleine Syndrom organisiert, eine Art Coda zu deinem sehenden Leben. Es ist nicht viel, aber das Beste, was wir dir unter diesen Umständen bieten können.“
Wer Gesichter sieht, bei dem funkt es im fusiformen Gyrus; und auch für die Vorstellung von Nasen und, erstaunlicherweise, Kopfbedeckungen, scheint es spezialisierte Hirnareale zu geben. Am interessantesten sind Farben, die sich komplett vom bekannten Spektrum unterscheiden. Alles andere kann der sensorisch gänzlich nach außen orientierte Mensch irgendwie nachvollziehen, weil es sich um Rekombinationen auch ihm bekannter Elemente handelt; aber hier beginnt das Feld der neurologischen Mystik.
Am wirkungsmächtigsten sind diejenigen Halluzinationen, die nicht durch Realitätskontrolle zu falsifizieren sind. Sacks bucht diese Phänomene unter dem Stichwort der „gefühlten Präsenz“, etwa wenn man sich nicht von dem Eindruck losmachen kann, es schaue einem jemand ständig auf den Hinterkopf – wenn man sich umdreht, blickt der andere natürlich grade weg. Zu dieser Gruppe rechnet Sacks auch „das bestürzende Gewahrsein von etwas unaussprechlich Gutem“, mit anderen Worten, die religiöse Erfahrung, und hält verwundert fest, wobei er den von ihm hochgeschätzten Henry James zitiert: „Viele Menschen (wie viele, können wir nicht sagen) besitzen die Gegenstände ihres Glaubens nicht als bloße Begriffe, die ihr Intellekt für wahr hält, vielmehr in Gestalt quasisinnlicher Realitäten, die unmittelbar wahrgenommen werden.“ Das wirft ein gewöhnungsbedürftiges Licht auf das Wesen der Religion: Der halluzinierende Mensch ist groß genug, Idee und Gegenwart Gottes zu erschaffen – aber wer oder was er selbst, der Mensch, ist, der solches unwillkürlich vollbringt, das birgt ein tieferes Rätsel denn je.
BURKHARD MÜLLER
Halluzinationen sind
normal und weitaus häufiger,
als man meint
Manche Vorstellung lässt sich
nicht falsifizieren
Der britische Neurologe Oliver Sacks, geboren am 9. Juli 1933, ist wie Freud ein großer Nervenarzt und Novellist. Berühmt wurde er mit Büchern wie „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ oder „Der Tag, an dem mein Bein fortging“. Er ist Professor für Neurologie an der New York University School of Medicine.
FOTO: AFP
Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Über Menschen mit Halluzinationen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2013. 350 Seiten, 22,95 Euro.
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Der Neurologe und Bestsellerautor Oliver Sacks wird achtzig Jahre alt. Sein neues Buch handelt von Halluzinationen
Der Neurologe Oliver Sacks, der an diesem Dienstag achtzig Jahre alt wird, hat ein Talent für Titel, die man sich merkt: „Der Tag, an dem mein Bein fortging“ oder „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“. Sie klingen skurril – und benennen doch den Gegenstand mit völliger Klarheit, nämlich die beunruhigende Dissoziation dessen, was wir als die selbstverständliche Einheit unser selbst erleben. Dass es sich bei Person, Subjekt und Körper-Ich nicht um eine Grundtatsache handelt, sondern um die synthetische Leistung eines unbekannten Apparats, von dem wir unter normalen Umständen nur das Resultat und nicht das Getriebe zu sehen kriegen: für diese Einsicht bedarf es der Panne. Wenn der glatte Kabelschlauch platzt, quillt plötzlich das verwirrende Vielerlei der Kabel zutage. So gehen Sacks’ Geschichten. Wer sie liest, ist hingerissen, nicht nur wegen der erschreckenden und faszinierenden Einblicke ins Innenleben unseres Gehirns, sondern vor allem wegen der Form, die der Autor wählt; wie Sigmund Freud ist Sacks zu gleichen Teilen Nervenarzt und Novellist und weiß seine Fälle vor allem zu erzählen.
Sein neues Buch heißt auf Englisch „Hallucinations“. Im Deutschen ist daraus geworden „Drachen, Doppelgänger und Dämonen“, worin nicht nur immer noch „Götter, Gräber und Gelehrte“ nachschwingt – die Sache erscheint auch weit dramatischer, als Sachs es im Sinn hat. Denn, und das gehört zu den wichtigsten Dingen, die sich hier lernen lassen: Halluzinationen sind keineswegs vorrangig in der unheimlichen Sphäre von Rausch und Wahn zu Hause, wo immer zweifelhaft bleiben muss, welche Mächte sich da offenbaren und ob sie uns, einmal gerufen, je wieder loslassen; sie bilden sozusagen bloß das Programm des Hirns im Leerlauf, wenn sonst nichts los ist oder irgendwas schiefgeht. In der Halluzination äußert sich kein Dämon, auch kein psychisches Schicksal – Freud kam bald davon ab, sie als Manifestationen des Unbewussten wie die Träume nutzen zu wollen. Halluzinationen sind normal, lautet die zugleich entwarnende und ein wenig enttäuschende Botschaft.
Und sie sind wohl weit häufiger, als man meint; denn die meisten Menschen haben gute Gründe, ihre entsprechenden Erlebnisse lieber nicht zu erwähnen. Sacks sortiert nach Bereichen des Vorkommens: Halluzinationen bei Migräne, Epilepsie, Reizentzug, Parkinson, Narkolepsie (plötzlichen Schlafanfällen), Teilausfall des Blickfelds, bei Einschlafen und Erwachen, nicht selten auch „einfach so“.
Gleich auf der ersten Seite zitiert Sacks seine „Lieblingsdefinition“, formuliert von William James schon 1890: „Eine Halluzination ist eine rein sensorische Bewusstseinsform, eine ebenso wahrhaftige Sinneswahrnehmung, wie sie in Gegenwart eines realen Objekts stattfindet. Nur dass das Objekt zufällig nicht da ist.“
Allerdings unterscheiden sich die Halluzinationen von bloßen Vorstellungsinhalten dann doch auch wieder durch ihre Unwillkürlichkeit, ihre Detailtreue und ihre bruchlose Kontinuität zur wahrgenommenen Außenwelt. Nur der gesunde Menschenverstand kann dann angeben, was real ist und was nicht. Wenn zum Beispiel jemandem plötzlich spannenlange Menschlein im orientalischen Kostüm vor Augen treten, dann ist es unwahrscheinlich, dass sie von außen kommen. Aber auch da kann man sich täuschen: Ein Halluzinierender, der regelmäßig schwebende Gestalten um sich sah, verärgerte eines Tages einen winkenden Fensterputzer vor seinem Hochhausbüro, als er nicht zurückgrüßte – er hatte ihn für halluzinatorische Routine gehalten. Wer rechnet denn mit Besuch von draußen im 30. Stock! Erst wenn dieses Unterscheidungsvermögen prinzipiell dahinfällt und derjenige, der befehlende Stimmen hört, anfängt, ihnen zu gehorchen, beginnt der Formenkreis der Erkrankung.
Man kann Halluzinationen genießen wie Kino: als etwas, das sich in unglaublicher Detailfreude darbietet, uns scheinbar ohne unser Zutun in den Schoß fällt – und uns nichts angeht. Die meisten Erfahrungsberichte betonen die emotionale Gleichgültigkeit, mit der diese bunten Erscheinungen aufgenommen werden, ästhetisch reizvoll und in der Verpuffung sich erschöpfend wie ein schönes Feuerwerk, all die intrikaten geometrischen Figuren, die herumwedelnden blauen Taschentücher, die Paraden von Eichhörnchen mit kleinen Rucksäcken auf der Schulter. Besondere Dankbarkeit dafür empfinden Menschen, die vor Kurzem erblindet sind. Oder wie Sacks es in seiner anschaulichen Sprache ausdrückt, es ist, als würden die Augen sagen: „Tut uns leid, dass wir dich im Stich gelassen haben. Wir geben zu, dass blind zu sein kein Spaß ist, daher haben wir dieses kleine Syndrom organisiert, eine Art Coda zu deinem sehenden Leben. Es ist nicht viel, aber das Beste, was wir dir unter diesen Umständen bieten können.“
Wer Gesichter sieht, bei dem funkt es im fusiformen Gyrus; und auch für die Vorstellung von Nasen und, erstaunlicherweise, Kopfbedeckungen, scheint es spezialisierte Hirnareale zu geben. Am interessantesten sind Farben, die sich komplett vom bekannten Spektrum unterscheiden. Alles andere kann der sensorisch gänzlich nach außen orientierte Mensch irgendwie nachvollziehen, weil es sich um Rekombinationen auch ihm bekannter Elemente handelt; aber hier beginnt das Feld der neurologischen Mystik.
Am wirkungsmächtigsten sind diejenigen Halluzinationen, die nicht durch Realitätskontrolle zu falsifizieren sind. Sacks bucht diese Phänomene unter dem Stichwort der „gefühlten Präsenz“, etwa wenn man sich nicht von dem Eindruck losmachen kann, es schaue einem jemand ständig auf den Hinterkopf – wenn man sich umdreht, blickt der andere natürlich grade weg. Zu dieser Gruppe rechnet Sacks auch „das bestürzende Gewahrsein von etwas unaussprechlich Gutem“, mit anderen Worten, die religiöse Erfahrung, und hält verwundert fest, wobei er den von ihm hochgeschätzten Henry James zitiert: „Viele Menschen (wie viele, können wir nicht sagen) besitzen die Gegenstände ihres Glaubens nicht als bloße Begriffe, die ihr Intellekt für wahr hält, vielmehr in Gestalt quasisinnlicher Realitäten, die unmittelbar wahrgenommen werden.“ Das wirft ein gewöhnungsbedürftiges Licht auf das Wesen der Religion: Der halluzinierende Mensch ist groß genug, Idee und Gegenwart Gottes zu erschaffen – aber wer oder was er selbst, der Mensch, ist, der solches unwillkürlich vollbringt, das birgt ein tieferes Rätsel denn je.
BURKHARD MÜLLER
Halluzinationen sind
normal und weitaus häufiger,
als man meint
Manche Vorstellung lässt sich
nicht falsifizieren
Der britische Neurologe Oliver Sacks, geboren am 9. Juli 1933, ist wie Freud ein großer Nervenarzt und Novellist. Berühmt wurde er mit Büchern wie „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ oder „Der Tag, an dem mein Bein fortging“. Er ist Professor für Neurologie an der New York University School of Medicine.
FOTO: AFP
Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Über Menschen mit Halluzinationen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2013. 350 Seiten, 22,95 Euro.
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