Entstanden ursprünglich als Zweig der ägyptischen Muslimbrüder in Palästina, hat sich die Hamas als religiöse Alternative zur säkularen PLO behauptet. In Opposition und Regierung gibt sich die Hamas neben dem Terrorismus zwar auch pragmatisch. Ihr Endziel aber bleibt die Rückeroberung des gesamten Gebiets des historischen Palästina und die Gründung eines islamischen palästinensischen Staates. Ihr Sozial- und Erziehungsnetz dient dabei nicht nur wohltätigen Zwecken, sondern auch der ideologischen Vorbereitung des Dschihad gegen Israel. Israel sieht in der Hamas nur die Terrororganisation und schlägt mit aller Härte zurück - mit begrenztem Erfolg. Joseph Croitoru legt auf beeindruckende Weise anhand vieler im Westen bisher nicht bekannter Quellen die Ziele und die Funktionsweise der Hamas offen. Sein meisterhaft geschriebenes Buch ist ein "Muß" für alle, die verstehen wollen, wie die Islamisten, demokratisch legitimiert, die politischen Koordinaten im Nahen Osten grundlegend verändern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2024Sie übten den Angriff
Joseph Croitoru über die Hamas
Bis zum 7. Oktober 2023 war das Interesse am Gazastreifen im Westen stetig gesunken. Das vierzig Kilometer lange und zwischen sechs und vierzehn Kilometer breite Gebiet stand seit Jahren unter der Herrschaft radikaler Islamisten, die Nachbarländer hatten es weitgehend abgeriegelt. Die Zustände waren nicht gut, aber auch nicht katastrophal, alarmierenden Berichten der Vereinten Nationen und von Nichtregierungsorganisationen zum Trotz. Ein- bis zweimal pro Jahr kam es zu einem mehrtägigen militärischen Schlagabtausch zwischen Milizen in Gaza und der israelischen Armee, den Letztere dominierte. Ansonsten, so schien es, tat sich dort nicht wirklich viel.
Diese gründliche Täuschung hat nicht nur zur größten Katastrophe in Israels Geschichte geführt, sondern die ganze Region an den Rand einer ungekannten Eskalation gebracht. Rückblickend gibt es einige Hinweise darauf, dass die Hamas sich eben nicht darauf beschränken wollte, ihre Herrschaft in Gaza zu sichern. Joseph Croitoru führt in seinem Buch "Die Hamas" einige davon auf, etwa die Militärübungen, die bewaffnete Gruppen seit 2020 gemeinsam abhielten und in denen immer weniger die Verteidigung geprobt wurde und immer mehr der Angriff. Oder der von einer Beobachtungssoldatin aufgezeichnete Funkspruch, in dem von der Ermordung von Kibbuzbewohnern die Rede war. Oder das Plakat, das gegenüber einem israelischen Landwirtschaftsdorf angebracht worden war und auf dem die nahende "Vernichtung der Besatzer" angekündigt wurde.
Ein Jahr später ist Yahya Sinwar, der als Planer des Terrorangriffs vom 7. Oktober gilt, zum Hamas-Chef aufgestiegen, nachdem Ismail Haniyeh getötet wurde, mutmaßlich von Israel. Zugleich geht im Gazastreifen ein unbarmherzig geführter Krieg weiter. Die Dinge sind also stark in Bewegung. Croitoru geht dennoch davon aus, dass die Alleinherrschaft der Hamas in Gaza nach eineinhalb Jahrzehnten zu Ende gegangen ist. Sie werde "in die Annalen der Region wohl als weiterer gewaltsam verhinderter Versuch eingehen, ein islamistisches Regime zu etablieren - ähnlich dem ihrer Mutterorganisation der Muslimbrüder in Ägypten".
Seit der gewaltsamen Machtübernahme 2007 waren Hamas und Gaza zwei Begriffe, die fast synonym verwendet wurden. Das spiegelt sich auch in dem Buch wider - mehr als die Hälfte der siebzehn Kapitel konzentrieren sich auf den Küstenstreifen. Croitoru, ein profunder Kenner des Nahostkonflikts, schreibt damit zugleich sein Buch "Hamas. Der islamische Kampf um Palästina" fort, das 2007 erschienen war.
In der Darstellung wird klar, dass die Hamas seit ihrer Gründung 1987 im doppelten Sinn eine "Widerstandsbewegung" war: gegen Israel, aber auch gegen die "Palästinensische Befreiungsorganisation" und deren Friedenskurs. Sie war "auch mit dem Ziel gegründet worden, jeglichen palästinensischen Dialog mit den israelischen Besatzern zu torpedieren". Es ist fast unheimlich nachzulesen, wie gut ihr das gelang. Anschläge auf Israelis - bald nicht mehr nur Soldaten, sondern auch Zivilisten - setzte sie zielgerichtet ein, nicht zuletzt, um die israelische Bevölkerung gegen den Oslo-Friedensprozess aufzubringen.
Zugleich verbreitete sie intensiv Propaganda, um die Führungsrolle im Widerstand zu erringen. Ihre Charta enthielt nationalistische ebenso wie islamische Motive (und antisemitische Mythen). Auch begann sie früh, mit einer "syrisch-iranischen Allianz der radikalen Israel-Gegner" zusammenzuarbeiten - ebenfalls ein roter Faden bis in die Gegenwart.
Die Hamas, die "zugleich politische Bewegung, Wohlfahrtsorganisation und Miliz" ist, hat sich immer wieder neu erfunden, zum Beispiel 2005 bei ihrem Gang in die Politik. Croitoru hätte einige strukturelle Fragen gründlicher behandeln können, etwa die, ob irgendwann womöglich die Chance auf eine Mäßigung der Hamas bestand. Seine ereignisgeschichtliche Darstellung besticht indessen durch ihren genauen, abgewogenen und nüchternen Charakter - ein Gewinn, gerade bei einem so aufgeladenen Thema. CHRISTIAN MEIER
Joseph Croitoru: "Die Hamas". Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel.
C. H. Beck Verlag, München 2024. 223 S., br.,
18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Joseph Croitoru über die Hamas
Bis zum 7. Oktober 2023 war das Interesse am Gazastreifen im Westen stetig gesunken. Das vierzig Kilometer lange und zwischen sechs und vierzehn Kilometer breite Gebiet stand seit Jahren unter der Herrschaft radikaler Islamisten, die Nachbarländer hatten es weitgehend abgeriegelt. Die Zustände waren nicht gut, aber auch nicht katastrophal, alarmierenden Berichten der Vereinten Nationen und von Nichtregierungsorganisationen zum Trotz. Ein- bis zweimal pro Jahr kam es zu einem mehrtägigen militärischen Schlagabtausch zwischen Milizen in Gaza und der israelischen Armee, den Letztere dominierte. Ansonsten, so schien es, tat sich dort nicht wirklich viel.
Diese gründliche Täuschung hat nicht nur zur größten Katastrophe in Israels Geschichte geführt, sondern die ganze Region an den Rand einer ungekannten Eskalation gebracht. Rückblickend gibt es einige Hinweise darauf, dass die Hamas sich eben nicht darauf beschränken wollte, ihre Herrschaft in Gaza zu sichern. Joseph Croitoru führt in seinem Buch "Die Hamas" einige davon auf, etwa die Militärübungen, die bewaffnete Gruppen seit 2020 gemeinsam abhielten und in denen immer weniger die Verteidigung geprobt wurde und immer mehr der Angriff. Oder der von einer Beobachtungssoldatin aufgezeichnete Funkspruch, in dem von der Ermordung von Kibbuzbewohnern die Rede war. Oder das Plakat, das gegenüber einem israelischen Landwirtschaftsdorf angebracht worden war und auf dem die nahende "Vernichtung der Besatzer" angekündigt wurde.
Ein Jahr später ist Yahya Sinwar, der als Planer des Terrorangriffs vom 7. Oktober gilt, zum Hamas-Chef aufgestiegen, nachdem Ismail Haniyeh getötet wurde, mutmaßlich von Israel. Zugleich geht im Gazastreifen ein unbarmherzig geführter Krieg weiter. Die Dinge sind also stark in Bewegung. Croitoru geht dennoch davon aus, dass die Alleinherrschaft der Hamas in Gaza nach eineinhalb Jahrzehnten zu Ende gegangen ist. Sie werde "in die Annalen der Region wohl als weiterer gewaltsam verhinderter Versuch eingehen, ein islamistisches Regime zu etablieren - ähnlich dem ihrer Mutterorganisation der Muslimbrüder in Ägypten".
Seit der gewaltsamen Machtübernahme 2007 waren Hamas und Gaza zwei Begriffe, die fast synonym verwendet wurden. Das spiegelt sich auch in dem Buch wider - mehr als die Hälfte der siebzehn Kapitel konzentrieren sich auf den Küstenstreifen. Croitoru, ein profunder Kenner des Nahostkonflikts, schreibt damit zugleich sein Buch "Hamas. Der islamische Kampf um Palästina" fort, das 2007 erschienen war.
In der Darstellung wird klar, dass die Hamas seit ihrer Gründung 1987 im doppelten Sinn eine "Widerstandsbewegung" war: gegen Israel, aber auch gegen die "Palästinensische Befreiungsorganisation" und deren Friedenskurs. Sie war "auch mit dem Ziel gegründet worden, jeglichen palästinensischen Dialog mit den israelischen Besatzern zu torpedieren". Es ist fast unheimlich nachzulesen, wie gut ihr das gelang. Anschläge auf Israelis - bald nicht mehr nur Soldaten, sondern auch Zivilisten - setzte sie zielgerichtet ein, nicht zuletzt, um die israelische Bevölkerung gegen den Oslo-Friedensprozess aufzubringen.
Zugleich verbreitete sie intensiv Propaganda, um die Führungsrolle im Widerstand zu erringen. Ihre Charta enthielt nationalistische ebenso wie islamische Motive (und antisemitische Mythen). Auch begann sie früh, mit einer "syrisch-iranischen Allianz der radikalen Israel-Gegner" zusammenzuarbeiten - ebenfalls ein roter Faden bis in die Gegenwart.
Die Hamas, die "zugleich politische Bewegung, Wohlfahrtsorganisation und Miliz" ist, hat sich immer wieder neu erfunden, zum Beispiel 2005 bei ihrem Gang in die Politik. Croitoru hätte einige strukturelle Fragen gründlicher behandeln können, etwa die, ob irgendwann womöglich die Chance auf eine Mäßigung der Hamas bestand. Seine ereignisgeschichtliche Darstellung besticht indessen durch ihren genauen, abgewogenen und nüchternen Charakter - ein Gewinn, gerade bei einem so aufgeladenen Thema. CHRISTIAN MEIER
Joseph Croitoru: "Die Hamas". Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel.
C. H. Beck Verlag, München 2024. 223 S., br.,
18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "gründlich und eindrücklich" lobt Rezensent Wolfgang Günter Lerch diese Hamas-Analyse seines FAZ-Kollegen Joseph Croitoru, beschränkt sich im weiteren jedoch darauf, die Befunde des Autors zu rekapitulieren. Ausführlich stellt Croitoru demnach die Ursprünge der Hamas dar, ihre Ideologie, ihre instrumentelle Wohltätigkeitspolitik und ihren Terror, dem beileibe nicht nur Israelis zum Opfer gefallen sind. Interessant scheint Lerch auch, wie die Hamas versucht, den Kampf gegen die israelische Besatzung als quasi islamisch zu monopolisieren: der weitaus bedeutendere Widerstand der PLO wird im Geschichtsbild der Hamas komplett ausgeblendet. Rezepte für den Umgang mit der - gewählten - Hamas hat Croitoru nach Darstellung des Rezensenten nicht parat, plädiert aber zwischen den Zeilen, wie Lerch interpretiert, für eine Politik, die der Hamas die Möglichkeit nimmt, sich als "einzige legitime und wirksame Kraft der Palästinenser" zu präsentieren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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