Das Geheimnis von Shakespeares Hamlet hat viele Aspekte. Seit der Romantik ist es grundlose Melancholie, die den Helden politisch unfähig macht; die subjektive Seite der Tragödie bringt die politische Konstellation zum Verschwinden. Was beide Seiten verbindet, die subjektive Misere im Vordergrund und die objektive Sphäre im Hintergrund, ist die doppelte Rolle des verlorenen Vaters und ermordeten Königs. Wie, wenn das Geheimnis, dessen Hamlet gewahr würde, darin bestünde, daß der Vater nicht der Vater, sondern der Onkel, der Sohn nicht der Sohn des ermordeten Königs, sondern der Mörder und Usurpator wäre?"Die Texte [.] sind meist für theoretisch Fortgeschrittene [.]. Aber warum nicht, Fortgeschrittene haben auch eine Existenzberechtigung und für genau die verweist Haverkamp dann etwa auf 128 Momente, für die es sich lohnt, den Kopf zu knoten. (DE:BUG)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.04.2001Wieder gliedern
Anselm Haverkamp studiert den „Hamlet” anamorphotisch
In der Londoner National Gallery hängt das von Hans Holbein gemalte Doppelporträt mit dem Titel „The Ambassadors”. Dargestellt sind zwei französische Gesandte am Hof des englischen Königs Heinrich VIII. Zwischen ihnen leckt, von links unten, ein seltsamer Umriss über den Marmorboden. Erst wenn der Betrachter von rechts oben auf das Gemälde schaut, erkennt er, dass es sich bei der bräunlichen Schliere um einen Totenkopf handelt.
Diese anamorphotische, also bewusst verzerrende Schädel-Darstellung hat zu vielen Interpretationen Anlass gegeben. Sie wurde als zeittypisches Memento mori gedeutet. Jacques Lacan diente sie als Beispiel für die freudianische Spaltung zwischen Darstellung und Realität. Anselm Haverkamp findet nun in seiner Studie „Hamlet, Hypothek der Macht” einen komparatistischen Zugang zu Holbeins Werk: dies sei, so Haverkamp, das „strukturell maßgebliche Gegenstück” zu Shakespeares Tragödie. Man muss nur den Standpunkt wechseln, um beide neu zu begreifen.
Haverkamp, Professor für Literaturwissenschaft in New York und Frankfurt an derOder, spart bei seinen Betrachtungen nicht mit hochkomplexen Perspektiv-Verzerrungen. So erscheint ihm die ganze Rachegeschichte in „Hamlet” als Anamorphose der Rahmenhandlung um den norwegischen Prinzen Fortinbras, die er als die eigentliche (politische) Hauptaktion begreift: Fortinbras rächt mit der Eroberung Dänemarks den von Hamlets Vater verschuldeten Tod seines eigenen Vaters. Eben dies ist die titelgebende Hypothek, die Hamlet als Thronfolger von Beginn an belastet.
Zugleich sind bei Haverkamp die Familienverhältnisse im dänischen Königshaus bei weitem nicht so klar, wie sie Generationen von Interpreten erschienen. Das beschwörende „Remember me”, das der Geist Hamlet zuruft, nimmt der Autor wörtlich: Nicht die Erinnerung an den Vater sei hier gemeint, sondern „die Restitution der Glieder, das re-membering eines der Zeugungskraft beraubten Königs”. Es ist kein neuer Gedanke, dass der Geist mit der Beschimpfung seines Bruders Claudius – ein „blutschänd’rischer Unmensch” – dessen Ehebruch mit Hamlets Mutter Gertrude schon zu seinen, des alten Hamlet, Lebzeiten umschreibt. Originell ist jedoch Haverkamps Folgerung, vor der, wie er sagt, „mit Hamlet die gesamte Forschung zurückschreckt”: dass nämlich nicht das Rache fordernde Gespenst eigentlich Hamlets Vater ist, sondern der vermeintliche Onkel Claudius.
Damit wird für Haverkamp aus dem Geist ein teuflischer Rachedämon, dem nicht zu trauen Hamlet gut ansteht. Und man hätte einen Grund gefunden für das sprichwörtliche Zögern des Prinzen, Claudius umzubringen. Als dessen Sohn wäre Hamlet ja in jedem Falle Thronanwärter und würde sich, löschte er den Rachedurst des Geistes, des Vatermordes schuldig machen. In dieser anamorphotischen Betrachtungsweise hätte Gertrude die Machterhaltung ihres Sohnes doppelt gesichert. Dafür muss sie dann sogar mit dem Tode büßen, weil Hamlet „es zu genau wissen will”. Dem Wittenberger Studenten steht sein aufklärerisches Streben im Wege, weil es unvereinbar ist mit der archaischen, sexualisierten Familienpolitik, auf die es am dänischen Hof trifft.
Echos bis zu Diana
Dies ist die spannendste Konstruktion in Haverkamps Studie. Er stellt – ganz im Sinne des amerikanischen New Historicism – „Hamlet” in den Kontext des Machtwechsels zwischen Elisabeth I. und James I. Hier die „jungfräuliche Königin”, die sich durch Keuschheit den Fußangeln jener Geschlechterpolitik entzog, welche Hamlet zum Verhängnis wird, dort der zum Hedonismus neigende Schotte, der für ein antiquiertes Gottesgnadentum steht: „Hamlet” – ein zu seiner Zeit unverstandener, weil zugleich überholter und über sie hinaus weisender Fürsten-Zerrspiegel.
Nicht alle Erklärungsversuche in „Hypothek der Macht” überzeugen – zuweilen geraten sie Haverkamp zu konstruktivistischen Kapriolen. Etwa wenn er das Requiem für die „dem mythischen Namen der Virgin Queen ausgestattete Prinzessin Diana” zum „fernen Echo des Theaterdonners von 1603” erklärt. Auch das letzte Kapitel, das sich in erster Linie mit den machiavellistischen Elementen von „Macbeth” befasst, wäre in einer Aufsatzsammlung zum Scottish play wohl besser aufgehoben gewesen. Doch bei allem Willen zur Stilisierung, bei allem intellektuellen Name-Dropping zwischen Hegel und Derrida, das Haverkamp recht exzessiv betreibt: sein Bändchen ist als Beitrag zum Hamlet-Diskurs mindestens so gewichtig wie Harold Blooms „Erfindung des Menschlichen”, die im vorigen Jahr mit großem Gepränge auf Deutsch präsentiert wurde.
ALEXANDER MENDEN
ANSELM HAVERKAMP: Hamlet, Hypothek der Macht. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2001. 136 Seiten, 29,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Anselm Haverkamp studiert den „Hamlet” anamorphotisch
In der Londoner National Gallery hängt das von Hans Holbein gemalte Doppelporträt mit dem Titel „The Ambassadors”. Dargestellt sind zwei französische Gesandte am Hof des englischen Königs Heinrich VIII. Zwischen ihnen leckt, von links unten, ein seltsamer Umriss über den Marmorboden. Erst wenn der Betrachter von rechts oben auf das Gemälde schaut, erkennt er, dass es sich bei der bräunlichen Schliere um einen Totenkopf handelt.
Diese anamorphotische, also bewusst verzerrende Schädel-Darstellung hat zu vielen Interpretationen Anlass gegeben. Sie wurde als zeittypisches Memento mori gedeutet. Jacques Lacan diente sie als Beispiel für die freudianische Spaltung zwischen Darstellung und Realität. Anselm Haverkamp findet nun in seiner Studie „Hamlet, Hypothek der Macht” einen komparatistischen Zugang zu Holbeins Werk: dies sei, so Haverkamp, das „strukturell maßgebliche Gegenstück” zu Shakespeares Tragödie. Man muss nur den Standpunkt wechseln, um beide neu zu begreifen.
Haverkamp, Professor für Literaturwissenschaft in New York und Frankfurt an derOder, spart bei seinen Betrachtungen nicht mit hochkomplexen Perspektiv-Verzerrungen. So erscheint ihm die ganze Rachegeschichte in „Hamlet” als Anamorphose der Rahmenhandlung um den norwegischen Prinzen Fortinbras, die er als die eigentliche (politische) Hauptaktion begreift: Fortinbras rächt mit der Eroberung Dänemarks den von Hamlets Vater verschuldeten Tod seines eigenen Vaters. Eben dies ist die titelgebende Hypothek, die Hamlet als Thronfolger von Beginn an belastet.
Zugleich sind bei Haverkamp die Familienverhältnisse im dänischen Königshaus bei weitem nicht so klar, wie sie Generationen von Interpreten erschienen. Das beschwörende „Remember me”, das der Geist Hamlet zuruft, nimmt der Autor wörtlich: Nicht die Erinnerung an den Vater sei hier gemeint, sondern „die Restitution der Glieder, das re-membering eines der Zeugungskraft beraubten Königs”. Es ist kein neuer Gedanke, dass der Geist mit der Beschimpfung seines Bruders Claudius – ein „blutschänd’rischer Unmensch” – dessen Ehebruch mit Hamlets Mutter Gertrude schon zu seinen, des alten Hamlet, Lebzeiten umschreibt. Originell ist jedoch Haverkamps Folgerung, vor der, wie er sagt, „mit Hamlet die gesamte Forschung zurückschreckt”: dass nämlich nicht das Rache fordernde Gespenst eigentlich Hamlets Vater ist, sondern der vermeintliche Onkel Claudius.
Damit wird für Haverkamp aus dem Geist ein teuflischer Rachedämon, dem nicht zu trauen Hamlet gut ansteht. Und man hätte einen Grund gefunden für das sprichwörtliche Zögern des Prinzen, Claudius umzubringen. Als dessen Sohn wäre Hamlet ja in jedem Falle Thronanwärter und würde sich, löschte er den Rachedurst des Geistes, des Vatermordes schuldig machen. In dieser anamorphotischen Betrachtungsweise hätte Gertrude die Machterhaltung ihres Sohnes doppelt gesichert. Dafür muss sie dann sogar mit dem Tode büßen, weil Hamlet „es zu genau wissen will”. Dem Wittenberger Studenten steht sein aufklärerisches Streben im Wege, weil es unvereinbar ist mit der archaischen, sexualisierten Familienpolitik, auf die es am dänischen Hof trifft.
Echos bis zu Diana
Dies ist die spannendste Konstruktion in Haverkamps Studie. Er stellt – ganz im Sinne des amerikanischen New Historicism – „Hamlet” in den Kontext des Machtwechsels zwischen Elisabeth I. und James I. Hier die „jungfräuliche Königin”, die sich durch Keuschheit den Fußangeln jener Geschlechterpolitik entzog, welche Hamlet zum Verhängnis wird, dort der zum Hedonismus neigende Schotte, der für ein antiquiertes Gottesgnadentum steht: „Hamlet” – ein zu seiner Zeit unverstandener, weil zugleich überholter und über sie hinaus weisender Fürsten-Zerrspiegel.
Nicht alle Erklärungsversuche in „Hypothek der Macht” überzeugen – zuweilen geraten sie Haverkamp zu konstruktivistischen Kapriolen. Etwa wenn er das Requiem für die „dem mythischen Namen der Virgin Queen ausgestattete Prinzessin Diana” zum „fernen Echo des Theaterdonners von 1603” erklärt. Auch das letzte Kapitel, das sich in erster Linie mit den machiavellistischen Elementen von „Macbeth” befasst, wäre in einer Aufsatzsammlung zum Scottish play wohl besser aufgehoben gewesen. Doch bei allem Willen zur Stilisierung, bei allem intellektuellen Name-Dropping zwischen Hegel und Derrida, das Haverkamp recht exzessiv betreibt: sein Bändchen ist als Beitrag zum Hamlet-Diskurs mindestens so gewichtig wie Harold Blooms „Erfindung des Menschlichen”, die im vorigen Jahr mit großem Gepränge auf Deutsch präsentiert wurde.
ALEXANDER MENDEN
ANSELM HAVERKAMP: Hamlet, Hypothek der Macht. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2001. 136 Seiten, 29,80 Mark.
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"Sein Bändchen ist als Beitrag zum Hamlet-Diskurs mindestens so gewichtig wie Harold Blooms 'Erfindung des Menschlichen', die im vorigen Jahr mit großem Gepränge auf Deutsch präsentiert wurde." (Süddeutsche Zeitung)
"Die Texte ... sind meist für theoretisch Fortgeschrittene .... Aber warum nicht, Fortgeschrittene haben auch eine Existenzberechtigung und für genau die verweist Haverkamp dann etwa auf 128 Momente, für die es sich lohnt, den Kopf zu knoten. ... Auf Leser, beißt euch die Zähne aus, und auch wenn man sich von Verweisen nie beeindrucken lassen soll, versteckt euch dabei nicht hinter dem Argument, dass hier jemand zu viele Bälle ins Spiel bringt. Ganz so einfach ist es nämlich nicht." (DE:BUG)
"Die Texte ... sind meist für theoretisch Fortgeschrittene .... Aber warum nicht, Fortgeschrittene haben auch eine Existenzberechtigung und für genau die verweist Haverkamp dann etwa auf 128 Momente, für die es sich lohnt, den Kopf zu knoten. ... Auf Leser, beißt euch die Zähne aus, und auch wenn man sich von Verweisen nie beeindrucken lassen soll, versteckt euch dabei nicht hinter dem Argument, dass hier jemand zu viele Bälle ins Spiel bringt. Ganz so einfach ist es nämlich nicht." (DE:BUG)