Die Kunst der Verführung - ein Roman über Liebe und Politik und die Betten im geteilten Deutschland. Er ist ein Spieler, ein Filou, ein Frauenheld und genialer Händler, der immer wieder auf die Beine kommt, aber am Ende vor die Hunde geht: Michael Kumpfmüllers Geschichte vom Bettenverkäufer Heinrich Hampel ist ein ebenso kraftvolles wie feinfühliges Buch über Politik und Liebe und die Betten im geteilten Deutschland, die Kumpanei mit der Macht, die Kunst der Verführung und die Weigerung, erwachsen zu werden. Jugend in der Sowjetunion, flieht Anfang der 50er Jahre in den Westen und setzt sich aus Angst vor seinen Gläubigern kurz nach dem Mauerbau in die DDR ab. Er ist ein begnadeter Verkäufer und phantasievoller Liebhaber, anpassungsfähig und aufmerksam, in der Liebe nicht weniger als im Leben. Hinreißende Frauen kreuzen den Weg dieses Helden, der am Ende seiner Suche nach dem Glück lernen muss, dass es irgendwann keinen neuen Anfang mehr gibt. Mit Michael Kumpfmüller meldet sich ein neuer Erzähler zu Wort, der mit dem Lebens- und Liebeskünstler Heinrich Hampel einen Helden geschaffen hat, den wir nicht mehr vergessen werden. Sein Roman vom Verführer und Verführten in den Betten zwischen Ost und West ist die Erzählung eines Lebens, das den Stempel der deutschen Geschichte trägt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2000Die fünf Sinne
Polnische und deutschsprachige Romane in diesem Herbst
Die Schriftsteller, vor allem polnische und deutsche, ziehen in diesem Bücherherbst in die Provinz. Sie verlassen die Hauptstadt der großen Worte und der großen Gesten. Der Himmel ist überall blau. Das sagte Goethe. Er kannte die Reiseangebote von Neckermann nicht. In Martinique hätte Goethe nur geschwitzt und den "Faust" in den Strand gesetzt. Der Deutschen berühmtester Klassiker favorisierte die Provinz. Denn hier liegt das Land Ur, sind das Urgestein und die Urpflanze daheim. Man muß nicht in der weiten Welt umherschweifen, wenn man im Kleinen die Metamorphose des Ganzen erkennen kann.
Die Literatur findet in diesem Herbst den Ursinn, Vater der fünf Sinne und Mutter aller Gefühle. Sie nimmt ernst, was die ästhetischen Theorien suchen: die Wahrnehmungen. In den fünf Sinnen und in der Sinnlichkeit findet sie den "Sinn" einer Welt, der von den Allüren der Hauptstadt vertrieben wurde. In der Provinz liegt der Schriftsteller ureigenstes Terrain: in den wahrhaft wilden Wiesen des Herzens, nicht im World Wide Web der Verstandesselbstverständlichkeiten.
Es gibt einen Schriftsteller, der das frische Gras der Provinzen gerochen hat: Alexander Kluge. Über zweitausend Seiten lang ist seine "Chronik der Gefühle". Er hat sich mit seinem berühmten Spaten und Feldstecher aufgemacht, die Landkarte der Empfindungen zu vermessen. Aberhunderte von Geschichten stecken wie Fähnchen an den neuralgischen Stellen, dort, wo die Angst, das Vertrauen, der Neid, der Mißmut und die Zuneigung in ihren tausend Gestalten sitzen. Die Gefühle sind die Partisanen, die Begriffe die reguläre Armee. Die einen stehen in den Kasernen, die anderen schwärmen und sind schwer zu fassen, sie haben keine voraussehbare Strategie und lassen sich auf keine Kompromisse ein. Wo sie auftauchen, ist der Mensch nahe dabei, den Ausnahmezustand für sich auszurufen: Man weiß nicht, wie einem geschieht.
Das Gefühl ist ein Partisan
Aus "Geschichte und Eigensinn" - so hieß ein Buch, das Alexander Kluge zusammen mit dem Soziologen Oskar Negt in den politisch erhitzten siebziger Jahren veröffentlichte - wurde eine Geschichte des Eigensinns. Die von Kluge gesammelten Anekdoten ergeben keine große Literatur. Der Herzenskartograph scheut die poetische Gegenwart des Erzählens und verläßt sich auf die Konstellation der Dokumente, die er sortiert. Die "Chronik der Gefühle" ist nicht mit dem Herzblut eines Dichters geschrieben, auch wenn sie von blutenden Herzen berichtet. Das ist das Los aller Schriftsteller, die nicht selbst das Gras sind, das sie wachsen hören. Manchmal kann man zu klug für eine Welt sein, wenn man Hunderte von Welten im Blick hat.
Gefühle ohne Wahrnehmungen gibt es nicht. Deswegen ist es egal, wo eine Geschichte spielt. Sie ist nicht groß, sie ist nicht bedeutend, nur weil die Helden durch die Hauptstadt rennen. Der Raum einer Erzählung wird durch die fünf Sinne abgesteckt. Hören und Sehen müssen einem nicht vergehen, sondern aufgehen, wenn man an den Ort der Poesie kommt.
"Teufelsbrück" hieß - und heißt für den, der nicht lesen will - eine Anlegestelle an der Elbe. Bis Brigitte Kronauer kam und in dieser nördlichen Provinz der großen Literatur ein Zelt aufschlug. Ihr neuer Roman, der den am Fluß gelegenen Flecken im Titel trägt, gibt den Sinnen zurück, was sie an die Begriffe verloren haben: erkennende Verführung und verführende Erkenntnis. Teufelsbrück ist der romantischste Ort der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur. Hier setzte Brigitte Kronauer die Pflanze Ursinn - der Weltsinn aus den fünf Sinnen - in den Boden einer Geschichte, die Blüten nach allen Seiten trieb, Herzensgewächse, die Erkennen und Empfinden miteinander verbinden. Das ist nicht neu bei Brigitte Kronauer, nicht neu in der großen Literatur. Doch in diesem Herbst ist dieser Roman der erotischste, verspielteste Wegweiser in die wundersame Provinz des poetischen Sinns und der Gefühle.
Rund eintausend Kilometer weiter östlich liegt das Städtchen Dukla in den Karpaten. Hier beginnt die poetische Heimat des polnischen Schriftstellers Andrzej Stasiuk. Ihm sei, erzählt er in seinem Roman "Die Welt hinter Dukla", in den Überresten einer städtischen Toilette eine Erleuchtung zuteil geworden. Das Licht, das auf den Dreck fiel, veränderte seinen Blick auf die Dinge. "Ich hatte eine Gänsehaut. In diesem vergessenen und erodierenden Scheißhaus sah ich die Materie im letzten Stadium des Verfalls, in letzter Verlassenheit. Minuten und Jahre waren in die Dinge eingedrungen und zersetzten sie von innen. Das gleiche wie immer und überall. Sechsunddreißig Jahre hatte ich gebraucht, um hierherzufinden."
Seitdem weiß Stasiuk, daß es eine Welt hinter Dukla gibt: eine Gegend, der Dinge ihre dunkle Seite, ihr Geheimnis, zuwenden, das nur entdecken wird, wer die Dinge zu sehen, aus dem gewohnten Blickwinkel herauszudrehen gelernt hat. In seinem Roman erzählt Stasiuk vom Sehen unter einem sich verändernden Himmel, vom Versuch, der Welt, und zwar in der Provinz, durch die Sinne beizukommen. "Eigentlich tue ich nichts", sagt er, "als die eigene Physiologie zu beschreiben. Die Veränderungen des elektrischen Feldes auf der Netzhaut, Temperaturschwankungen, die unterschiedliche Konzentration von Geruchspartikeln in der Luft, das Oszillieren der Schallfrequenzen. Daraus setzt sich die Welt zusammen. Alles Übrige ist formalisierter Wahnsinn oder die Geschichte der Menschheit."
Dukla heißt nicht nur ein Dorf, sondern seit Stasiuk auch eine Lichtung, die aus den Wahrnehmungen entsteht. Die Dinge werden erlöst, verdrängen aus dem Gesichtskreis des Schriftstellers die Geschichte, die in der Hauptstadt gemacht wird. Auch in den Karpaten führen, als gingen die Philosophen Husserl und Heidegger spazieren, Feldwege in die Poesie.
Vertrauen in die Dinge bewegt auch den polnischen Schriftsteller Stefan Chwin. Sein Roman "Die Gouvernante", der um 1900 spielt und die ganze Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts umfaßt, weckt in einer Villa in der Hauptstadt, die auch die Hauptstadt der Politik ist, die Erinnerungen der fünf Sinne zum Leben. So schnurrt das turbulente Warschau zu einer Provinz der Empfindungen zusammen, die sich an den Dingen entzünden. Wie Ungetüme platzen in dieses heilsame Ambiente die Menschen hinein, denen der Sinn für die Erscheinungsfülle verlorengegangen ist. Sie sind blind für eine Einheit geworden, die einmal die Seele mit den Formen einging. Aber die Welt, die von den fünf Sinnen aufgeschlossen wird, bewahrt auch in diesem Roman einen Ursinn in sich, der einem die Augen für "die Vögel und Lilien auf dem Felde" öffnet: Ein Glaube erwacht in der Natur. Das Gesetz der Provinz, in der die Seele des Menschen ein Zuhause hat, ist die Metamorphose der Dinge, nicht die Züchtung durch den Willen. Die Provinz der Sinne ist der Ort, wo der Mensch sich vor den Eroberungszügen des Verstandes, die in hellem Wahn oder in dumpfer Wissenschaft enden, retten kann.
So viele Gedanken macht man sich in der Wetterau nicht. Der Autor Andreas Meier spielt im Titel seines Debütromans schon den Heimvorteil der Provinz aus: Zum "Wäldchestag" findet man sich ausschließlich in Hessen zusammen. Auf dem Land halten nicht nur die Nahrungsmittel, was sie versprechen. Die Empfindungen sind noch nicht durch den Kakao der Medien und Metropolen gezogen worden. Ein Fremder ist nur ein Fremder, weil er nicht aus demselben Dorf ist, und wenn ein Junge neben einem Mädchen auf der Bank sitzt, dann sitzt die Unbeholfenheit zwischen ihnen. Träume erfüllen sich in der Garage beim Motorfrisieren, das Kinderzimmer daheim bei den Eltern ist der Kokon, aus dem die Abenteuer gesponnen werden. Die fünf Sinne kommen auf ihre Kosten, weil das Plastik der Großstadt nur ausgepackt wird, wenn es in Strömen regnet. Auch am Wäldchestag ist die Welt nicht rund, aber sie bewegt sich in einem Tempo, das man selbst halten kann. Stumpf wird, wer den Absprung in seinen kleinen Traum nicht schafft. Das Dorf ist, Meiers mäandrierender Stil wird dem gerecht, eine Endlosschleife. Man steckt sich eine Kippe an, weil man sich auf Zigarettenlänge aus diesen Kurven tragen lassen möchte.
In der Steiermark sieht das anders aus. Elfriede Jelinek kann einen das Fürchten vor der Provinz lehren. "Gier" lautet der Titel ihres neuen Romans, der den Regionalismus nur in zwei Formen kennt: als vom Menschen malträtierte Natur und als vom Trieb deformiertes Gefühl. Nichts Echtes regt sich weit und breit. Mann und Frau dämmern in der Provinz ihres Unterleibes dahin. Von den fünf Sinnen ist in diesem Land keiner mehr intakt. Sie sind verkümmert, wie alles drum herum verschandelt ist. Der Sinn, der kein Sinn mehr ist, sondern ein tierhafter Körperreflex, steht dem Mann nur noch nach einem. Die Frau hat ihre Sinne bis zur Besinnungslosigkeit degeneriert und verliert sich in der Bereitschaft, das Nachsehen zu haben. Wo die fünf Sinne fehlen, holzt die Axt des Stumpfsinns nieder, was auf Kopfhöhe wachsen möchte. Die Provinz, das ist Elfriede Jelineks Befund, ist überall, im Bett und auf den Bergen. Kein schöner Land als Österreichs Täler und Berge gibt die Aussicht darauf frei, daß das Dorf der Hauptstadt, wo die Gier der Körper sich als Lust an der Macht drapiert, die Diagnose stellen kann.
Helden tragen Scheuklappen
In diesem Bücherherbst findet man auch Romane, die die Hauptstadt in die Provinz verlegen, die große Politik auf das Maß eines Reihenhauses bringen: "Spione" von Marcel Beyer, "Paul Schatz im Uhrenkasten" von Jan Koneffke und "Hampels Fluchten" von Michael Kumpfmüller. Als man die Gesellschaft in die Begriffe zu zwingen versuchte - Alexander Kluge war damals Mitte Vierzig -, tauchte ein Wort auf, das man im Zusammenhang mit diesen drei Romanen verwenden kann: Die Provinz wird instrumentalisiert. Marcel Beyer. Jan Koneffke und Michael Kumpfmüller haben selbst weder den Zweiten Weltkrieg noch die DDR erlebt. Sie kennen, wie könnte das bei ihrer Generation anders sein, was geschah, nur aus den Archiven oder aus Erzählungen. Aus welchen Motiven heraus sie sich einer Vergangenheit zuwenden, die nur vermittelt die ihre ist, darüber kann man rätseln. Sie sehen die Fallgruben und versuchen, sich mit einem Kunstgriff aus der Affäre zu ziehen. Entweder sie erzählen, was damals geschah, aus der Perspektive von Kindern, wie Beyer und teilweise Koneffke, oder sie laden die große Politik nach Hause zum Kaffeetrinken ein. Bei allen drei Versuchen, die deutsche Vergangenheit in einer Geschichte zu fassen, hilft die Provinzialisierung des Blicks. Gerät die Politik in die Provinz, machen Helden, die an allen fünf Sinnen Scheuklappen tragen, Geschichte.
Die Provinz der fünf Sinne ist die auffälligste Erscheinung in diesem Bücherherbst. Wer auf die Literatur hofft, der darf seinen Blick ruhig über diese Provinz schweifen lassen. Nirgendwo anders ist der Schriftsteller besser an seinem Platz als hier. Diese Provinz, das zeigen die neuen deutschen und polnischen Romane, könnte versöhnen, was die Welt der Hauptstädte angerichtet hat. Die fünf Sinne sind die Partisanen eines Glücks, von dem nur die Schriftsteller zu erzählen vermögen.
EBERHARD RATHGEB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Polnische und deutschsprachige Romane in diesem Herbst
Die Schriftsteller, vor allem polnische und deutsche, ziehen in diesem Bücherherbst in die Provinz. Sie verlassen die Hauptstadt der großen Worte und der großen Gesten. Der Himmel ist überall blau. Das sagte Goethe. Er kannte die Reiseangebote von Neckermann nicht. In Martinique hätte Goethe nur geschwitzt und den "Faust" in den Strand gesetzt. Der Deutschen berühmtester Klassiker favorisierte die Provinz. Denn hier liegt das Land Ur, sind das Urgestein und die Urpflanze daheim. Man muß nicht in der weiten Welt umherschweifen, wenn man im Kleinen die Metamorphose des Ganzen erkennen kann.
Die Literatur findet in diesem Herbst den Ursinn, Vater der fünf Sinne und Mutter aller Gefühle. Sie nimmt ernst, was die ästhetischen Theorien suchen: die Wahrnehmungen. In den fünf Sinnen und in der Sinnlichkeit findet sie den "Sinn" einer Welt, der von den Allüren der Hauptstadt vertrieben wurde. In der Provinz liegt der Schriftsteller ureigenstes Terrain: in den wahrhaft wilden Wiesen des Herzens, nicht im World Wide Web der Verstandesselbstverständlichkeiten.
Es gibt einen Schriftsteller, der das frische Gras der Provinzen gerochen hat: Alexander Kluge. Über zweitausend Seiten lang ist seine "Chronik der Gefühle". Er hat sich mit seinem berühmten Spaten und Feldstecher aufgemacht, die Landkarte der Empfindungen zu vermessen. Aberhunderte von Geschichten stecken wie Fähnchen an den neuralgischen Stellen, dort, wo die Angst, das Vertrauen, der Neid, der Mißmut und die Zuneigung in ihren tausend Gestalten sitzen. Die Gefühle sind die Partisanen, die Begriffe die reguläre Armee. Die einen stehen in den Kasernen, die anderen schwärmen und sind schwer zu fassen, sie haben keine voraussehbare Strategie und lassen sich auf keine Kompromisse ein. Wo sie auftauchen, ist der Mensch nahe dabei, den Ausnahmezustand für sich auszurufen: Man weiß nicht, wie einem geschieht.
Das Gefühl ist ein Partisan
Aus "Geschichte und Eigensinn" - so hieß ein Buch, das Alexander Kluge zusammen mit dem Soziologen Oskar Negt in den politisch erhitzten siebziger Jahren veröffentlichte - wurde eine Geschichte des Eigensinns. Die von Kluge gesammelten Anekdoten ergeben keine große Literatur. Der Herzenskartograph scheut die poetische Gegenwart des Erzählens und verläßt sich auf die Konstellation der Dokumente, die er sortiert. Die "Chronik der Gefühle" ist nicht mit dem Herzblut eines Dichters geschrieben, auch wenn sie von blutenden Herzen berichtet. Das ist das Los aller Schriftsteller, die nicht selbst das Gras sind, das sie wachsen hören. Manchmal kann man zu klug für eine Welt sein, wenn man Hunderte von Welten im Blick hat.
Gefühle ohne Wahrnehmungen gibt es nicht. Deswegen ist es egal, wo eine Geschichte spielt. Sie ist nicht groß, sie ist nicht bedeutend, nur weil die Helden durch die Hauptstadt rennen. Der Raum einer Erzählung wird durch die fünf Sinne abgesteckt. Hören und Sehen müssen einem nicht vergehen, sondern aufgehen, wenn man an den Ort der Poesie kommt.
"Teufelsbrück" hieß - und heißt für den, der nicht lesen will - eine Anlegestelle an der Elbe. Bis Brigitte Kronauer kam und in dieser nördlichen Provinz der großen Literatur ein Zelt aufschlug. Ihr neuer Roman, der den am Fluß gelegenen Flecken im Titel trägt, gibt den Sinnen zurück, was sie an die Begriffe verloren haben: erkennende Verführung und verführende Erkenntnis. Teufelsbrück ist der romantischste Ort der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur. Hier setzte Brigitte Kronauer die Pflanze Ursinn - der Weltsinn aus den fünf Sinnen - in den Boden einer Geschichte, die Blüten nach allen Seiten trieb, Herzensgewächse, die Erkennen und Empfinden miteinander verbinden. Das ist nicht neu bei Brigitte Kronauer, nicht neu in der großen Literatur. Doch in diesem Herbst ist dieser Roman der erotischste, verspielteste Wegweiser in die wundersame Provinz des poetischen Sinns und der Gefühle.
Rund eintausend Kilometer weiter östlich liegt das Städtchen Dukla in den Karpaten. Hier beginnt die poetische Heimat des polnischen Schriftstellers Andrzej Stasiuk. Ihm sei, erzählt er in seinem Roman "Die Welt hinter Dukla", in den Überresten einer städtischen Toilette eine Erleuchtung zuteil geworden. Das Licht, das auf den Dreck fiel, veränderte seinen Blick auf die Dinge. "Ich hatte eine Gänsehaut. In diesem vergessenen und erodierenden Scheißhaus sah ich die Materie im letzten Stadium des Verfalls, in letzter Verlassenheit. Minuten und Jahre waren in die Dinge eingedrungen und zersetzten sie von innen. Das gleiche wie immer und überall. Sechsunddreißig Jahre hatte ich gebraucht, um hierherzufinden."
Seitdem weiß Stasiuk, daß es eine Welt hinter Dukla gibt: eine Gegend, der Dinge ihre dunkle Seite, ihr Geheimnis, zuwenden, das nur entdecken wird, wer die Dinge zu sehen, aus dem gewohnten Blickwinkel herauszudrehen gelernt hat. In seinem Roman erzählt Stasiuk vom Sehen unter einem sich verändernden Himmel, vom Versuch, der Welt, und zwar in der Provinz, durch die Sinne beizukommen. "Eigentlich tue ich nichts", sagt er, "als die eigene Physiologie zu beschreiben. Die Veränderungen des elektrischen Feldes auf der Netzhaut, Temperaturschwankungen, die unterschiedliche Konzentration von Geruchspartikeln in der Luft, das Oszillieren der Schallfrequenzen. Daraus setzt sich die Welt zusammen. Alles Übrige ist formalisierter Wahnsinn oder die Geschichte der Menschheit."
Dukla heißt nicht nur ein Dorf, sondern seit Stasiuk auch eine Lichtung, die aus den Wahrnehmungen entsteht. Die Dinge werden erlöst, verdrängen aus dem Gesichtskreis des Schriftstellers die Geschichte, die in der Hauptstadt gemacht wird. Auch in den Karpaten führen, als gingen die Philosophen Husserl und Heidegger spazieren, Feldwege in die Poesie.
Vertrauen in die Dinge bewegt auch den polnischen Schriftsteller Stefan Chwin. Sein Roman "Die Gouvernante", der um 1900 spielt und die ganze Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts umfaßt, weckt in einer Villa in der Hauptstadt, die auch die Hauptstadt der Politik ist, die Erinnerungen der fünf Sinne zum Leben. So schnurrt das turbulente Warschau zu einer Provinz der Empfindungen zusammen, die sich an den Dingen entzünden. Wie Ungetüme platzen in dieses heilsame Ambiente die Menschen hinein, denen der Sinn für die Erscheinungsfülle verlorengegangen ist. Sie sind blind für eine Einheit geworden, die einmal die Seele mit den Formen einging. Aber die Welt, die von den fünf Sinnen aufgeschlossen wird, bewahrt auch in diesem Roman einen Ursinn in sich, der einem die Augen für "die Vögel und Lilien auf dem Felde" öffnet: Ein Glaube erwacht in der Natur. Das Gesetz der Provinz, in der die Seele des Menschen ein Zuhause hat, ist die Metamorphose der Dinge, nicht die Züchtung durch den Willen. Die Provinz der Sinne ist der Ort, wo der Mensch sich vor den Eroberungszügen des Verstandes, die in hellem Wahn oder in dumpfer Wissenschaft enden, retten kann.
So viele Gedanken macht man sich in der Wetterau nicht. Der Autor Andreas Meier spielt im Titel seines Debütromans schon den Heimvorteil der Provinz aus: Zum "Wäldchestag" findet man sich ausschließlich in Hessen zusammen. Auf dem Land halten nicht nur die Nahrungsmittel, was sie versprechen. Die Empfindungen sind noch nicht durch den Kakao der Medien und Metropolen gezogen worden. Ein Fremder ist nur ein Fremder, weil er nicht aus demselben Dorf ist, und wenn ein Junge neben einem Mädchen auf der Bank sitzt, dann sitzt die Unbeholfenheit zwischen ihnen. Träume erfüllen sich in der Garage beim Motorfrisieren, das Kinderzimmer daheim bei den Eltern ist der Kokon, aus dem die Abenteuer gesponnen werden. Die fünf Sinne kommen auf ihre Kosten, weil das Plastik der Großstadt nur ausgepackt wird, wenn es in Strömen regnet. Auch am Wäldchestag ist die Welt nicht rund, aber sie bewegt sich in einem Tempo, das man selbst halten kann. Stumpf wird, wer den Absprung in seinen kleinen Traum nicht schafft. Das Dorf ist, Meiers mäandrierender Stil wird dem gerecht, eine Endlosschleife. Man steckt sich eine Kippe an, weil man sich auf Zigarettenlänge aus diesen Kurven tragen lassen möchte.
In der Steiermark sieht das anders aus. Elfriede Jelinek kann einen das Fürchten vor der Provinz lehren. "Gier" lautet der Titel ihres neuen Romans, der den Regionalismus nur in zwei Formen kennt: als vom Menschen malträtierte Natur und als vom Trieb deformiertes Gefühl. Nichts Echtes regt sich weit und breit. Mann und Frau dämmern in der Provinz ihres Unterleibes dahin. Von den fünf Sinnen ist in diesem Land keiner mehr intakt. Sie sind verkümmert, wie alles drum herum verschandelt ist. Der Sinn, der kein Sinn mehr ist, sondern ein tierhafter Körperreflex, steht dem Mann nur noch nach einem. Die Frau hat ihre Sinne bis zur Besinnungslosigkeit degeneriert und verliert sich in der Bereitschaft, das Nachsehen zu haben. Wo die fünf Sinne fehlen, holzt die Axt des Stumpfsinns nieder, was auf Kopfhöhe wachsen möchte. Die Provinz, das ist Elfriede Jelineks Befund, ist überall, im Bett und auf den Bergen. Kein schöner Land als Österreichs Täler und Berge gibt die Aussicht darauf frei, daß das Dorf der Hauptstadt, wo die Gier der Körper sich als Lust an der Macht drapiert, die Diagnose stellen kann.
Helden tragen Scheuklappen
In diesem Bücherherbst findet man auch Romane, die die Hauptstadt in die Provinz verlegen, die große Politik auf das Maß eines Reihenhauses bringen: "Spione" von Marcel Beyer, "Paul Schatz im Uhrenkasten" von Jan Koneffke und "Hampels Fluchten" von Michael Kumpfmüller. Als man die Gesellschaft in die Begriffe zu zwingen versuchte - Alexander Kluge war damals Mitte Vierzig -, tauchte ein Wort auf, das man im Zusammenhang mit diesen drei Romanen verwenden kann: Die Provinz wird instrumentalisiert. Marcel Beyer. Jan Koneffke und Michael Kumpfmüller haben selbst weder den Zweiten Weltkrieg noch die DDR erlebt. Sie kennen, wie könnte das bei ihrer Generation anders sein, was geschah, nur aus den Archiven oder aus Erzählungen. Aus welchen Motiven heraus sie sich einer Vergangenheit zuwenden, die nur vermittelt die ihre ist, darüber kann man rätseln. Sie sehen die Fallgruben und versuchen, sich mit einem Kunstgriff aus der Affäre zu ziehen. Entweder sie erzählen, was damals geschah, aus der Perspektive von Kindern, wie Beyer und teilweise Koneffke, oder sie laden die große Politik nach Hause zum Kaffeetrinken ein. Bei allen drei Versuchen, die deutsche Vergangenheit in einer Geschichte zu fassen, hilft die Provinzialisierung des Blicks. Gerät die Politik in die Provinz, machen Helden, die an allen fünf Sinnen Scheuklappen tragen, Geschichte.
Die Provinz der fünf Sinne ist die auffälligste Erscheinung in diesem Bücherherbst. Wer auf die Literatur hofft, der darf seinen Blick ruhig über diese Provinz schweifen lassen. Nirgendwo anders ist der Schriftsteller besser an seinem Platz als hier. Diese Provinz, das zeigen die neuen deutschen und polnischen Romane, könnte versöhnen, was die Welt der Hauptstädte angerichtet hat. Die fünf Sinne sind die Partisanen eines Glücks, von dem nur die Schriftsteller zu erzählen vermögen.
EBERHARD RATHGEB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Anlässlich der Erscheinung des in der FAZ bereits vorabgedruckten Romans von Michael Kumpfmüller tut die Zeitung etwas, das sie, worauf ausdrücklich hingewiesen wird, nur in Fällen vom Kaliber Heiner Müller, Böll oder Handke tut: sie bringt eine Doppelrezension. Berliner-Seiten-Chef Florian Illies äußert sich pro, Eberhard Rathgeb kontra.
1) Pro:
Die Generation Golf ü
1) Pro:
Die Generation Golf ü
"Eines der schönsten, komischsten, traurigsten deutschen Bücher seit langem." Wolfgang Höbel Der Spiegel
"An einem Dienstag im März ging Heinrich bei Herleshausen-Wartha über die Grenze." Der erste Satz des Debütromans von Michael Kumpfmüller verrät alles und doch nichts: Denn entgegen dem allgemeinen Trend flieht Romanheld Heinrich Hampel vom Westen in den Osten. Es ist in erster Linie eine Flucht vor Gläubigern, denn der Bettenverkäufer scheiterte im Westen an den strengen Gesetzen des Kapitalismus - und an seiner kostspieligen Leidenschaft für Frauen. Für die hat Hampel nicht nur eine Schwäche, sondern auch ein besonderes Händchen. Die Frauen lieben diesen stets zu ihren Diensten bereiten, unkomplizierten Charmeur. Er fordert nichts, will sie nur glücklich machen und meist gelingt ihm dies auch. Doch das DDR-Kontrollsystem lässt ihn nicht zur Ruhe kommen, und so kann diese erste Flucht nicht die letzte gewesen sein...
Brillanter Schelmenroman über einen Verführer und Verführten. (www.parship.de)
Brillanter Schelmenroman über einen Verführer und Verführten. (www.parship.de)