Wovon spricht die Dichtung zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Noch immer oder nun erst von der Wildnis der Gesellschaft.
Am Kilometer Null der Empörung, auf der Puerta del Sol in Madrid, sah Volker Braun die Handbibliothek, die seinem neuen Buch den Titel gibt. In ihm stehen die Gedichte wie in improvisierten Regalen, einzelne kleine Schriften, leicht herauszugreifen und zu benutzen. Und von Wanderwesen & Fabelarbeitern ist darin die Rede, den Nackten und den Vermummten, der ungesättigten Menge (ein Riß geht hindurch bis zum Bodensatz), der unbehausten Menschheit. Der Dichter sieht sich auf der warmen Erde, worin die Sohlen wohnen, eine Zuflucht der Sinne suchend und Lust, nicht Hoffnung ziehnd aus dem Rohstoff.
Die vier Sammlungen entstanden in zehn Jahren neben den Prosa- und Theatertexten. »Gedichte sind der Kern der Arbeit, das beiläufige Eigentliche.«
Am Kilometer Null der Empörung, auf der Puerta del Sol in Madrid, sah Volker Braun die Handbibliothek, die seinem neuen Buch den Titel gibt. In ihm stehen die Gedichte wie in improvisierten Regalen, einzelne kleine Schriften, leicht herauszugreifen und zu benutzen. Und von Wanderwesen & Fabelarbeitern ist darin die Rede, den Nackten und den Vermummten, der ungesättigten Menge (ein Riß geht hindurch bis zum Bodensatz), der unbehausten Menschheit. Der Dichter sieht sich auf der warmen Erde, worin die Sohlen wohnen, eine Zuflucht der Sinne suchend und Lust, nicht Hoffnung ziehnd aus dem Rohstoff.
Die vier Sammlungen entstanden in zehn Jahren neben den Prosa- und Theatertexten. »Gedichte sind der Kern der Arbeit, das beiläufige Eigentliche.«
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.11.2016Widerstand im Warenhaus
Neue Gedichte von Volker Braun, der sich in „Handbibliothek der Unbehausten“ wieder als
Meister aller möglichen Formen erweist, mit der Hilfe von Goethe, Brecht und Dante
VON GUSTAV SEIBT
Ja, mein Sehnen geht ins Ferne / Wo ich heitre Dinge treibe. / Doch bestimmen mich die Sterne / Daß ich fest am Boden bleibe.“ Wer summt sich so etwas vor? Es klingt nach Goethes „Freisinn“ aus dem „West-östlichen Divan“: „Und ich reite froh in alle Ferne / Über meiner Mütze nur die Sterne.“ Doch 2016 geht es anders weiter: „Und so gern ich mich erhebe / Zieht mich eine Last nach unten / Eingenäht in mein Gewebe / Hat sie ihren Ort gefunden.“ Bei Goethe hatte es noch geheißen: „Er hat euch die Gestirne gesetzt / Als Leiter zu Land und See; / Damit ihr euch daran ergetzt, / Stets blickend in die Höh.“
Der neue Dichter heißt Volker Braun, und sein jüngster Band zeigt, dass er nicht nur Goethe kann, sondern auch Brecht: „Viertausend Jahre die Sandale binden / So wird ein Schuh daraus. Fünftausend Jahre / Sitzen, und nun wissen was ein Stuhl ist. / Zehntausend Jahre Umgang mit den Göttern:/ Ungläubig! Wer will uns missionieren. / Aber ach abertausend in Gesellschaft / Und kein Jahr kann es so weitergehen.“ So lautet das Gedicht „Erfahrung (Rede Lao Mas)“, und wie man sieht, enthält es eine Menschheitsgeschichte in sieben Zeilen, die in offener Unruhe enden.
Wer innerhalb von wenigen Seiten das Register so wechseln kann, der kann noch mehr, der kann eigentlich alles. Sonette in englischer und italienischer Form, elegische Distichen, Blankverse, Vers libre, Spruchdichtung in Paarreimen, Prosagedichte – alles hat Platz auf nur hundert Seiten, und wirklich alles ist staunenswert gelungen, weil leicht, unangestrengt, wie es vielleicht nur die meisterliche Lässigkeit des Alters erlaubt. Volker Braun geht auf die achtzig zu, man tritt ihm also nicht zu nahe, wenn man an die vielen großen Lyriker erinnert, die in einem Spätwerk noch einmal zu neuer, großer Form aufliefen.
Wer es nicht glaubt, soll gleich weiterlauschen, diesmal einem Distichon, im Wechsel von Hexameter und Pentameter, völlig regelrecht: „Abgemagert mein Leib, er weiß mir den Grund nicht zu sagen / Hart ragt das Sternum heraus, unten am Brustbein der Rist. // Wie sich ein weicher Busen daran befestigen könnte / Der mein Blut beschleunt; fest wie auf ewig vertäut. // Und die Seele, auch sie, fühlt sich wie vom Fleisch gefallen / Zwangsernährt von dem Schrott. Bring ich sie durch und womit.“
Der Titel heißt ganz heutig und bedrohlich „Befunde“, und damit wird angezeigt, dass es nicht um eine Stilkopie geht (oder um die Stilkopie einer Stilkopie, denn das Genre der Elegie kam in der deutschen Klassik ja direkt aus dem antiken Rom). Aufgegriffen wird eine Haltung. In strenger Fassung wird ein Lebensmoment bilanziert, schmerzlich. Einem sprachlichen Goetheanismus („beschleunt“), dem Vers geschuldet, antwortet sogleich ein vollkommen zeitgenössisches Vokabular: „Zwangsernährt von dem Schrott“, in einem ganz regelrecht rhythmisierten halben Pentameter. „Römisch“ ist daran vor allem die existenzielle Nüchternheit. Die Elegie kann auch singen oder ländlich flöten, dann wird das Versmaß unter einem Legato fast unhörbar: „Glutender Sommer. Die Äste brechen von Äpfeln / In jedem Kriebsch sitzt der Wurm und wird vom Wege gekickt.“
Dass Volker Braun ein Meister der Formen ist, der die Dichtungssprachen der deutschen Klassik und der europäischen Moderne mühelos aufgreifen kann, war bekannt. Diese Fähigkeit ist nicht einfach eine Begabung, sie ist auch mehr als historistisch-postmodernes Virtuosentum. Zwar darf man heute durchaus daran erinnern, dass Volker Braun und Robert Gernhardt fast gleichaltrig waren. Doch was bei Gernhardt ein spielerischer Umgang mit den Möglichkeiten im Garten der Vergangenheit ist, das blieb bei Braun Erprobung von Geschichtsphilosophie. Gernhardt macht poetische Zeitkritik, Braun ist Dialektiker, und Welten trennen ihn vom lustig-operettenhaften Aristokratismus des Goethe-Mimen Peter Hacks. Seine Gedichte sind Antworten oder Rückfragen. An den Protesten um den Istanbuler Gezi-Park erkennt er das revolutionäre Potenzial des „Gesprächs über Bäume“, das Brecht noch mit heroischer Geste untersagen wollte, weil es ein Schweigen über so viel Untaten einschließt – so hat sich die Welt verändert.
Wenn Braun den Limbus der Göttlichen Komödie Dantes aufruft, den Ort, wo die edlen Geister des heidnischen Altertums verweilen, denen das Heil versagt ist, mit „Gram ohne Qualen“, dann wird daraus ein Trauergesang auf verstorbene Lehrer und Freunde, die vergebens an die Erlösung durch die kommunistische Utopie glaubten. Wie bitter-dantehaft ist die Pointe, dass der noch lebende Wolf Biermann hier unter Gestorbenen auftaucht, aber mit dem in Klammern gesetzten Zusatz „(als er noch jung gewesen)“ – er war also einst ein anderer, zu jener Zeit, als Volker Braun den Protest gegen seine Ausbürgerung unterzeichnete. Fast wie eine Selbstkritik könnte man da ein Sonett lesen, in dem Braun die unvergängliche Schönheit von Dantes Versen als die schärfste denkbare Rache vorstellt: „Nie war die Rache so süß wie im Lied / Des süße Verse ewig dauern. / Wir lesens noch und wieder mit Erschauern.“ Doch eigentlich geht es um Trauer: Die „Handbibliothek der Unbehausten“ erinnert an die Büchersammlung eines Freundes, die nach dessen Tod zerschlagen und verkauft werden muss.
Der historische Formenreichtum dieser Lyrik ist also dialogisch, angelegt aufs Wiederhören und Wiedererkennen, oft melancholisch, ebenso oft witzig, ohne Spur von Bitterkeit. Je länger das Ende der DDR zurückliegt, das ihren Linksabweichler zunächst ins Bodenlose zu stürzen schien, desto fruchtbarer werden für Braun nun die Freiheitsgewinne. Der gelassen Alternde wurde zum Dichter der Weltgesellschaft, dessen Horizont bis nach China und über alle Kontinente reicht. „Ihr wart das Volk. Jetzt soll ich Volker heißen / Und meinen Witz von unsrer Schwachheit nähren / Und Widerstand im Warenhaus bewähren.“ Gesellschaft ist eine Etüde in G, unbedingt im raschesten Metronom zu spielen: „Was für ein immenses Gemisch / Aus lauter kommunen Ge wie Gedränge Geduld / Mit dieser geselligen Mitte, die etwas schafft / Anschafft und wegwirft. Welches Geschäft // Die Geschichte …“ Und so ist hier auch ein vollkommen unübersetzbares Gedicht gelungen.
Einige der rührendsten Verse dieser nicht nur gedankenreichen, sondern auch sinnlich reichen Sammlung sind autobiografisch-familiär. Acht Enkel schaffen es kaum, einen vielhundertjährigen Eichbaum zu umfassen: „Daß / Etwas Lebendes es so weit bringt! / Acht Sprößlinge, sich an den Händen nehmend / Vermochten grade so, ihn zu umfassen / Und nicht der Kleinste hätte fehlen dürfen.“ Dazwischen summt ein Goethescher „Dämon“ weiter, der nur von sich selbst weiß, vor aller Geschichte: „Mich beherrscht ein eignes Wesen / Heiter macht es mich und trüber / Davon kann ich nicht genesen / Von kleinauf war es mir über.“
„Abgemagert mein Leib,
er weiß mir den Grund nicht
zu sagen …“
„Ihr wart das Volk.
Jetzt soll ich
Volker heißen.“
Volker Braun:
Handbibliothek der
Unbehausten. Neue
Gedichte. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2016.
109 Seiten, 20 Euro.
E-Book 16,99 Euro.
Seine Gedichte schreibt er, um Geschichtsphilosophie zu erproben, als poetische Zeitkritik: Volker Braun.
Foto: Anita Schiffer-Fuchs/SZ Photo/laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Neue Gedichte von Volker Braun, der sich in „Handbibliothek der Unbehausten“ wieder als
Meister aller möglichen Formen erweist, mit der Hilfe von Goethe, Brecht und Dante
VON GUSTAV SEIBT
Ja, mein Sehnen geht ins Ferne / Wo ich heitre Dinge treibe. / Doch bestimmen mich die Sterne / Daß ich fest am Boden bleibe.“ Wer summt sich so etwas vor? Es klingt nach Goethes „Freisinn“ aus dem „West-östlichen Divan“: „Und ich reite froh in alle Ferne / Über meiner Mütze nur die Sterne.“ Doch 2016 geht es anders weiter: „Und so gern ich mich erhebe / Zieht mich eine Last nach unten / Eingenäht in mein Gewebe / Hat sie ihren Ort gefunden.“ Bei Goethe hatte es noch geheißen: „Er hat euch die Gestirne gesetzt / Als Leiter zu Land und See; / Damit ihr euch daran ergetzt, / Stets blickend in die Höh.“
Der neue Dichter heißt Volker Braun, und sein jüngster Band zeigt, dass er nicht nur Goethe kann, sondern auch Brecht: „Viertausend Jahre die Sandale binden / So wird ein Schuh daraus. Fünftausend Jahre / Sitzen, und nun wissen was ein Stuhl ist. / Zehntausend Jahre Umgang mit den Göttern:/ Ungläubig! Wer will uns missionieren. / Aber ach abertausend in Gesellschaft / Und kein Jahr kann es so weitergehen.“ So lautet das Gedicht „Erfahrung (Rede Lao Mas)“, und wie man sieht, enthält es eine Menschheitsgeschichte in sieben Zeilen, die in offener Unruhe enden.
Wer innerhalb von wenigen Seiten das Register so wechseln kann, der kann noch mehr, der kann eigentlich alles. Sonette in englischer und italienischer Form, elegische Distichen, Blankverse, Vers libre, Spruchdichtung in Paarreimen, Prosagedichte – alles hat Platz auf nur hundert Seiten, und wirklich alles ist staunenswert gelungen, weil leicht, unangestrengt, wie es vielleicht nur die meisterliche Lässigkeit des Alters erlaubt. Volker Braun geht auf die achtzig zu, man tritt ihm also nicht zu nahe, wenn man an die vielen großen Lyriker erinnert, die in einem Spätwerk noch einmal zu neuer, großer Form aufliefen.
Wer es nicht glaubt, soll gleich weiterlauschen, diesmal einem Distichon, im Wechsel von Hexameter und Pentameter, völlig regelrecht: „Abgemagert mein Leib, er weiß mir den Grund nicht zu sagen / Hart ragt das Sternum heraus, unten am Brustbein der Rist. // Wie sich ein weicher Busen daran befestigen könnte / Der mein Blut beschleunt; fest wie auf ewig vertäut. // Und die Seele, auch sie, fühlt sich wie vom Fleisch gefallen / Zwangsernährt von dem Schrott. Bring ich sie durch und womit.“
Der Titel heißt ganz heutig und bedrohlich „Befunde“, und damit wird angezeigt, dass es nicht um eine Stilkopie geht (oder um die Stilkopie einer Stilkopie, denn das Genre der Elegie kam in der deutschen Klassik ja direkt aus dem antiken Rom). Aufgegriffen wird eine Haltung. In strenger Fassung wird ein Lebensmoment bilanziert, schmerzlich. Einem sprachlichen Goetheanismus („beschleunt“), dem Vers geschuldet, antwortet sogleich ein vollkommen zeitgenössisches Vokabular: „Zwangsernährt von dem Schrott“, in einem ganz regelrecht rhythmisierten halben Pentameter. „Römisch“ ist daran vor allem die existenzielle Nüchternheit. Die Elegie kann auch singen oder ländlich flöten, dann wird das Versmaß unter einem Legato fast unhörbar: „Glutender Sommer. Die Äste brechen von Äpfeln / In jedem Kriebsch sitzt der Wurm und wird vom Wege gekickt.“
Dass Volker Braun ein Meister der Formen ist, der die Dichtungssprachen der deutschen Klassik und der europäischen Moderne mühelos aufgreifen kann, war bekannt. Diese Fähigkeit ist nicht einfach eine Begabung, sie ist auch mehr als historistisch-postmodernes Virtuosentum. Zwar darf man heute durchaus daran erinnern, dass Volker Braun und Robert Gernhardt fast gleichaltrig waren. Doch was bei Gernhardt ein spielerischer Umgang mit den Möglichkeiten im Garten der Vergangenheit ist, das blieb bei Braun Erprobung von Geschichtsphilosophie. Gernhardt macht poetische Zeitkritik, Braun ist Dialektiker, und Welten trennen ihn vom lustig-operettenhaften Aristokratismus des Goethe-Mimen Peter Hacks. Seine Gedichte sind Antworten oder Rückfragen. An den Protesten um den Istanbuler Gezi-Park erkennt er das revolutionäre Potenzial des „Gesprächs über Bäume“, das Brecht noch mit heroischer Geste untersagen wollte, weil es ein Schweigen über so viel Untaten einschließt – so hat sich die Welt verändert.
Wenn Braun den Limbus der Göttlichen Komödie Dantes aufruft, den Ort, wo die edlen Geister des heidnischen Altertums verweilen, denen das Heil versagt ist, mit „Gram ohne Qualen“, dann wird daraus ein Trauergesang auf verstorbene Lehrer und Freunde, die vergebens an die Erlösung durch die kommunistische Utopie glaubten. Wie bitter-dantehaft ist die Pointe, dass der noch lebende Wolf Biermann hier unter Gestorbenen auftaucht, aber mit dem in Klammern gesetzten Zusatz „(als er noch jung gewesen)“ – er war also einst ein anderer, zu jener Zeit, als Volker Braun den Protest gegen seine Ausbürgerung unterzeichnete. Fast wie eine Selbstkritik könnte man da ein Sonett lesen, in dem Braun die unvergängliche Schönheit von Dantes Versen als die schärfste denkbare Rache vorstellt: „Nie war die Rache so süß wie im Lied / Des süße Verse ewig dauern. / Wir lesens noch und wieder mit Erschauern.“ Doch eigentlich geht es um Trauer: Die „Handbibliothek der Unbehausten“ erinnert an die Büchersammlung eines Freundes, die nach dessen Tod zerschlagen und verkauft werden muss.
Der historische Formenreichtum dieser Lyrik ist also dialogisch, angelegt aufs Wiederhören und Wiedererkennen, oft melancholisch, ebenso oft witzig, ohne Spur von Bitterkeit. Je länger das Ende der DDR zurückliegt, das ihren Linksabweichler zunächst ins Bodenlose zu stürzen schien, desto fruchtbarer werden für Braun nun die Freiheitsgewinne. Der gelassen Alternde wurde zum Dichter der Weltgesellschaft, dessen Horizont bis nach China und über alle Kontinente reicht. „Ihr wart das Volk. Jetzt soll ich Volker heißen / Und meinen Witz von unsrer Schwachheit nähren / Und Widerstand im Warenhaus bewähren.“ Gesellschaft ist eine Etüde in G, unbedingt im raschesten Metronom zu spielen: „Was für ein immenses Gemisch / Aus lauter kommunen Ge wie Gedränge Geduld / Mit dieser geselligen Mitte, die etwas schafft / Anschafft und wegwirft. Welches Geschäft // Die Geschichte …“ Und so ist hier auch ein vollkommen unübersetzbares Gedicht gelungen.
Einige der rührendsten Verse dieser nicht nur gedankenreichen, sondern auch sinnlich reichen Sammlung sind autobiografisch-familiär. Acht Enkel schaffen es kaum, einen vielhundertjährigen Eichbaum zu umfassen: „Daß / Etwas Lebendes es so weit bringt! / Acht Sprößlinge, sich an den Händen nehmend / Vermochten grade so, ihn zu umfassen / Und nicht der Kleinste hätte fehlen dürfen.“ Dazwischen summt ein Goethescher „Dämon“ weiter, der nur von sich selbst weiß, vor aller Geschichte: „Mich beherrscht ein eignes Wesen / Heiter macht es mich und trüber / Davon kann ich nicht genesen / Von kleinauf war es mir über.“
„Abgemagert mein Leib,
er weiß mir den Grund nicht
zu sagen …“
„Ihr wart das Volk.
Jetzt soll ich
Volker heißen.“
Volker Braun:
Handbibliothek der
Unbehausten. Neue
Gedichte. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2016.
109 Seiten, 20 Euro.
E-Book 16,99 Euro.
Seine Gedichte schreibt er, um Geschichtsphilosophie zu erproben, als poetische Zeitkritik: Volker Braun.
Foto: Anita Schiffer-Fuchs/SZ Photo/laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2017Der Unbehauste
Volker Braun bei den Frankfurter Lyriktagen
Er war der Nukleus der Frankfurter Lyriktage. Jedenfalls für Literaturreferentin Sonja Vandenrath. Um die neuen Gedichte von Volker Braun hat sie als Leiterin des Festivals die anderen Veranstaltungen herumgruppiert. Im intimen Seekatzsaal des Frankfurter Goethe-Hauses hat der letzte noch lebende DDR-Vorzeigedichter und Büchnerpreisträger des Jahres 2000 nun seinen jüngsten Lyrikband vorgestellt, der im vorigen Jahr unter dem Titel "Handbibliothek der Unbehausten" bei Suhrkamp erschienen ist. Lothar Müller, Literaturredakteur der "Süddeutschen Zeitung", gelang in seiner Moderation das Kunststück, das obsolete Staatskürzel zu umschiffen. Der mittlerweile 78 Jahre alte Autor aus Berlin hingegen machte aus seinem Herzen keine Mördergrube: Ein Freund der Nato ist er immer noch nicht.
Brauns Anthologie beginnt konventionell, mit Kreuzreimen und vierhebigen Trochäen. "Bestimmung" heißt sein Leitgedicht. Es hätte auch "Erdenkloß" heißen können. Denn hier beklagt der Dichter im Goethe-Sound seine Erdenschwere: "Ja, mein Sehnen geht ins Ferne, / wo ich heitre Dinge treibe. / Doch bestimmen mich die Sterne, / dass ich fest am Boden bleibe." Damit ist der Grundton seines Lebens angeschlagen: die Dissonanz zwischen der Sehnsucht nach der sozialistischen Utopie und dem schnöden Staatssozialismus. Von 1960 an war Braun Mitglied der SED, galt aber zugleich als staatskritisch. Er muss ein begnadeter Taktiker gewesen sein, um sein Werk zum Druck zu bringen, den neun Stasi-Offizieren und 32 Inoffiziellen Mitarbeitern zum Trotz, die auf ihn angesetzt waren.
Seiner Stasi-Akte von 4000 Seiten Umfang stehen nun seine Gedichte der vergangenen zehn Jahre auf rund hundert Seiten gegenüber. Er hat sie in vier Abteilungen nebst Anhang gegliedert. Aus den ersten beiden unter den Titeln "Dämon" und "Dotterleben" trug er Kostproben vor. Dabei fiel auf, dass er weit gereist ist. Ob er eine "Zickzackbrücke" in China betritt oder einer "Totenfeier" auf Santorin beiwohnt, wo erst der Tote und nach einigen Jahren auch seine Gebeine mit Weißwein gewaschen werden - Braun reimt munter "Söhne Maos" auf "Chaos" und "waschen" auf "naschen". Als Reisedichter will er aber nicht gelten. China führe vielmehr ins Zentrum des Buches. Schließlich habe Ulbricht einmal über ihn gesagt: "Er soll nach China gehen." Was er wohl damit gemeint hat? Braun weiß es bis heute nicht. Aber 1988 war er in Schanghai.
Braun kommt aus einer anderen Welt. Wer kennt hierzulande schon den Autor Fritz Rudolf Fries und seine IM-Tätigkeit für die Staatssicherheit? Aber Brauns Gedichte wimmeln auch von verstehbaren Anspielungen - nicht nur auf Goethe, den sich der Vaterlose offenbar zum metrischen Ersatzvater erkoren hat. Auch Brecht klingt an, die französischen Enzyklopädisten sind zu hören und Dante ist es ebenso. Ihm hat Braun gleich mehrere Gedichte gewidmet. Etwa über "Die Liebenden. Vor Dante". Dass es sich dabei um zwei 5000 Jahre alte Skelette handelt, die vor einem Jahrzehnt bei Mantua "in inniger Umarmung" von Archäologen gefunden wurden, erfährt man aus den Anmerkungen. "An jenem Abend lasen wir nicht weiter", heißt es im Gedicht. Man glaubt, Paolo und Francesca zu hören, aber es war nur eine Zeitungsmeldung gemeint.
CLAUDIA SCHÜLKE
Die Lyriktage enden am Samstag. Heute von 19.30 Uhr an sind Jürgen Becker und Marcel Beyer in der Evangelischen Stadtakademie, Römerberg 9, zu Gast. Im Frankfurter Literaturhaus, Schöne Aussicht 2, sind, ebenfalls von 19.30 Uhr an, der Schriftsteller Michael Fehr und der Gitarrist und Komponist Manuel Troller zu hören. Das weitere Programm findet sich unter der Adresse www.frankfurter-lyriktage.de.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Volker Braun bei den Frankfurter Lyriktagen
Er war der Nukleus der Frankfurter Lyriktage. Jedenfalls für Literaturreferentin Sonja Vandenrath. Um die neuen Gedichte von Volker Braun hat sie als Leiterin des Festivals die anderen Veranstaltungen herumgruppiert. Im intimen Seekatzsaal des Frankfurter Goethe-Hauses hat der letzte noch lebende DDR-Vorzeigedichter und Büchnerpreisträger des Jahres 2000 nun seinen jüngsten Lyrikband vorgestellt, der im vorigen Jahr unter dem Titel "Handbibliothek der Unbehausten" bei Suhrkamp erschienen ist. Lothar Müller, Literaturredakteur der "Süddeutschen Zeitung", gelang in seiner Moderation das Kunststück, das obsolete Staatskürzel zu umschiffen. Der mittlerweile 78 Jahre alte Autor aus Berlin hingegen machte aus seinem Herzen keine Mördergrube: Ein Freund der Nato ist er immer noch nicht.
Brauns Anthologie beginnt konventionell, mit Kreuzreimen und vierhebigen Trochäen. "Bestimmung" heißt sein Leitgedicht. Es hätte auch "Erdenkloß" heißen können. Denn hier beklagt der Dichter im Goethe-Sound seine Erdenschwere: "Ja, mein Sehnen geht ins Ferne, / wo ich heitre Dinge treibe. / Doch bestimmen mich die Sterne, / dass ich fest am Boden bleibe." Damit ist der Grundton seines Lebens angeschlagen: die Dissonanz zwischen der Sehnsucht nach der sozialistischen Utopie und dem schnöden Staatssozialismus. Von 1960 an war Braun Mitglied der SED, galt aber zugleich als staatskritisch. Er muss ein begnadeter Taktiker gewesen sein, um sein Werk zum Druck zu bringen, den neun Stasi-Offizieren und 32 Inoffiziellen Mitarbeitern zum Trotz, die auf ihn angesetzt waren.
Seiner Stasi-Akte von 4000 Seiten Umfang stehen nun seine Gedichte der vergangenen zehn Jahre auf rund hundert Seiten gegenüber. Er hat sie in vier Abteilungen nebst Anhang gegliedert. Aus den ersten beiden unter den Titeln "Dämon" und "Dotterleben" trug er Kostproben vor. Dabei fiel auf, dass er weit gereist ist. Ob er eine "Zickzackbrücke" in China betritt oder einer "Totenfeier" auf Santorin beiwohnt, wo erst der Tote und nach einigen Jahren auch seine Gebeine mit Weißwein gewaschen werden - Braun reimt munter "Söhne Maos" auf "Chaos" und "waschen" auf "naschen". Als Reisedichter will er aber nicht gelten. China führe vielmehr ins Zentrum des Buches. Schließlich habe Ulbricht einmal über ihn gesagt: "Er soll nach China gehen." Was er wohl damit gemeint hat? Braun weiß es bis heute nicht. Aber 1988 war er in Schanghai.
Braun kommt aus einer anderen Welt. Wer kennt hierzulande schon den Autor Fritz Rudolf Fries und seine IM-Tätigkeit für die Staatssicherheit? Aber Brauns Gedichte wimmeln auch von verstehbaren Anspielungen - nicht nur auf Goethe, den sich der Vaterlose offenbar zum metrischen Ersatzvater erkoren hat. Auch Brecht klingt an, die französischen Enzyklopädisten sind zu hören und Dante ist es ebenso. Ihm hat Braun gleich mehrere Gedichte gewidmet. Etwa über "Die Liebenden. Vor Dante". Dass es sich dabei um zwei 5000 Jahre alte Skelette handelt, die vor einem Jahrzehnt bei Mantua "in inniger Umarmung" von Archäologen gefunden wurden, erfährt man aus den Anmerkungen. "An jenem Abend lasen wir nicht weiter", heißt es im Gedicht. Man glaubt, Paolo und Francesca zu hören, aber es war nur eine Zeitungsmeldung gemeint.
CLAUDIA SCHÜLKE
Die Lyriktage enden am Samstag. Heute von 19.30 Uhr an sind Jürgen Becker und Marcel Beyer in der Evangelischen Stadtakademie, Römerberg 9, zu Gast. Im Frankfurter Literaturhaus, Schöne Aussicht 2, sind, ebenfalls von 19.30 Uhr an, der Schriftsteller Michael Fehr und der Gitarrist und Komponist Manuel Troller zu hören. Das weitere Programm findet sich unter der Adresse www.frankfurter-lyriktage.de.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Zornig, heiter, meisterlich: das Destillat eines Jahrzehnts.« Meike Fessmann Der Tagesspiegel 20161211