Das Handbuch der Ethnographie basiert auf den stenographierten Mitschriften der Vorlesungen von Marcel Mauss, die er von 1926 bis 1939 jedes Jahr am Institut d'Ethnologie der Universität Paris gehalten hat. Seine Schülerin, die Afrikanistin Denise Paulme, hat es 1947 herausgegeben. Dieses Handbuch, das nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegt, spiegelt die methodischen Leitfäden und thematischen Schwerpunkte wider, die Marcel Mauss ins Zentrum der ethnologischen Ausbildung gesetzt hat. Mauss, der, abgesehen von einer Reise nach Marokko, niemals selbst Feldforschung betrieben hat, wusste mit seiner überragenden Lehr- und Forschungstätigkeit gleichwohl eine ganze Phalanx französischer Ethnologen, Philosophen und Altphilologen auszubilden, von denen Roger Caillois, George Devereux oder Germaine Dieterlen nur die bekanntesten sind. Wir waren, so schrieb er 1930 im Rückblick, bei der Entdeckung dieser neuen Wissenschaft, "Verlorene im Wald, die sich nur orientieren konnten, indem sie sich gegenseitig riefen." Dank Marcel Mauss, des großen Ethnologen der Gabe, des Opfers, des Gebets, des Mythos, der Internationalität, der Körper- und Medientechniken, hat sich dieser Wald inzwischen gelichtet.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2013Was wollen Tränen und Gesang bedeuten?
Er hat nicht nur die berühmte Studie über "Die Gabe" verfasst: Zwei neue deutsche Ausgaben laden zur Beschäftigung mit dem Anthropologen und Soziologen Marcel Mauss ein.
Die Arbeiten des französischen Soziologen und Anthropologen Marcel Mauss fristeten lange Zeit ein Schattendasein. Als kurz nach seinem Tod 1950 unter dem nüchternen Titel "Sociologie et Anthropologie" eine erste Auswahl seiner Texte auf Französisch erschien, galt vor allem sein Essay "Die Gabe" (1923/24) als sein wichtigstes Werk. In der Einleitung zu diesem Band schrieb sein Schüler Claude Lévi-Strauss, man könne ihn nicht lesen, "ohne die Skala der Empfindungen zu durchlaufen, die Malebranche in Erinnerung an seine Descartes-Lektüre so gut beschrieben hat: Unter Herzklopfen, bei brausendem Kopf erfasst den Geist eine noch undefinierbare, aber unabweisbare Gewissheit, bei einem für die Entwicklung der Wissenschaft entscheidenden Ereignis zugegen zu sein." Zugleich beklagte der Begründer der strukturalen Anthropologie jedoch, dass die bahnbrechenden, in anderen Texten eröffneten Perspektiven nicht systematisch genug ausgearbeitet worden seien. Maus hätte seinen Schülern nichts als Fragmente hinterlassen, hätte wie Moses das Heilige Land zwar schauen, doch nicht selbst betreten können.
In der Tat hatte Mauss zu seinen Lebzeiten kein einziges Buch publiziert und eine Reihe seiner Aufsätze über Magie und Religion in Zusammenarbeit mit seinem Onkel Émile Durkheim oder dessen Schülern Henri Hubert oder Paul Fauconnet verfasst. Der erste Teil seiner nie abgeschlossenen Dissertation über das Gebet zirkulierte in fragmentarischer Form als Privatdruck unter Freunden und Kollegen. Viele seiner späteren originellen Untersuchungen, wie etwa diejenigen über die "Techniken des Körpers" (1934), blieben dezidiert ethnographisch-deskriptiv ausgerichtet. Dabei steht die theoretische Spekulation demonstrativ hinter der Klassifikation von Beobachtungen zurück. Kataloge, Listen und Pläne treten an die Stelle von Axiomen.
Im selben Jahr machte Mauss einen Interviewer auf diese Eigenheit seines Werks aufmerksam, wenn er die Entwicklung eines "großen theoretischen Systems" zu einer "unlösbaren Aufgabe" erklärte: "Mir geht es darum, ein wenig von den Dimensionen des Forschungsfeldes aufzuzeigen, von dem wir bis jetzt allenfalls den Rand berührt haben. Wir wissen nur ganz wenig, ein wenig hier und ein wenig da - das ist alles. Indem ich auf diese Weise gearbeitet habe, sind meine ,Theorien' verstreut und unsystematisch, so dass ich Ihnen keine Stelle nennen könnte, wo Sie eine Zusammenfassung finden könnten."
Es erstaunt daher nicht, dass Mauss lange Zeit vor allem als der "Neffe Durkheims" angesehen wurde, zunächst als treuer Schüler und Zuträger, später in seiner institutionellen Rolle als Bewahrer der Lehren der Durkheim-Schule. Da die Rolle des Theoretikers und soziologischen Klassikers spätestens seit der Veröffentlichung der "Elementaren Formen des religiösen Lebens" (1912) durch den Onkel besetzt war, wurden die religionssoziologischen Beiträge von Mauss wenn überhaupt in der Ethnologie rezipiert. Und obwohl Lévi-Strauss davor gewarnt hatte, "Die Gabe" vom Rest des Werks zu isolieren, kam es in der französischen Rezeption - von Pierre Bourdieu über Jacques Derrida bis zur M.A.U.S.S.-Gruppe um den Soziologen Alain Caillé - vielfach zu einer solchen Verengung auf diesen Essay. Nun erlauben eine Reihe von erstmals ins Deutsche übersetzten Texten eine Neueinschätzung: Die gewichtigste Neuerscheinung versammelt eine Auswahl der Schriften zur Religionssoziologie, großenteils in einer exzellenten Übersetzung von Eva Moldenhauer. Ein deutsch-französisches Soziologenteam, das sich schon länger um die Neubewertung von Mauss' Werk bemüht, hat die Texte behutsam und sachkundig, dabei auch für fachfremde Leser zugänglich kommentiert.
Der umfangreiche Band wird von der ersten längeren wissenschaftlichen Publikation, einer 1896 über Rudolf Steinmetz' Studien zur Ethnologie des Strafrechts verfassten Rezension, eröffnet. Bereits dieser Text, der bisher eher als Marginalie eingestuft wurde, demonstriert die verblüffende Gelehrsamkeit im Detail sowie die argumentative Schärfe des jungen Autors: Gegen die psychologische Theorie des Wundt-Schülers Steinmetz, derzufolge die Strafe ihren Ursprung in der privaten Rachsucht des Individuums hat, entwirft Mauss einen Ansatz, der den religiösen Charakter der familiären Beziehungen und der sozialen Gruppe für grundlegender ansieht. Die Abgrenzung von der zeitgenössischen Religionspsychologie und ihrer meist christlich gefärbten Vorstellung religiösen Erlebens zeigt sich in der Folge in scharfen Auseinandersetzungen mit dem Werk des amerikanischen Philosophen William James und seiner Anhänger. Die von der Experimentalpsychologie in verschiedenen Varianten bevorzugten introspektiven Methoden verwirft Mauss zugunsten einer historisch-soziologischen Vorgehensweise, die die Religion als ein organisiertes System von Kulten und Dogmen, von Ideen und Gegenständen und damit verbundenen kollektiven Praktiken begreift.
Deutlich wird dies in seiner provisorischen Definition des Gebets (1909), die dem ersten Teil seiner Dissertation entstammt: "ein oraler religiöser Ritus, der sich unmittelbar auf die sakralen Dinge bezieht". Neben dieser bisher kaum beachteten zentralen Arbeit entwickelt Mauss seinen Ansatz am deutlichsten im "Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie" (1904) sowie in den mit Hubert verfassten Arbeiten über Natur und Funktion des Opfers. Hier findet sich die Einführung des berühmten Begriffs mana, der sämtlichen Phänomenen kollektiver Gefühlsäußerungen zugrunde gelegt wird, wie sie bei religiösen und magischen Riten auftreten.
Während in diesen frühen Texten zur Religionssoziologie, die den Hauptteil des Bandes füllen, die Tendenz zur disziplinären Abgrenzung von der Philosophie und Psychologie im Sinne einer hierarchischen Unterordnung unter die soziologische Sichtweise greifbar ist, schlagen die späteren Arbeiten eine weitaus integrativere und dialogischere Richtung ein. Dies demonstriert etwa der kurze Aufsatz über den "obligatorischen Ausdruck von Gefühlen" in australischen Bestattungsritualen aus dem Jahr 1921, der den Band beschließt. In den Schreien, Tränen und Gesängen, wie sie bei diesen Ritualen auftreten, erkennt Mauss nicht nur den Ausdruck der Gefühle des Individuums oder des Kollektivs, sondern eine ganze Symbolik: "Tatsachen, über die Psychologen, Physiologen und Soziologen einander begegnen können und müssen". Mit der Konzeption des "homme total", der in all seinen Dimensionen zu erforschen ist, werden anthropologische Problemfelder aufgemacht, die nach wie vor der Bearbeitung harren. Allerdings drängt sich auch die Frage auf, wie solche interdisziplinäre Forschung ohne das enzyklopädische Wissen, über das der polyglotte Mauss verfügte, möglich sein soll.
Nicht umsonst pflegten die Hörer seiner Vorlesungen zu sagen: "Mauss weiß alles!" Um die Dokumentation von Mauss' langjähriger Lehrtätigkeit am Institut d'Ethnologie, aus der eine ganze Generation berühmter Ethnologen hervorgegangen ist, ist es allerdings weniger gut bestellt. 1947 hatte eine seiner Schülerinnen, die Afrikanistin Denise Paulme, unter dem nicht vom Autor stammenden Titel "Manuel d'ethnographie" Notizen von Hörern zusammengestellt. In der neuen deutschen Präsentation bleibt allerdings die komplizierte Textgeschichte im Dunkeln, da die als Quellen wichtigen Vorreden Paulmes fortgelassen und durch ein neues Vorwort ersetzt wurden.
Dabei wird unter Hintanstellung des historischen Kontextes versucht, Mauss' Methode durch an der Oberfläche verbleibende Vergleiche mit Husserl, Nietzsche und Freud philosophisch zu nobilitieren. Doch der ursprüngliche Titel der Vorlesungen, wie ihn die Herausgeberin Paulme wiedergibt, erläutert besser, worum es hier geht: nämlich um einen "Leitfaden der deskriptiven Ethnographie für Forschungsreisende, koloniale Verwaltungsbeamte und Missionare". Dass sich der Universalgelehrte Mauss, der selbst so gut wie keine Feldforschung betrieben hat und als einer der letzten armchair anthropologists gelten muss, hier an ein derart gemischtes Publikum zu wenden hatte, erklärt den oft lapidaren Stil der Notizen, die sofort auf das Wesentliche zusteuern: "Subjektive Schwierigkeiten. Gefahr der oberflächlichen Beobachtung. Nicht ,glauben'. Nicht glauben, dass man weiß, weil man etwas gesehen hat; keinerlei moralische Wertung einbringen. Sich nicht wundern. Nicht in Zorn geraten." Diese Instruktionen bilden kein Handbuch oder gar eine allgemeine Epistemologie, sondern geben praktische Hinweise, die auf das möglichst präzise und vollständige Erfassen des Konkreten abzielen. Man möchte sie auch jenen Kulturwissenschaftlern, die wohl nicht ganz frei von Nostalgie auf den letzten Enzyklopädisten Mauss zurückblicken, ans Herz legen.
ANDREAS MAYER
Marcel Mauss: "Schriften zur Religionssoziologie".
Hrsg. v. Stephan Moebius, Frithjof Nungesser und Christian Papilloud. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer und Henning Ritter. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 697 S., br., 30,- [Euro].
Marcel Mauss: "Handbuch der Ethnographie".
Hrsg. v. Iris Därmann und Kirsten Mahlke. Aus dem Französischen von Lars Dinkel und Andreas Haarmann. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2013. 355 S., geb., 39,90 [Euro].
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Er hat nicht nur die berühmte Studie über "Die Gabe" verfasst: Zwei neue deutsche Ausgaben laden zur Beschäftigung mit dem Anthropologen und Soziologen Marcel Mauss ein.
Die Arbeiten des französischen Soziologen und Anthropologen Marcel Mauss fristeten lange Zeit ein Schattendasein. Als kurz nach seinem Tod 1950 unter dem nüchternen Titel "Sociologie et Anthropologie" eine erste Auswahl seiner Texte auf Französisch erschien, galt vor allem sein Essay "Die Gabe" (1923/24) als sein wichtigstes Werk. In der Einleitung zu diesem Band schrieb sein Schüler Claude Lévi-Strauss, man könne ihn nicht lesen, "ohne die Skala der Empfindungen zu durchlaufen, die Malebranche in Erinnerung an seine Descartes-Lektüre so gut beschrieben hat: Unter Herzklopfen, bei brausendem Kopf erfasst den Geist eine noch undefinierbare, aber unabweisbare Gewissheit, bei einem für die Entwicklung der Wissenschaft entscheidenden Ereignis zugegen zu sein." Zugleich beklagte der Begründer der strukturalen Anthropologie jedoch, dass die bahnbrechenden, in anderen Texten eröffneten Perspektiven nicht systematisch genug ausgearbeitet worden seien. Maus hätte seinen Schülern nichts als Fragmente hinterlassen, hätte wie Moses das Heilige Land zwar schauen, doch nicht selbst betreten können.
In der Tat hatte Mauss zu seinen Lebzeiten kein einziges Buch publiziert und eine Reihe seiner Aufsätze über Magie und Religion in Zusammenarbeit mit seinem Onkel Émile Durkheim oder dessen Schülern Henri Hubert oder Paul Fauconnet verfasst. Der erste Teil seiner nie abgeschlossenen Dissertation über das Gebet zirkulierte in fragmentarischer Form als Privatdruck unter Freunden und Kollegen. Viele seiner späteren originellen Untersuchungen, wie etwa diejenigen über die "Techniken des Körpers" (1934), blieben dezidiert ethnographisch-deskriptiv ausgerichtet. Dabei steht die theoretische Spekulation demonstrativ hinter der Klassifikation von Beobachtungen zurück. Kataloge, Listen und Pläne treten an die Stelle von Axiomen.
Im selben Jahr machte Mauss einen Interviewer auf diese Eigenheit seines Werks aufmerksam, wenn er die Entwicklung eines "großen theoretischen Systems" zu einer "unlösbaren Aufgabe" erklärte: "Mir geht es darum, ein wenig von den Dimensionen des Forschungsfeldes aufzuzeigen, von dem wir bis jetzt allenfalls den Rand berührt haben. Wir wissen nur ganz wenig, ein wenig hier und ein wenig da - das ist alles. Indem ich auf diese Weise gearbeitet habe, sind meine ,Theorien' verstreut und unsystematisch, so dass ich Ihnen keine Stelle nennen könnte, wo Sie eine Zusammenfassung finden könnten."
Es erstaunt daher nicht, dass Mauss lange Zeit vor allem als der "Neffe Durkheims" angesehen wurde, zunächst als treuer Schüler und Zuträger, später in seiner institutionellen Rolle als Bewahrer der Lehren der Durkheim-Schule. Da die Rolle des Theoretikers und soziologischen Klassikers spätestens seit der Veröffentlichung der "Elementaren Formen des religiösen Lebens" (1912) durch den Onkel besetzt war, wurden die religionssoziologischen Beiträge von Mauss wenn überhaupt in der Ethnologie rezipiert. Und obwohl Lévi-Strauss davor gewarnt hatte, "Die Gabe" vom Rest des Werks zu isolieren, kam es in der französischen Rezeption - von Pierre Bourdieu über Jacques Derrida bis zur M.A.U.S.S.-Gruppe um den Soziologen Alain Caillé - vielfach zu einer solchen Verengung auf diesen Essay. Nun erlauben eine Reihe von erstmals ins Deutsche übersetzten Texten eine Neueinschätzung: Die gewichtigste Neuerscheinung versammelt eine Auswahl der Schriften zur Religionssoziologie, großenteils in einer exzellenten Übersetzung von Eva Moldenhauer. Ein deutsch-französisches Soziologenteam, das sich schon länger um die Neubewertung von Mauss' Werk bemüht, hat die Texte behutsam und sachkundig, dabei auch für fachfremde Leser zugänglich kommentiert.
Der umfangreiche Band wird von der ersten längeren wissenschaftlichen Publikation, einer 1896 über Rudolf Steinmetz' Studien zur Ethnologie des Strafrechts verfassten Rezension, eröffnet. Bereits dieser Text, der bisher eher als Marginalie eingestuft wurde, demonstriert die verblüffende Gelehrsamkeit im Detail sowie die argumentative Schärfe des jungen Autors: Gegen die psychologische Theorie des Wundt-Schülers Steinmetz, derzufolge die Strafe ihren Ursprung in der privaten Rachsucht des Individuums hat, entwirft Mauss einen Ansatz, der den religiösen Charakter der familiären Beziehungen und der sozialen Gruppe für grundlegender ansieht. Die Abgrenzung von der zeitgenössischen Religionspsychologie und ihrer meist christlich gefärbten Vorstellung religiösen Erlebens zeigt sich in der Folge in scharfen Auseinandersetzungen mit dem Werk des amerikanischen Philosophen William James und seiner Anhänger. Die von der Experimentalpsychologie in verschiedenen Varianten bevorzugten introspektiven Methoden verwirft Mauss zugunsten einer historisch-soziologischen Vorgehensweise, die die Religion als ein organisiertes System von Kulten und Dogmen, von Ideen und Gegenständen und damit verbundenen kollektiven Praktiken begreift.
Deutlich wird dies in seiner provisorischen Definition des Gebets (1909), die dem ersten Teil seiner Dissertation entstammt: "ein oraler religiöser Ritus, der sich unmittelbar auf die sakralen Dinge bezieht". Neben dieser bisher kaum beachteten zentralen Arbeit entwickelt Mauss seinen Ansatz am deutlichsten im "Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie" (1904) sowie in den mit Hubert verfassten Arbeiten über Natur und Funktion des Opfers. Hier findet sich die Einführung des berühmten Begriffs mana, der sämtlichen Phänomenen kollektiver Gefühlsäußerungen zugrunde gelegt wird, wie sie bei religiösen und magischen Riten auftreten.
Während in diesen frühen Texten zur Religionssoziologie, die den Hauptteil des Bandes füllen, die Tendenz zur disziplinären Abgrenzung von der Philosophie und Psychologie im Sinne einer hierarchischen Unterordnung unter die soziologische Sichtweise greifbar ist, schlagen die späteren Arbeiten eine weitaus integrativere und dialogischere Richtung ein. Dies demonstriert etwa der kurze Aufsatz über den "obligatorischen Ausdruck von Gefühlen" in australischen Bestattungsritualen aus dem Jahr 1921, der den Band beschließt. In den Schreien, Tränen und Gesängen, wie sie bei diesen Ritualen auftreten, erkennt Mauss nicht nur den Ausdruck der Gefühle des Individuums oder des Kollektivs, sondern eine ganze Symbolik: "Tatsachen, über die Psychologen, Physiologen und Soziologen einander begegnen können und müssen". Mit der Konzeption des "homme total", der in all seinen Dimensionen zu erforschen ist, werden anthropologische Problemfelder aufgemacht, die nach wie vor der Bearbeitung harren. Allerdings drängt sich auch die Frage auf, wie solche interdisziplinäre Forschung ohne das enzyklopädische Wissen, über das der polyglotte Mauss verfügte, möglich sein soll.
Nicht umsonst pflegten die Hörer seiner Vorlesungen zu sagen: "Mauss weiß alles!" Um die Dokumentation von Mauss' langjähriger Lehrtätigkeit am Institut d'Ethnologie, aus der eine ganze Generation berühmter Ethnologen hervorgegangen ist, ist es allerdings weniger gut bestellt. 1947 hatte eine seiner Schülerinnen, die Afrikanistin Denise Paulme, unter dem nicht vom Autor stammenden Titel "Manuel d'ethnographie" Notizen von Hörern zusammengestellt. In der neuen deutschen Präsentation bleibt allerdings die komplizierte Textgeschichte im Dunkeln, da die als Quellen wichtigen Vorreden Paulmes fortgelassen und durch ein neues Vorwort ersetzt wurden.
Dabei wird unter Hintanstellung des historischen Kontextes versucht, Mauss' Methode durch an der Oberfläche verbleibende Vergleiche mit Husserl, Nietzsche und Freud philosophisch zu nobilitieren. Doch der ursprüngliche Titel der Vorlesungen, wie ihn die Herausgeberin Paulme wiedergibt, erläutert besser, worum es hier geht: nämlich um einen "Leitfaden der deskriptiven Ethnographie für Forschungsreisende, koloniale Verwaltungsbeamte und Missionare". Dass sich der Universalgelehrte Mauss, der selbst so gut wie keine Feldforschung betrieben hat und als einer der letzten armchair anthropologists gelten muss, hier an ein derart gemischtes Publikum zu wenden hatte, erklärt den oft lapidaren Stil der Notizen, die sofort auf das Wesentliche zusteuern: "Subjektive Schwierigkeiten. Gefahr der oberflächlichen Beobachtung. Nicht ,glauben'. Nicht glauben, dass man weiß, weil man etwas gesehen hat; keinerlei moralische Wertung einbringen. Sich nicht wundern. Nicht in Zorn geraten." Diese Instruktionen bilden kein Handbuch oder gar eine allgemeine Epistemologie, sondern geben praktische Hinweise, die auf das möglichst präzise und vollständige Erfassen des Konkreten abzielen. Man möchte sie auch jenen Kulturwissenschaftlern, die wohl nicht ganz frei von Nostalgie auf den letzten Enzyklopädisten Mauss zurückblicken, ans Herz legen.
ANDREAS MAYER
Marcel Mauss: "Schriften zur Religionssoziologie".
Hrsg. v. Stephan Moebius, Frithjof Nungesser und Christian Papilloud. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer und Henning Ritter. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 697 S., br., 30,- [Euro].
Marcel Mauss: "Handbuch der Ethnographie".
Hrsg. v. Iris Därmann und Kirsten Mahlke. Aus dem Französischen von Lars Dinkel und Andreas Haarmann. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2013. 355 S., geb., 39,90 [Euro].
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