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Produktdetails
  • Verlag: Ott-Verlag
  • 4. Aufl.
  • Seitenzahl: 88725
  • Abmessung: 255mm
  • Gewicht: 1608g
  • ISBN-13: 9783722563282
  • Artikelnr.: 45528332
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Für Wissenschaftler sind Kursgewinne bedeutungslos
Max Weber waren andere Gesichtspunkte wichtig: Knut Borchardts Edition der Börsenschriften / Von Wilhelm Hennis

Auch guten Kennern Max Webers war nicht geläufig, wie gewaltig die in seine Freiburger Jahre fallende literarische Produktion zum "Börsenwesen" gewesen ist. Knut Borchardts Edition dieser Textmassen ist die erste wirkliche Sensation, die uns die große Weber-Edition (MWG) beschert.

Gewiß - man kannte die zwei kleinen Schriften über die "Börse", die Weber auf Bitten Friedrich Naumanns für dessen "Göttinger Arbeiterbibliothek" geschrieben hatte. Sie dienten der "Aufklärung" der Arbeiter über Sinn und Zweck der Börse - Musterstücke populärwissenschaftlich-kulturhistorischer Publizistik. Marianne Weber hatte sie - wenig sachgemäß - in ihre Sammlung der "Gesammelten Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik" (1924) aufgenommen. Die bandwurmartigen Berichte über "Die Ergebnisse der deutschen Börsenenquete", die Weber auf Bitten seines Doktorvaters Levin Goldschmidt, des Herausgebers der "Zeitschrift für das Gesammte Handelsrecht", zwischen 1894 und 1896 ablieferte, schlummerten dagegen ungelesen in den alten Folianten - was sich mit Borchardts Edition gewiß ändern wird.

Was ist für Weber, seinen diagnostischen Blick, seine Stellung zur "Wirklichkeit des Lebens" aus diesen frühen Texten zu lernen? Borchardts Einleitung geht zunächst der biographischen Veranlassung nach: War es Kür oder Pflicht? Wohl beides zugleich. Borchardts Vermutung, Weber, der sich als Jurist habilitiert hatte, aber bis dahin keine Zeile "Juristisches" im engeren Sinn, also zum "positiven" Recht geschrieben hatte, habe sich mit diesen Arbeiten auch als Jurist profilieren wollen, halte ich für wenig überzeugend. Natürlich beherrschte Weber den juristischen "Formalismus" mit seinem "Rechtsquellen"-Normativismus, seinen "Ableitungen", "Subsumtionen", seiner "Systematik" und so weiter - doch wissenschaftliches Interesse hat er für diesen "öden" Teil der Jurisprudenz nie aufbringen können. Die Jugendbriefe zeigen es in aller Deutlichkeit. Schon den Studenten interessierten am Recht die "praktischen Interessen", die zu regulieren die "Elementaraufgabe der Rechtsentwicklung" sei, die aber mit den Mitteln der Jurisprudenz nicht zu erfassen seien.

Überzeugender ist wohl, daß eine Beschäftigung mit der Börse ihm Einblick in die Herzkammer der kapitalistischen Wirtschaftsweise eröffnen konnte. Daß der Kapitalismus die "schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens" ist, diese Formel stammt von 1919. Daß es sich so verhielt, war aber dem Dreißigjährigen 1894 schon voll bewußt. Die Landarbeiterstudien hatten ihm sogar im traditionell agrarischen Bereich das Wirken der modernen Schicksalsmacht vor Augen geführt.

Zu welcher wichtigen "Einsicht" in Webers Denken können uns die Börsenschriften führen? Ein Satz, der für Naumann geschriebenen Schrift entnommen, bringt es auf den Punkt: "Auf die Personen kommt es an." Jedenfalls erlaubt uns die Edition die Korrektur eines großen Mißverständnisses. Das hohe Ansehen, in dem Weber in der auf "Modernisierung" eingeschworenenen deutschen Sozialgeschichtsschreibung steht, gilt ja dem "Modernisierungstheoretiker" - einem Denker, der die Ablösung der ständischen Gesellschaft durch die egalitär-libertäre Marktgesellschaft mehr oder weniger umstandslos "bejaht". Dem steht nun aber die absolut zentrale Kategorie für Webers "Vivisektion" des Börsenwesens, die "Ehre", das Standesbewußtsein der zur Beteiligung an der Börse einzig Qualifizierten, entgegen.

"Alles Ständische verdampft." Das steht im "Kommunistischen Manifest". Max Weber sah es nicht anders als Marx - aber eine besondere "Wünschbarkeit" war es ihm nicht. Wer das nicht sehen will, dem wird Webers "personalistisches" Arkanum verschlossen bleiben. Ehre und Standesbewußtsein sind dabei keine "inhaltlichen", "materialen" Kategorien. Um eine berühmte Sentenz zum Idealtyp zu variieren: Es gibt die "Ehre" von Bordelldamen, Mafiakillern, Mitgliedern einer von ihrem Rang überzeugten Fakultät, des Vorstandes einer Papiere emitierenden Bank und natürlich die Familienehre, in der die Kategorie wohl ihre universalgeschichtliche Wurzel hat.

Auch eine Nation hat, sofern sie mehr ist als eine geophysikalische Parzelle in der angeblich "einen Welt", bis zum heutigen Tag ihre Ehre, die sie ungern mißachtet sieht. Weber denkt hier nicht anders als Tocqueville, auch er ein Denker zwischen den Zeiten, für den die Möglichkeit, so etwas wie die nationale Ehre könne in den Vereinigten Staaten in der pur "individualistischen" Kategorie der "öffentlichen Meinung" aufgehen, ein großes Thema war. Auch für Weber waren die Vereinigten Staaten kein "Sandhaufen" unverbundener Individuen mit ihren "Menschenrechten" - wie er offenbar das neudeutsche Ideal der "Zivilgesellschaft" ist.

Aus der Beteiligung am Börsengeschäft fliegt eben heraus, wie aus jedem anständigen Club, wer sich nicht "anständig", will heißen kommentmäßig benimmt. Der Komment mag inhaltlich sein, wie er will, der eines Bordells, in dem man sich verkauft, oder der einer Fakultät, in der solches nicht vorkommen sollte. Allerdings: Ein gemeinsamer, verbindender Ehrbegriff setzt in etwa statusmäßige Gleichheit voraus, im konkreten Fall erheblichen Reichtum. Weber war nicht blind für die berechtigten "Anliegen" des Gesetzgebers, für den Sinn der Absicht, "den kleinen Mann" vor den Risiken der Beteiligung am "Börsenspiel" zu schützen. Darum erhöhte Anforderungen an die Prospektwahrheit, Warnung vor auf ihre Bonität schwer nachprüfbaren ausländischen Papieren und so weiter. Von staatlicher Regulierung hielt Weber wenig.

Knut Borchardts Einleitung ist in ihrer Dichte und Prägnanz ein wirkliches Meisterstück wirtschaftshistorischer Erschließung uns ferner und doch ungeheuer aktueller Zusammenhänge. Hier liegt ein Band der MWG vor, dem gegenüber alle Einwände zurücktreten. Endlich ein freier Blick auf das Werk: unverstellt durch die von Talcott Parsons bestimmte Nachkriegsrezeption des "Gründervaters" der Soziologie. Max Weber ist deutscher Eigenbau, dennoch Weltbesitz wie Kant und Goethe, Marx und Nietzsche. Ohne die spezifisch deutsche Sensibilität für die problematischen Seiten des "Projekts der Moderne", die sich wissenschaftlich in den "historischen" Schulen der Rechtswissenschaft und "Volkswirtschaftslehre" angekündigt hatte, kein Weber.

Weber faßte die Aufsätze für Goldschmidts Zeitschrift einige Jahre später in Beiträgen für das seit 1890 erscheinende "Handwörterbuch der Staatswissenschaften" zusammen. In ihm sollte, wie das Vorwort sagt, auch "die wirtschaftliche Gesetzgebung Deutschlands und aller wichtigen übrigen Staaten in großer Ausführlichkeit" dargelegt werden. Das aber "nicht zum Zwecke einer juristischen Systematik, sondern im Anschluß an die Untersuchung der Frage, welches die Schranken und die Erfolge der staatlichen Einwirkung auf das Wirtschaftsleben sind". Genau dies ist Webers Frage, und sie ist zunächst keine "politische", sondern eine genuin wissenschaftliche. Selbst wenn Weber sich mit den Börsenschriften als "Jurist" hätte "profilieren" wollen, so mißlang ihm das ja komplett: Sofort schlägt die sozialwissenschaftliche Frage nach der Natur der "Verkehrserscheinungen" an der Börse durch.

Weber bedient sich - ein Sprachgebrauch von höchster Bedeutung für das Verständnis seiner Art, die Wirklichkeit zu erfassen - nicht analytisch-cartesianischer, sondern der Medizin abgelauschter Begriffe. Sein Blick auf die "Erscheinungen", also die Praxis der an der Börse Handelnden, ist "autoptisch", es geht um so etwas wie die "Vivisektion" des Börsengeschehens. Erst wenn diese realen Vorgänge, über die ja nur der Praktiker wirklich Bescheid weiß - die großen "Praktiker" in der Enquetekommission verhielten sich gegenüber Webers Offenbarungswünschen oft reichlich zugeknöpft -, so präzis wie möglich "dargestellt" und damit dann auch "erklärt" sind, dann kann man sie, von welchem "Wert", "Interesse", "Moral" oder was auch immer aus, "beurteilen". Ein klassisches Zitat, den Kern der "verstehenden Soziologie" vorwegnehmend: "Die Beurtheilung ganz ungenügend erklärter Erscheinungen auf dem Gebiet der Handelstechnik ist eben zur Sterilität durch die Natur der Sache verurteilt." Das gilt auf jedem Gebiet menschlicher Praxis, und gerne möchte man das den Gurus der akademisch boomenden "Wirtschaftsethik" - Händlern in weißer Salbe für die "Culturprobleme" des Kapitalismus - ins Stammbuch schreiben.

Zu Borchardts Einleitung muß man den Münchener Akademievortrag "Max Webers Börsenschriften - Rätsel um ein übersehenes Werk" hinzunehmen. Weiteres zu Weber, zu dem Borchardt meines Wissens bisher nie etwas publiziert hatte, wird angekündigt. Ohne Borchardts Edition wäre dieser Teil des "Frühwerks" wohl weiter ohne Beachtung geblieben. Keine Frage: Hier haben wir den eigentlichen Ertrag von Webers Freiburger Jahren (1894 bis 1897) - eine von Webers gewaltsamen "Eruptionen", denen noch viele folgen sollten.

Dennoch! Frei nach Erich Kästner wird der Leser den Rezensenten auch fragen: "Wo bleibt das Negative?" Wo soviel Licht, da muß auch Schatten sein. Mustergültig erklärt uns Borchardt noch einmal Webers eigentliches Anliegen: gegenüber dem agrarischen Interessenstandpunkt, dem latenten Antisemitismus der kleineren und größeren Leute, großer Teile des Bürgertums, der moralisierenden Bemühtheit des Staates, den Anleger zu "schützen" (caveat emptor, soll er doch aufpassen!), den Sinn einer starken Börse verständlich zu machen: ihrer technischen Unentbehrlichkeit für die Preisbildung im Kapitalismus, seiner durch und durch auf "Spekulation" beruhenden Art des "Wirtschaftens" und der Bedeutung starker nationaler Börsen im globalisierten Kapitalismus - jedenfalls so lange, wie die wirtschaftlichen und politischen Machtinteressen der Staaten und nationalen Gesellschaften im Kampf mit anderen Gemeinschaften um die politische und ökonomische Herrschaft nicht ans "weltstaatliche" Ende gekommen sind - als ob der "öde Kampf des Menschen mit dem Menschen" (Weber) dann nicht zwischen den "Regionen" weitergehen würde.

Warum hat die Bundesrepublik so verbissen um Frankfurt als zentralen Bankplatz der EU gekämpft? Es ist nun einmal, ein Gedanke, den Weber öfters variiert, nicht ganz gleichgültig, wo die Ersparnisse einer Nation gehandelt und angelegt werden. Der Rezensent, mit Kindheitserfahrungen und Familienbindungen an ein südamerikanisches Land, weiß, was "Kapitalflucht" (der Reichen versteht sich) für Gedeih und Verderb einer in ihrer großen Mehrheit doch immer eher armen Bevölkerung (alias "Nation") bedeutet: Verelendung der großen Massen und immer lauter schreiende soziale Ungerechtigkeiten, die schließlich auch für "Demokratie" keinen Raum mehr lassen.

Nochmals: Wo bleibt das Negative? Die Edition der einzelnen Bände haben die Herausgeber der MWG ausgewiesenen (auch statusmäßig ranghohen) Fachwissenschaftlern für die vielen von Weber beackerten Gebiete anvertraut. Das Dilemma war wohl unausweichlich: Nicht jeder, wenn überhaupt einer dieser Fachleute, konnte auch "Weberologe" sein, also wähnen, er beherrsche den "ganzen Weber". Der "Weber-Kenner" im engeren Sinne kann - er wäre denn ein Weber resurrectus - nicht alle Gebiete und "Fächer" kennen, die Weber beherrschte. Aber beim Studium der Bände der Edition fällt ihm doch dies und das auf, was für den Bandeditor unproblematisch erscheinen mochte. Borchardt hat sich von allen Vorgaben der MWG-Herausgeber frei gemacht. In zwei wichtigen Fragen aber doch nicht, in Einleitung und Kommentierung wird es jedenfalls nicht erkennbar.

Borchardt beschließt seinen Akademievortrag mit einem Zitat aus einem Mannheimer Vortrag vom Dezember 1897: "Was hat das Zeitalter des Kapitalismus geleistet? Das Glück hat es nicht in die Welt gebracht, aber es hat den modernen Menschen des Occidents geschaffen. Die Geldwirtschaft an die Stelle der Naturalwirtschaft hat die Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Individuums geschaffen." Sicher: aber doch nur dort, wo sich für Selbstverantwortlichkeit auch eine "Chance" eröffnete. Acht Jahre später, am Ende der Aufsätze zur "Protestantischen Ethik", werden die modernen Menschen des Okzidents schon etwas differenzierter vorgestellt: als "Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben". Die kulturvernichtende, das Antlitz des Menschen bis ins Unerkennbare verändernde "charakterologische" Wirkung des Kapitalismus war schon dem jungen Freiburger Professor bekannt: Seinen Nietzsche ("das Glück hat es nicht in die Welt gebracht") hatte er intus. Die von Borchardt edierten Texte bieten keine Veranlassung für eine ohne Rest "positive" Vereinnahmung Webers für die "schicksalsvollste Macht unsres modernen Lebens: den Kapitalismus". Das hätte Borchardt vielleicht deutlicher machen sollen, seine eigene Interpretation vor falscher Vereinnahmung schützend.

Der zweite Punkt ist wichtiger: Es ist ein wahres Unglück, daß Marianne Weber in ihrem Vorwort zur ersten Auflage der "Politischen Schriften" (1920), um dem Eindruck des Nörglers und Kritikers des wilhelminischen Systems etwas entgegenzusetzen, Weber darstellte als einen Deutschen, "dem die Größe seiner Nation . . . ein unbezweifelbarer Wert war". Marianne legt das durchaus etwas genauer aus - aber Wolfgang J. Mommsen kanonisierte diese Kurzformel in seinem Buch von 1959 für die weitere Weber-Rezeption. Aber was war denn der "Gesichtspunkt der Staatsräson", unter dem Weber alle gesellschaftlich-politischen Erscheinungen analysierte? Eben nicht das Nationalstaatsideal pur und simpel, sondern - so schon 1893 - die Frage, "wie es um die Fundamente der sozialen Organisation bestellt, ob der Staat sich darauf stützen kann, auf die Dauer, zum Zweck der Lösung derjenigen politischen Aufgaben", vor die er sich gestellt sah. Das bezog sich nicht zuletzt auf das Problem der Qualifikation der Führungsschicht, aber vor allem auch auf die "Art der Dislokation der Bevölkerung des Landes". In Webers Werk finden wir ein umfassendes Raster für alle Fragen, die für die Beurteilung des "Standortes" einer Nation immer wieder gestellt werden müssen.

Borchardt folgt Mommsen zwar nicht - aber er widerspricht auch nicht. Dabei wäre wohl niemand besser qualifiziert als Borchardt, uns Webers "Börsenschriften" so in die Konstellation der Zeit hineinzustellen - die vorwaltenden "Interessen", die herrschende nationalökonomische Denkweise, die bürokratische Struktur des wilhelminischen Staates, seiner Stärken und Schwächen, wie er es für die Wirtschaftspolitik der Endphase Weimars so meisterhaft vorgeführt hat. Man möchte wünschen, daß Borchardt hier noch einmal ein großes Weber-Thema sich und uns erschließt.

Vom Verlag wünscht man sich die baldige Edition einer "Studienausgabe": mit Borchardts "Einleitung", den Börsenschriften für Naumann und den beiden Beiträgen für das "Handwörterbuch der Staatswissenschaften". Es müßte doch möglich sein, Weber den heutigen Studenten der Global-Ökonomie und den hoffnungslos vertheoretisierten Politikwissenschaftlern wieder nahezubringen.

Max Weber: "Börsenwesen". Max-Weber-Gesamtausgabe I/5. Schriften und Reden 1893-1898 in 2 Halbbänden. Herausgegeben von Knut Borchardt in Zusammenarbeit mit Cornelia Meyer-Stoll. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 1999/2000. 550 S., geb., 318,- DM. 1159 S., geb., 348,- DM.

Knut Borchardt: "Max Webers Börsenschriften: Rätsel um ein übersehenes Werk". Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 2000, Heft 4. Verlag C. H. Beck, München 2000. 43 S., br., 25,- DM.

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