Ausländerpolitik, Islam, EU und Nationalsozialismus. Zu diesen Themen hat jeder eine Meinung. Zu diesen Themen haben aber auch Vorurteile Konjunktur: Oft ist man sprachlos ob der geäußerten Meinungen, hat aber objektive Daten und Fakten nicht zur Hand. Dem Leser des vorliegenden Handbuchs gegen Vorurteile wird das nicht mehr passieren. Nina Horaczek und Sebastian Wiese untersuchen mehr als 50 gängige Vorurteile und Geschichtsverharmlosungen auf ihren Wahrheitsgehalt. Ergebnis umfangreicher Recherchen ist eine umfassende und objektive Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Vorurteilen, die zahlreiche Überraschungen bietet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.06.2012Wien, Wien, du nur allein?
Fleißig gesammelt, aber wenig durchdacht: "Handbuch gegen Vorurteile"
Hier greift man sofort zu: ein "Handbuch gegen Vorurteile"! Das ist doch ein Desiderat, fast eine Erlösung. Endlich umfassende Orientierung über eine der trübsten Quellen der abendländischen Geschichte, mehr Blut als Wasser führend. Da ist das Schicksal der Juden - eine Leidensgeschichte, von Vorurteilen bestimmt, zunächst religiösen, dann rassischen. Da ist das deutsche Verhältnis zu Frankreich - seit der Zeit Napoleons bis 1945 gesteuert durch die Ansicht von einem verweichlichten, lasterhaften Volk, ohne tiefgehende Kultur, seine ganze Zivilisation nur vom leichthin an der Oberfläche operierenden Intellekt hervorgebracht. Von solchen Vorurteilen gebannt, hielten die Deutschen in ihren Schützengräben aus. Da sind unsere östlichen Nachbarn, die man mehr als ein Jahrhundert "Polacken" nannte, um schon im Namen alle Vorurteile vital zu halten.
Von Gedanken solcher Art vorwärtsgetrieben, beginnt man die Lektüre des ersten von insgesamt 52 abgehandelten Vorurteilen mit großem Interesse: "Die Auschwitzlüge". Auf acht Seiten werden da alle architektonischen und schriftlichen Quellen aufgeführt, die den kollektiven Judenmord unabweislich machen - von den Berichten des polnischen Widerstandskämpfers Jan Karski bis zu den Dokumenten im "Ringelblum-Archiv", auf abenteuerliche Weise zusammengetragen von einem heldenhaften, todgeweihten Mit-Vegetierer im Warschauer Getto. Über eine Seite nachweisender Apparat machten die Darbietungen unangreifbar. So bestens informiert, hält man dann auch das mitgelieferte Urteil des Obersten Gerichtshofs in Österreich für gerechtfertigt, dass eine "weitere beweismäßige Erörterung" überflüssig sei.
Handbuchgerecht stöbert man weiter durch die historisch gerichteten Artikel: über die "positiven" Seiten des Nationalsozialismus ("Autobahnen", "Familienpolitik"), die Massenmorde Stalins - und trifft auf drei Vorurteile über die "Nürnberger Siegerjustiz": fehlende Rechtsgrundlage, gesetzlose Strafen, mangelnde Fairness. Auch diese drei Kapitel: bestens abgesichert durch bemerkenswerte juristische Sachkenntnis; selbst anders Urteilende werden erwähnt: "Tatsächlich war die Rechtsnatur dieses Gerichtsverfahrens auch unter Juristen lange Zeit umstritten." Spätestens nach solch besonnenen, öfter anzutreffenden Zugeständnissen fragt man sich: Wird da wirklich zielstrebig über Vorurteile gehandelt oder über oft ganz seriöse Debatten berichtet?
Da man nun ein Handbuch in der Hand hat, beginnt man, weiterer Orientierung bedürftig, die Suche nach Informationen über das schwierige Problem "Vorurteile". Fehlanzeige - ohne jede Vorklärung gehen die Autoren zur Sache und können sie schon ebendeshalb nicht genau treffen. Also nirgendwo etwas über die schwierigen Abgrenzungsfragen von Urteil-Vorurteil-Klischee, ebenso wenig Reflektion über die mögliche, breit diskutierte Lebensnotwendigkeit von Vorurteilen. Keine Debatte über die Schwierigkeiten und Chancen, Vorurteile abzubauen, dies eine besonders missliche Leerstelle, denn die ganze Struktur der Gedankenführung wäre doch wohl aus diesem Punkte zu konstruieren.
Gedankentiefe bei der Darstellung der einfach ad hoc bestimmten Vorurteile kann man demnach nicht attestieren. Also versucht man sich an die Breite der angesprochenen Probleme zu halten. Hier gerät man jedoch in einen ziemlich engen Bezirk. Subtrahiert man die 10 der nationalsozialistischen Vergangenheit gewidmeten Artikel von der Gesamtzahl 52, dann verbleiben 42. Davon wiederum handeln 36 einzig und allein von der Ausländer- und Zuwanderungsproblematik seit 1945, ein seltsames Ergebnis für ein "Handbuch gegen Vorurteile".
Und eine zweite Verengung: Die Problematik wird fast ausschließlich aus österreichischer Perspektive angegangen, und wie sie angegangen wird, daraus kann man ablesen, wie die Autoren den Vorurteilen beikommen wollen: durch dichte, verlässliche, gewiss mühevoll und akkurat zusammengestellte Faktensammlung. So wird man mit Daten bestens gerüstet. Österreich ein "Flüchtlingsparadies"? Die Wirklichkeit: Die Vereinigten Staaten liegen seit 5 Jahren unangefochten an der Spitze, 2010 mit 358 000 Anträgen, Österreich deutlich dahinter mit 11.012. Das ergibt nur einen Asylbewerber auf 679 Österreicher, und zehn Jahre vorher war es sogar noch einer auf 400! Nichts von Schwemme, nichts von anwachsendem "Zuwanderungstsunami".
Ob sich notorische Ausländerfeinde durch so etwas beeindrucken lassen? Wohl kaum, denn ihre Ressentiments wurzeln hauptsächlich in versteckten Gift-Höhlen eigener Probleme - auch in ganz offen daliegenden, unabweisbaren, also: ernst zu nehmenden Schwierigkeiten. Diese geschickt anzugehen, ist zwar auch dem stark umstrittenen Thilo Sarrazin nicht gelungen; das gewaltige Echo jedoch - auch bei offensichtlich redlichen, anders gerichteten Menschen - beweist, dass da mehr im Spiel ist als bloße Vorurteile. Es sind tief hinab reichende Probleme, die aus dem Gegen- und Miteinander von aufgeklärten Gesellschaftskonzeptionen und noch stark archaisch-mythisch geprägten Mentalitäten entstehen.
Welch große Schwierigkeiten das in der Alltagspraxis macht, hätte man zum Beispiel bei Heinz Buschkowski, dem Bürgermeister von Berlin-Neukölln (Ausländeranteil 35 Prozent), erfahren können. Und wie man die Problematik theoretisch, den Kern freilegend, angehen kann, darüber haben Necla Kelek und ihre Kontrahenten Beachtenswertes vorgetragen. Nicht dass die beiden Genannten sich in unbezweifelbarer Wahrheit bewegen, aber auch nicht in bloßen Vorurteilen. Ernst zu nehmende Andersdenkende werden im "Handbuch" nicht verhandelt. Das ist ein ebenso großer Schaden, wie andererseits die Datenmassen zu "Kopftuch", "Ausländerkriminalität", "Sozialschmarotzer", "Scharia", "Minarettverbot" et cetera gewiss ein Gewinn sind. Um ein wirklich gutes Buch zu erhalten, müsste man ihm nur ein einführendes Kapitel beigeben und es dann umbenennen: "Handbuch gegen Vorurteile im Bereich österreichischer Ausländerproblematik". Das träfe schon etwas genauer. Für noch mehr Klarheit würde der Zusatz sorgen: "konzipiert aus entschieden optimistischer Sicht".
DIETZ BERING
Nina Horaczek/Sebastian Wiese: Handbuch gegen Vorurteile. Von Auschwitzlüge bis Zuwanderungstsunami. Czernin Verlag, Wien 2011. 304 S., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fleißig gesammelt, aber wenig durchdacht: "Handbuch gegen Vorurteile"
Hier greift man sofort zu: ein "Handbuch gegen Vorurteile"! Das ist doch ein Desiderat, fast eine Erlösung. Endlich umfassende Orientierung über eine der trübsten Quellen der abendländischen Geschichte, mehr Blut als Wasser führend. Da ist das Schicksal der Juden - eine Leidensgeschichte, von Vorurteilen bestimmt, zunächst religiösen, dann rassischen. Da ist das deutsche Verhältnis zu Frankreich - seit der Zeit Napoleons bis 1945 gesteuert durch die Ansicht von einem verweichlichten, lasterhaften Volk, ohne tiefgehende Kultur, seine ganze Zivilisation nur vom leichthin an der Oberfläche operierenden Intellekt hervorgebracht. Von solchen Vorurteilen gebannt, hielten die Deutschen in ihren Schützengräben aus. Da sind unsere östlichen Nachbarn, die man mehr als ein Jahrhundert "Polacken" nannte, um schon im Namen alle Vorurteile vital zu halten.
Von Gedanken solcher Art vorwärtsgetrieben, beginnt man die Lektüre des ersten von insgesamt 52 abgehandelten Vorurteilen mit großem Interesse: "Die Auschwitzlüge". Auf acht Seiten werden da alle architektonischen und schriftlichen Quellen aufgeführt, die den kollektiven Judenmord unabweislich machen - von den Berichten des polnischen Widerstandskämpfers Jan Karski bis zu den Dokumenten im "Ringelblum-Archiv", auf abenteuerliche Weise zusammengetragen von einem heldenhaften, todgeweihten Mit-Vegetierer im Warschauer Getto. Über eine Seite nachweisender Apparat machten die Darbietungen unangreifbar. So bestens informiert, hält man dann auch das mitgelieferte Urteil des Obersten Gerichtshofs in Österreich für gerechtfertigt, dass eine "weitere beweismäßige Erörterung" überflüssig sei.
Handbuchgerecht stöbert man weiter durch die historisch gerichteten Artikel: über die "positiven" Seiten des Nationalsozialismus ("Autobahnen", "Familienpolitik"), die Massenmorde Stalins - und trifft auf drei Vorurteile über die "Nürnberger Siegerjustiz": fehlende Rechtsgrundlage, gesetzlose Strafen, mangelnde Fairness. Auch diese drei Kapitel: bestens abgesichert durch bemerkenswerte juristische Sachkenntnis; selbst anders Urteilende werden erwähnt: "Tatsächlich war die Rechtsnatur dieses Gerichtsverfahrens auch unter Juristen lange Zeit umstritten." Spätestens nach solch besonnenen, öfter anzutreffenden Zugeständnissen fragt man sich: Wird da wirklich zielstrebig über Vorurteile gehandelt oder über oft ganz seriöse Debatten berichtet?
Da man nun ein Handbuch in der Hand hat, beginnt man, weiterer Orientierung bedürftig, die Suche nach Informationen über das schwierige Problem "Vorurteile". Fehlanzeige - ohne jede Vorklärung gehen die Autoren zur Sache und können sie schon ebendeshalb nicht genau treffen. Also nirgendwo etwas über die schwierigen Abgrenzungsfragen von Urteil-Vorurteil-Klischee, ebenso wenig Reflektion über die mögliche, breit diskutierte Lebensnotwendigkeit von Vorurteilen. Keine Debatte über die Schwierigkeiten und Chancen, Vorurteile abzubauen, dies eine besonders missliche Leerstelle, denn die ganze Struktur der Gedankenführung wäre doch wohl aus diesem Punkte zu konstruieren.
Gedankentiefe bei der Darstellung der einfach ad hoc bestimmten Vorurteile kann man demnach nicht attestieren. Also versucht man sich an die Breite der angesprochenen Probleme zu halten. Hier gerät man jedoch in einen ziemlich engen Bezirk. Subtrahiert man die 10 der nationalsozialistischen Vergangenheit gewidmeten Artikel von der Gesamtzahl 52, dann verbleiben 42. Davon wiederum handeln 36 einzig und allein von der Ausländer- und Zuwanderungsproblematik seit 1945, ein seltsames Ergebnis für ein "Handbuch gegen Vorurteile".
Und eine zweite Verengung: Die Problematik wird fast ausschließlich aus österreichischer Perspektive angegangen, und wie sie angegangen wird, daraus kann man ablesen, wie die Autoren den Vorurteilen beikommen wollen: durch dichte, verlässliche, gewiss mühevoll und akkurat zusammengestellte Faktensammlung. So wird man mit Daten bestens gerüstet. Österreich ein "Flüchtlingsparadies"? Die Wirklichkeit: Die Vereinigten Staaten liegen seit 5 Jahren unangefochten an der Spitze, 2010 mit 358 000 Anträgen, Österreich deutlich dahinter mit 11.012. Das ergibt nur einen Asylbewerber auf 679 Österreicher, und zehn Jahre vorher war es sogar noch einer auf 400! Nichts von Schwemme, nichts von anwachsendem "Zuwanderungstsunami".
Ob sich notorische Ausländerfeinde durch so etwas beeindrucken lassen? Wohl kaum, denn ihre Ressentiments wurzeln hauptsächlich in versteckten Gift-Höhlen eigener Probleme - auch in ganz offen daliegenden, unabweisbaren, also: ernst zu nehmenden Schwierigkeiten. Diese geschickt anzugehen, ist zwar auch dem stark umstrittenen Thilo Sarrazin nicht gelungen; das gewaltige Echo jedoch - auch bei offensichtlich redlichen, anders gerichteten Menschen - beweist, dass da mehr im Spiel ist als bloße Vorurteile. Es sind tief hinab reichende Probleme, die aus dem Gegen- und Miteinander von aufgeklärten Gesellschaftskonzeptionen und noch stark archaisch-mythisch geprägten Mentalitäten entstehen.
Welch große Schwierigkeiten das in der Alltagspraxis macht, hätte man zum Beispiel bei Heinz Buschkowski, dem Bürgermeister von Berlin-Neukölln (Ausländeranteil 35 Prozent), erfahren können. Und wie man die Problematik theoretisch, den Kern freilegend, angehen kann, darüber haben Necla Kelek und ihre Kontrahenten Beachtenswertes vorgetragen. Nicht dass die beiden Genannten sich in unbezweifelbarer Wahrheit bewegen, aber auch nicht in bloßen Vorurteilen. Ernst zu nehmende Andersdenkende werden im "Handbuch" nicht verhandelt. Das ist ein ebenso großer Schaden, wie andererseits die Datenmassen zu "Kopftuch", "Ausländerkriminalität", "Sozialschmarotzer", "Scharia", "Minarettverbot" et cetera gewiss ein Gewinn sind. Um ein wirklich gutes Buch zu erhalten, müsste man ihm nur ein einführendes Kapitel beigeben und es dann umbenennen: "Handbuch gegen Vorurteile im Bereich österreichischer Ausländerproblematik". Das träfe schon etwas genauer. Für noch mehr Klarheit würde der Zusatz sorgen: "konzipiert aus entschieden optimistischer Sicht".
DIETZ BERING
Nina Horaczek/Sebastian Wiese: Handbuch gegen Vorurteile. Von Auschwitzlüge bis Zuwanderungstsunami. Czernin Verlag, Wien 2011. 304 S., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nein, ein Handbuch gegen Vorurteile ist das nicht, was der Rezensent da in der Hand hält. Dafür wird der Begriff "Vorurteil" schon mal viel zu wenig problematisiert, seine Chancen, seine Schwierigkeiten, nämlich überhaupt nicht, wie Dietz Bering erstaunt feststellt. Ferner erscheint ihm die auffällige Häufung der Artikel zu den Themen Nationalsozialismus (10) und Ausländer- und Zuwanderungsproblematik seit '45 (36 von insgesamt 52) zumindest seltsam. Die fast durchweg österreichische Perspektive schränkt die Berechtigung des Titels "Handbuch gegen Vorurteile" für Bering weiter ein. Und nicht zuletzt: Mit einer bloßen Faktensammlung wie dieser, da ist sich Bering sicher, lassen sich Vorurteile gewiss nicht abbauen (falls das die Absicht der Autoren gewesen sein sollte).
© Perlentaucher Medien GmbH
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