Der Umgang mit Nichtwissen und Risiko
Mit der Zunahme von Wissen wächst auch das Nichtwissen. Das Buch bietet eine Bestandsaufnahme und interdisziplinäre Annäherung an dieses ebenso zentrale wie schillernde Thema: Es verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen Wissen und Nichtwissen, längst hängt auch die Unterscheidung von Machtverhältnissen und Deutungshoheiten ab. Anhand von Fallstudien aus politischer und industrieller Praxis, wie Umweltchemie, Klimaforschung, Nanotechnologie, Genforschung und dem Thema BSE, wird dargestellt, wie Nichtwissen jeweils wahrgenommen, definiert, bestritten oder strategisch eingesetzt wird.
Mit der Zunahme von Wissen wächst auch das Nichtwissen. Das Buch bietet eine Bestandsaufnahme und interdisziplinäre Annäherung an dieses ebenso zentrale wie schillernde Thema: Es verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen Wissen und Nichtwissen, längst hängt auch die Unterscheidung von Machtverhältnissen und Deutungshoheiten ab. Anhand von Fallstudien aus politischer und industrieller Praxis, wie Umweltchemie, Klimaforschung, Nanotechnologie, Genforschung und dem Thema BSE, wird dargestellt, wie Nichtwissen jeweils wahrgenommen, definiert, bestritten oder strategisch eingesetzt wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2005Wer soll denn das noch alles verstehen?
Wieder mehr Demokratie wagen: Ein Fluchthelfer aus der großen Runde der wissenden Berater
Das ist ein höchst nützliches Buch, in dem für jeden Wißbegierigen etwas drinsteht: für den allabendlichen Talkshow-Konsumenten wie für den regelmäßigen Biblotheksbenutzer und schließlich für die Mehrzahl derer, die beides zugleich sind. Denn das Problem von uns allen ist: Wir wissen immer mehr, und wir wissen immer weniger. Mit dem allgemeinen Wissen steigt auch das persönliche Nichtwissen. Deshalb verdient das Nichtwissen unter den Bedingungen heutiger Gesellschaften eine erhöhte Aufmerksamkeit.
Bernhard Gill verweist in seinem Buch auf die innerwissenschaftliche "Paradigmenkonkurrenz". Wissenschaftliche Theorien, populäre Wissensvermittlung und Weltanschauungen vervielfältigten sich und rivalisierten miteinander um Wahrheitsansprüche, Interpretationsspielräume und Reputation. Eine letztinstanzliche Entscheidung darüber, welche der unzähligen Modellannahmen der Wirklichkeit näher kämen als andere, sei unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich.
Weshalb aber sollte aus der Multiplizierung der Untersuchungsperspektiven ein prinzipielles Problem erwachsen? Häufig kann der einzelne Wissenschaftler sich damit begnügen, den fremden Standpunkt zu ignorieren. Der Aristoteliker hält den Naturbegriff des Physikers für dürftig, diesem erscheinen die Vorstellungen seines Kollegen von der Philosophischen Fakultät umgekehrt als überspannt. Beide wissen um die Existenz abweichender Standpunkte, dieses Wissen hindert sie aber nicht daran, in ihren gewohnten Bahnen weiterzuarbeiten. Die zweite Möglichkeit besteht darin, sich von den fremden Überlegungen anregen zu lassen.
Heikel wird es dort, wo eine Einzelwissenschaft ihren eigenen Erklärungsanspruch nicht überzeugend einzulösen vermag. Das naturwissenschaftliche Experiment beruht auf einer Strategie radikaler Vereinfachung. Um einen bestimmten Wirkungszusammenhang erforschen zu können, sucht der Experimentator sonstige Umwelteinflüsse nach Möglichkeit auszuschalten. Im Fall überkomplexer Systeme gerät dieses Verfahren an seine Grenzen. Wie Martin Scheringer erläutert, ist mit Überkomplexität gemeint, "daß die Menge der Faktoren, die ein bestimmtes Phänomen wie das Auftreten einer toxischen Wirkung beeinflussen, so groß und vielfältig ist, daß nicht konsequent - wie in idealisierten Systemen im Labor - zwischen relevanten Faktoren und ,Rauschen' unterschieden werden kann". Eingriffe in überkomplexe Systeme - das Musterbeispiel eines solchen ist das Umweltsystem - bergen deshalb Gefahren, die nicht durch ein Mehr an Forschung ausgeräumt werden können. Wie sollen moderne Gesellschaften mit derartigen Risiken umgehen?
Das Umwelt- und Technikrecht setzt auf den Gedanken der Vorsorge. Statt Krisen zu bekämpfen, wenn sie aufgetreten sind, geht der Vorsorgestaat dazu über, die Situation zu verhindern, aus der heraus sie entstehen können. Freilich hat dieses Verfahren seinen Preis. Kritiker weisen darauf hin, daß es zu einer Erosion des bisherigen Leitbildes eines freiheitlichen Rechtsstaats führe. Potentiell jede Freiheitsbetätigung könne unter der Herrschaft des Vorsorgegedankens zum Anknüpfungspunkt einer staatlichen Maßnahme werden. Diesem Bedenken stellt sich keiner der Beiträge des Bandes. Daß die Autoren nicht einmal zu bemerken scheinen, welch einer weitreichenden Abwertung des herkömmlichen Rechtsstaatsverständnisses sie das Wort reden, stimmt nachdenklich. Die Ungesichertheit der tatsächlichen Beurteilungsgrundlagen bleibt auch unter der Herrschaft des Vorsorgegedankens bestehen. Zu seiner Entschärfung begnügen sich die meisten Autoren mit einem schlichten Rat: Man müsse mehr miteinander reden. Diese Empfehlung pflegt in einem ehrfurchtgebietenden terminologischen Panzer einherzukommen. So fordern Michael Schneider und Anton Lerf die Wissenschaftsgemeinschaft dazu auf, sich von "expertokratischen Mustern" abzuwenden und sich zu einer Haltung "reflexiver Forschung" zu bekehren. "Reflexiver Forschung" sei es eigen, daß sie "gezielt Laien, aber auch ,Seiteneinsteiger' und ,Querdenker'" an den forschungspolitischen Weichenstellungen beteilige. Willy Brandt wird bemüht: "Mehr Demokratie wagen" sei auch die Losung für institutionelles Lernen unter Bedingungen von Nichtwissen.
Der verantwortliche Umgang mit einem überkomplexen System wird nicht dadurch einfacher, daß Laien die Gelegenheit gegeben wird, ihre "lebensweltlichen Geltungsansprüche" zu artikulieren. Statt um eine Überwindung der "Expertokratie" kann es allenfalls um den Versuch einer Erschließung zusätzlichen Expertenwissens gehen. Ob eine weitere Ausweitung des Beratungswesens die Qualität der Entscheidungen verbessern würde, muß mit einem Fragezeichen versehen werden. Sicher ist nur, daß das politische System sich auf diesem Weg weitere Entscheidungsspielräume eröffnen könnte. Auf dem wachsenden Markt der Experten wird jeder Politiker den ihm genehmen Fachmann finden.
MICHAEL PAWLIK
Stefan Böschen, Michael Schneider, Anton Lerf (Hrsg.): "Handeln trotz Nichtwissen". Vom Umgang mit Chaos und Risiko in Politik, Industrie und Wissenschaft. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2004. 321 S., br., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wieder mehr Demokratie wagen: Ein Fluchthelfer aus der großen Runde der wissenden Berater
Das ist ein höchst nützliches Buch, in dem für jeden Wißbegierigen etwas drinsteht: für den allabendlichen Talkshow-Konsumenten wie für den regelmäßigen Biblotheksbenutzer und schließlich für die Mehrzahl derer, die beides zugleich sind. Denn das Problem von uns allen ist: Wir wissen immer mehr, und wir wissen immer weniger. Mit dem allgemeinen Wissen steigt auch das persönliche Nichtwissen. Deshalb verdient das Nichtwissen unter den Bedingungen heutiger Gesellschaften eine erhöhte Aufmerksamkeit.
Bernhard Gill verweist in seinem Buch auf die innerwissenschaftliche "Paradigmenkonkurrenz". Wissenschaftliche Theorien, populäre Wissensvermittlung und Weltanschauungen vervielfältigten sich und rivalisierten miteinander um Wahrheitsansprüche, Interpretationsspielräume und Reputation. Eine letztinstanzliche Entscheidung darüber, welche der unzähligen Modellannahmen der Wirklichkeit näher kämen als andere, sei unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich.
Weshalb aber sollte aus der Multiplizierung der Untersuchungsperspektiven ein prinzipielles Problem erwachsen? Häufig kann der einzelne Wissenschaftler sich damit begnügen, den fremden Standpunkt zu ignorieren. Der Aristoteliker hält den Naturbegriff des Physikers für dürftig, diesem erscheinen die Vorstellungen seines Kollegen von der Philosophischen Fakultät umgekehrt als überspannt. Beide wissen um die Existenz abweichender Standpunkte, dieses Wissen hindert sie aber nicht daran, in ihren gewohnten Bahnen weiterzuarbeiten. Die zweite Möglichkeit besteht darin, sich von den fremden Überlegungen anregen zu lassen.
Heikel wird es dort, wo eine Einzelwissenschaft ihren eigenen Erklärungsanspruch nicht überzeugend einzulösen vermag. Das naturwissenschaftliche Experiment beruht auf einer Strategie radikaler Vereinfachung. Um einen bestimmten Wirkungszusammenhang erforschen zu können, sucht der Experimentator sonstige Umwelteinflüsse nach Möglichkeit auszuschalten. Im Fall überkomplexer Systeme gerät dieses Verfahren an seine Grenzen. Wie Martin Scheringer erläutert, ist mit Überkomplexität gemeint, "daß die Menge der Faktoren, die ein bestimmtes Phänomen wie das Auftreten einer toxischen Wirkung beeinflussen, so groß und vielfältig ist, daß nicht konsequent - wie in idealisierten Systemen im Labor - zwischen relevanten Faktoren und ,Rauschen' unterschieden werden kann". Eingriffe in überkomplexe Systeme - das Musterbeispiel eines solchen ist das Umweltsystem - bergen deshalb Gefahren, die nicht durch ein Mehr an Forschung ausgeräumt werden können. Wie sollen moderne Gesellschaften mit derartigen Risiken umgehen?
Das Umwelt- und Technikrecht setzt auf den Gedanken der Vorsorge. Statt Krisen zu bekämpfen, wenn sie aufgetreten sind, geht der Vorsorgestaat dazu über, die Situation zu verhindern, aus der heraus sie entstehen können. Freilich hat dieses Verfahren seinen Preis. Kritiker weisen darauf hin, daß es zu einer Erosion des bisherigen Leitbildes eines freiheitlichen Rechtsstaats führe. Potentiell jede Freiheitsbetätigung könne unter der Herrschaft des Vorsorgegedankens zum Anknüpfungspunkt einer staatlichen Maßnahme werden. Diesem Bedenken stellt sich keiner der Beiträge des Bandes. Daß die Autoren nicht einmal zu bemerken scheinen, welch einer weitreichenden Abwertung des herkömmlichen Rechtsstaatsverständnisses sie das Wort reden, stimmt nachdenklich. Die Ungesichertheit der tatsächlichen Beurteilungsgrundlagen bleibt auch unter der Herrschaft des Vorsorgegedankens bestehen. Zu seiner Entschärfung begnügen sich die meisten Autoren mit einem schlichten Rat: Man müsse mehr miteinander reden. Diese Empfehlung pflegt in einem ehrfurchtgebietenden terminologischen Panzer einherzukommen. So fordern Michael Schneider und Anton Lerf die Wissenschaftsgemeinschaft dazu auf, sich von "expertokratischen Mustern" abzuwenden und sich zu einer Haltung "reflexiver Forschung" zu bekehren. "Reflexiver Forschung" sei es eigen, daß sie "gezielt Laien, aber auch ,Seiteneinsteiger' und ,Querdenker'" an den forschungspolitischen Weichenstellungen beteilige. Willy Brandt wird bemüht: "Mehr Demokratie wagen" sei auch die Losung für institutionelles Lernen unter Bedingungen von Nichtwissen.
Der verantwortliche Umgang mit einem überkomplexen System wird nicht dadurch einfacher, daß Laien die Gelegenheit gegeben wird, ihre "lebensweltlichen Geltungsansprüche" zu artikulieren. Statt um eine Überwindung der "Expertokratie" kann es allenfalls um den Versuch einer Erschließung zusätzlichen Expertenwissens gehen. Ob eine weitere Ausweitung des Beratungswesens die Qualität der Entscheidungen verbessern würde, muß mit einem Fragezeichen versehen werden. Sicher ist nur, daß das politische System sich auf diesem Weg weitere Entscheidungsspielräume eröffnen könnte. Auf dem wachsenden Markt der Experten wird jeder Politiker den ihm genehmen Fachmann finden.
MICHAEL PAWLIK
Stefan Böschen, Michael Schneider, Anton Lerf (Hrsg.): "Handeln trotz Nichtwissen". Vom Umgang mit Chaos und Risiko in Politik, Industrie und Wissenschaft. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2004. 321 S., br., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Je gründlicher die Welt erforscht wird, schreibt der "L. H." zeichnende Rezensent, umso deutlicher treten die Grenzen unseres Wissens zutage: Wo beginnt das menschliche Leben? Wie funktioniert unser Gehirn? Wer trägt die Schuld am BSE-Skandal? So sieht der Rezensent Ratlosigkeit und Verunsicherung um sich greifen, auf die der Band "Handeln trotz Nichtwissen" mit "klugen Selbstreflexionen" und "hilfreichen Fallstudien" aus der Umweltchemie, Genforschung und Nanotechnologie reagiert. Dabei werde deutlich, zitiert er die Herausgeber, "dass die Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen nicht mehr allein eine kognitive Angelegenheit ist, sondern längst auch eine soziale, also abhängig von der ökonomischen, politischen oder kulturellen Macht der Verhältnisse". Daher forderten die Herausgeber eine "Politik des (Nicht-)Wissens", die institutionelle Lernprozesse in Gang setze und dafür sorge, dass durch Leitbilder und Rahmenordnungen die Risiken wissenschaftlicher Forschung kontrollierbarer werden. Der Band ende mit einem Plädoyer für die "Besinnung" (Heidegger), die den "Raum der eigenen Ziele" in Frage stellen müsse, um für die Zukunft wieder sicheren Boden zum Handeln zu gewinnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Handeln trotz Nichtwissen
"Kluge Selbstreflexionen und hilfreiche Fallstudien aus der Umweltchemie, Genforschung und Nanotechnologie." (Neue Zürcher Zeitung, 15.02.2005)
Wer soll denn das noch alles verstehen?
"Ein höchst nützliches Buch, in dem für jeden Wißbegierigen etwas drinsteht." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.06.2005)
"Kluge Selbstreflexionen und hilfreiche Fallstudien aus der Umweltchemie, Genforschung und Nanotechnologie." (Neue Zürcher Zeitung, 15.02.2005)
Wer soll denn das noch alles verstehen?
"Ein höchst nützliches Buch, in dem für jeden Wißbegierigen etwas drinsteht." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.06.2005)