Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2001Und bist du nicht mächtig, so fürchte Gewalt
Tierischer Scharfsinn: Peter Stemmers minimalistische Moral ist nichts für schwache Menschen
Der Philosoph weiß: Moralisch sein ist keine Selbstverständlichkeit. Damit bezieht er sich nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie auf die einem jeden Menschen bekannte Tatsache, daß man vor den eigenen Verhaltensmaßstäben versagen und dadurch, in der Sprache einer bereits halbversunkenen Welt gesprochen, Schuld auf sich laden kann. Die Zweifel des Philosophen rühren tiefer; sie betreffen die Rationalität, die für die Kinder der Aufklärung gleichbedeutend ist mit der Legitimität jener Verhaltensmaßstäbe selber. Handelt rechtens, wer sich und anderen ein moralisches Leben abverlangt? Ist die Moral selber moralisch? In jeder Letztbegründungsfrage ist eine Paradoxie verborgen. Der Versuch, sie aufzulösen, heißt im herkömmlichen Verständnis Philosophie, und in der prinzipiellen Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens ist deren - je nach Perspektive - tragischer oder grotesker Charakter begründet.
Die Versuchung, auf die Paradoxie ihres Begründungsanspruchs mit der Abschaffung ihres Gegenstandes zu reagieren, begleitet die praktische Philosophie der Neuzeit seit ihrem Beginn. Thomas Hobbes, einer der Begründer des neuen Denkens, siedelte seinen Leviathan auf den Trümmern der aristotelischen Konzeption an, wonach der Mensch von Natur aus ein politisches Wesen ist. Dies hatte zur Folge, daß Hobbes erstmals nicht nur die Art und Weise der Ausübung politischer Herrschaft, sondern deren prinzipielle Berechtigung zum Gegenstand der philosophischen Reflexion machte.
Mit Hobbes' Lehre vom Naturzustand ging die theoretische Möglichkeit einher, in diesem Zustand zu verbleiben; auf diesem Weg etablierte der Souveränitätsdenker Hobbes den Anarchismus als prinzipielle Alternative zu der Existenz als Bürger. Der Naturzustand, so wie Hobbes ihn konzipiert, ist freilich nicht nur ein vorpolitischer, sondern auch ein vormoralischer Raum; die Frage nach Gut und Böse ist in ihm schlechthin sinnlos.
Der Naturzustand ist der Herkunftsort jener Gestalt aus der Tiefe, die Peter Stemmer, Professor für Philosophie in Konstanz, als den "moralischen Skeptiker" bezeichnet. Ihm als dem in den Kokon seiner eigenen Naturhaftigkeit eingesponnenen Amoralisten gegenüber die Legitimität moralischer Pflichten zu begründen ist die Aufgabe, die Stemmer sich in seinem Buch "Handeln zugunsten anderer" stellt. Diese Aufgabe erscheint, jedenfalls auf den ersten Blick, uneinlösbar: Woran glaubt, wer nicht glaubt? Woran hängt, wer seine Sach' auf nichts gestellt hat? Hobbes hatte geantwortet: Auch ein solcher Mensch hängt jedenfalls an seinem lieben Selbst. Ebenso wie jedes andere Tier strebt auch der Mensch nach Selbsterhaltung. Seinen Verstand stellt er bei Hobbes in den Dienst dieses Ziels. Der Staat wird zur Klugheitsveranstaltung, und dort, wo der Klugheit eine Pflicht zum Gehorsam nicht mehr plausibel gemacht werden kann - nach Verhängung der Todesstrafe, aber auch beim Kriegsdienst -, endet der Bereich legitimer Verpflichtungen und beginnt die Sphäre des nackten Zwanges.
Ähnlich wie Hobbes verfährt Stemmer. Auch sein "moralischer Skeptiker" ist ein kluges Tier, und Verbindlichkeiten übernimmt er, weil und soweit sie ihm nützen, genauer: soweit ihre Übernahme die notwendige Gegenleistung dafür darstellt, daß er seine eigenen basalen Interessen ohne Behinderung durch andere verfolgen kann. Damit reiht sich Stemmers Theorie der Moralbegründung in die Tradition des neuzeitlichen Vertragsdenkens ein. Der Vertrag ändert nicht die Natur der Vertragschließenden; er diszipliniert sie nur, indem er Sanktionen für den Fall des Zuwiderhandelns vorsieht. Bei Hobbes wie bei Stemmer wird die Logik der Natur nicht überformt, sie wird lediglich konsequent durchgeführt. Wie der Staat bei Hobbes, so ist das Reich der Moral bei Stemmer der mit großer Macht suspendierte Naturzustand. Moral ist Amoralität mit anderen Mitteln.
Die bei Hobbes wie bei Stemmer aus ihrem Dasein als Magd der Theologie entlassene Philosophie begibt sich unverzüglich aufs neue in Dienst, freilich bei einem weniger großen Herrn: Im Vergleich zum König der Herrlichkeit hat die Natur etwas ungemein Pöbelhaftes; in ihr zählt nicht Würde, sondern Macht. Macht aber kann nur durch Gegenmacht in Schach gehalten werden. Nur derjenige darf daher hoffen, einen anderen zur Unterlassung von Machtäußerungen bewegen zu können, der selbst eine Gegenmacht aufbieten kann, die der andere fürchten muß. Wem diese Macht fehlt, der scheidet insoweit als potentieller Vertragspartner aus.
Stemmer spricht diese Konsequenz in aller Klarheit aus: Die von ihm entworfene kontraktualistische Moral komme dort, wo es um die Verteilung materieller Güter gehe, nicht zu gerechten Verteilungsprinzipien und entsprechenden Eigentumsrechten. Distributive Gerechtigkeit ist eine moralische Chimäre. Wer seine Position im Spiel des Lebens nicht aus eigener Kraft verbessern könnte, dem verhilft auch die Moral nicht dazu. Und wer gar so schwach ist, daß niemand ihn fürchten braucht - etwa Ungeborene oder Kleinkinder -, der ist von vornherein nicht Mitglied der moralischen Gemeinschaft. Man darf über solche Aussagen nicht erschrecken. Die Konstruktion ist schlüssig. Erich Honecker hat es immer gewußt: Mehr läßt sich über die Regeln im Reich der Natur nicht sagen.
In einer moralischen Gemeinschaft, deren Vorrat an Gemeinsamkeiten so weit erschöpft ist, daß nur noch die Behandlung der Gemeinschaftsmitglieder als kluge Tiere Aussicht auf allgemeine Billigung besitzt, kann von Moral nur noch in einem äußerst reduzierten Umfang die Rede sein. Anspruchsvollere Forderungen haben ihr freilich stets von Erosion bedrohtes Refugium in den von Stemmer sogenannten regionalen oder Quasimoralen. Sie binden nur noch diejenigen, die sich von ihnen binden lassen wollen, und Außenstehenden läßt sich auf ihrer Basis lediglich ein verständnisloses "Ihr seid anders" entgegenhalten.
Daß die Wirklichkeit der gelebten Moralüberzeugungen der radikal reduktionistischen Konzeption Stemmers widerspricht, mag man, wozu der Rezensent neigt, als Zeichen von Unaufgeklärtheit abtun. Man kann diesen Befund freilich umgekehrt auch als Ansporn begreifen, die krude Metaphysik der Natur, die Stemmer mit erkennbarer Selbstzufriedenheit vor seinen Lesern ausbreitet, durch eine subtilere und anspruchsvollere Metaphysik des Geistes zu ersetzen. Was aus einer minimalistischen Position folgt, die Wolfgang Kersting als "waschechten Fundamentalismus der Moderne" und als das "moral- und sozialexorzistische Gegenstück der physikalischen Austreibung des Geistes" bezeichnet, hat Stemmer in eindrucksvoller und scharfsinniger Weise dargelegt. Daß dieser Position das letzte Wort gebührt, hat er nicht gezeigt.
MICHAEL PAWLIK
Peter Stemmer: "Handeln zugunsten anderer". Eine moralphilosophische Untersuchung. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, New York 2000. 392 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tierischer Scharfsinn: Peter Stemmers minimalistische Moral ist nichts für schwache Menschen
Der Philosoph weiß: Moralisch sein ist keine Selbstverständlichkeit. Damit bezieht er sich nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie auf die einem jeden Menschen bekannte Tatsache, daß man vor den eigenen Verhaltensmaßstäben versagen und dadurch, in der Sprache einer bereits halbversunkenen Welt gesprochen, Schuld auf sich laden kann. Die Zweifel des Philosophen rühren tiefer; sie betreffen die Rationalität, die für die Kinder der Aufklärung gleichbedeutend ist mit der Legitimität jener Verhaltensmaßstäbe selber. Handelt rechtens, wer sich und anderen ein moralisches Leben abverlangt? Ist die Moral selber moralisch? In jeder Letztbegründungsfrage ist eine Paradoxie verborgen. Der Versuch, sie aufzulösen, heißt im herkömmlichen Verständnis Philosophie, und in der prinzipiellen Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens ist deren - je nach Perspektive - tragischer oder grotesker Charakter begründet.
Die Versuchung, auf die Paradoxie ihres Begründungsanspruchs mit der Abschaffung ihres Gegenstandes zu reagieren, begleitet die praktische Philosophie der Neuzeit seit ihrem Beginn. Thomas Hobbes, einer der Begründer des neuen Denkens, siedelte seinen Leviathan auf den Trümmern der aristotelischen Konzeption an, wonach der Mensch von Natur aus ein politisches Wesen ist. Dies hatte zur Folge, daß Hobbes erstmals nicht nur die Art und Weise der Ausübung politischer Herrschaft, sondern deren prinzipielle Berechtigung zum Gegenstand der philosophischen Reflexion machte.
Mit Hobbes' Lehre vom Naturzustand ging die theoretische Möglichkeit einher, in diesem Zustand zu verbleiben; auf diesem Weg etablierte der Souveränitätsdenker Hobbes den Anarchismus als prinzipielle Alternative zu der Existenz als Bürger. Der Naturzustand, so wie Hobbes ihn konzipiert, ist freilich nicht nur ein vorpolitischer, sondern auch ein vormoralischer Raum; die Frage nach Gut und Böse ist in ihm schlechthin sinnlos.
Der Naturzustand ist der Herkunftsort jener Gestalt aus der Tiefe, die Peter Stemmer, Professor für Philosophie in Konstanz, als den "moralischen Skeptiker" bezeichnet. Ihm als dem in den Kokon seiner eigenen Naturhaftigkeit eingesponnenen Amoralisten gegenüber die Legitimität moralischer Pflichten zu begründen ist die Aufgabe, die Stemmer sich in seinem Buch "Handeln zugunsten anderer" stellt. Diese Aufgabe erscheint, jedenfalls auf den ersten Blick, uneinlösbar: Woran glaubt, wer nicht glaubt? Woran hängt, wer seine Sach' auf nichts gestellt hat? Hobbes hatte geantwortet: Auch ein solcher Mensch hängt jedenfalls an seinem lieben Selbst. Ebenso wie jedes andere Tier strebt auch der Mensch nach Selbsterhaltung. Seinen Verstand stellt er bei Hobbes in den Dienst dieses Ziels. Der Staat wird zur Klugheitsveranstaltung, und dort, wo der Klugheit eine Pflicht zum Gehorsam nicht mehr plausibel gemacht werden kann - nach Verhängung der Todesstrafe, aber auch beim Kriegsdienst -, endet der Bereich legitimer Verpflichtungen und beginnt die Sphäre des nackten Zwanges.
Ähnlich wie Hobbes verfährt Stemmer. Auch sein "moralischer Skeptiker" ist ein kluges Tier, und Verbindlichkeiten übernimmt er, weil und soweit sie ihm nützen, genauer: soweit ihre Übernahme die notwendige Gegenleistung dafür darstellt, daß er seine eigenen basalen Interessen ohne Behinderung durch andere verfolgen kann. Damit reiht sich Stemmers Theorie der Moralbegründung in die Tradition des neuzeitlichen Vertragsdenkens ein. Der Vertrag ändert nicht die Natur der Vertragschließenden; er diszipliniert sie nur, indem er Sanktionen für den Fall des Zuwiderhandelns vorsieht. Bei Hobbes wie bei Stemmer wird die Logik der Natur nicht überformt, sie wird lediglich konsequent durchgeführt. Wie der Staat bei Hobbes, so ist das Reich der Moral bei Stemmer der mit großer Macht suspendierte Naturzustand. Moral ist Amoralität mit anderen Mitteln.
Die bei Hobbes wie bei Stemmer aus ihrem Dasein als Magd der Theologie entlassene Philosophie begibt sich unverzüglich aufs neue in Dienst, freilich bei einem weniger großen Herrn: Im Vergleich zum König der Herrlichkeit hat die Natur etwas ungemein Pöbelhaftes; in ihr zählt nicht Würde, sondern Macht. Macht aber kann nur durch Gegenmacht in Schach gehalten werden. Nur derjenige darf daher hoffen, einen anderen zur Unterlassung von Machtäußerungen bewegen zu können, der selbst eine Gegenmacht aufbieten kann, die der andere fürchten muß. Wem diese Macht fehlt, der scheidet insoweit als potentieller Vertragspartner aus.
Stemmer spricht diese Konsequenz in aller Klarheit aus: Die von ihm entworfene kontraktualistische Moral komme dort, wo es um die Verteilung materieller Güter gehe, nicht zu gerechten Verteilungsprinzipien und entsprechenden Eigentumsrechten. Distributive Gerechtigkeit ist eine moralische Chimäre. Wer seine Position im Spiel des Lebens nicht aus eigener Kraft verbessern könnte, dem verhilft auch die Moral nicht dazu. Und wer gar so schwach ist, daß niemand ihn fürchten braucht - etwa Ungeborene oder Kleinkinder -, der ist von vornherein nicht Mitglied der moralischen Gemeinschaft. Man darf über solche Aussagen nicht erschrecken. Die Konstruktion ist schlüssig. Erich Honecker hat es immer gewußt: Mehr läßt sich über die Regeln im Reich der Natur nicht sagen.
In einer moralischen Gemeinschaft, deren Vorrat an Gemeinsamkeiten so weit erschöpft ist, daß nur noch die Behandlung der Gemeinschaftsmitglieder als kluge Tiere Aussicht auf allgemeine Billigung besitzt, kann von Moral nur noch in einem äußerst reduzierten Umfang die Rede sein. Anspruchsvollere Forderungen haben ihr freilich stets von Erosion bedrohtes Refugium in den von Stemmer sogenannten regionalen oder Quasimoralen. Sie binden nur noch diejenigen, die sich von ihnen binden lassen wollen, und Außenstehenden läßt sich auf ihrer Basis lediglich ein verständnisloses "Ihr seid anders" entgegenhalten.
Daß die Wirklichkeit der gelebten Moralüberzeugungen der radikal reduktionistischen Konzeption Stemmers widerspricht, mag man, wozu der Rezensent neigt, als Zeichen von Unaufgeklärtheit abtun. Man kann diesen Befund freilich umgekehrt auch als Ansporn begreifen, die krude Metaphysik der Natur, die Stemmer mit erkennbarer Selbstzufriedenheit vor seinen Lesern ausbreitet, durch eine subtilere und anspruchsvollere Metaphysik des Geistes zu ersetzen. Was aus einer minimalistischen Position folgt, die Wolfgang Kersting als "waschechten Fundamentalismus der Moderne" und als das "moral- und sozialexorzistische Gegenstück der physikalischen Austreibung des Geistes" bezeichnet, hat Stemmer in eindrucksvoller und scharfsinniger Weise dargelegt. Daß dieser Position das letzte Wort gebührt, hat er nicht gezeigt.
MICHAEL PAWLIK
Peter Stemmer: "Handeln zugunsten anderer". Eine moralphilosophische Untersuchung. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, New York 2000. 392 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Michael Pawlik weist zuerst auf die Paradoxie der moralischen Letztbegründungen hin (Ist Moral selbst moralisch?), um dann auf Hobbes zu sprechen zu kommen. Pawlik vergleicht dessen Entwicklung eines Kontraktualismus aus dem Naturzustand mit der Position Stemmers, der sich in seiner Moralbegründung in die Tradition des neuzeitlichen Vertragsdenkens einreihe. Wie Hobbes führe er die Logik der Natur konsequent durch, was den Rezensenten zu der Pointierung "Moral ist Amoraliät mit anderen Mitteln" anregt. Pawlik weist darauf hin, dass Stemmer sich bewusst ist, dass sein Kontraktualismus nicht zu einer Verteilungsgerechtigkeit materieller Güter führen könne - wer nicht in der Lage sei, seine Position nicht aus eigener Kraft zu verbessern, dem helfe auch keine Moral dazu. Der Rezensent weist auf die Probleme dieser radikal reduktionistischen Konzeption - mit der er im Ganzen jedoch sympathisiert - und auf eine kritische Bemerkung Wolfgang Kerstings hin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH