»Die außerordentlich seltenen Menschen hängen von der Zeit ab. Nicht alle haben die gefunden, deren sie würdig waren, und viele fanden sie zwar, konnten aber doch nicht dahin gelangen, sie zu nutzen. Einige waren eines bessern Jahrhunderts wert; denn nicht immer triumphiert jedes Gute. Die Dinge haben ihre Periode und sogar die höchsten Eigenschaften sind der Mode unterworfen. Der Weise hat jedoch einen Vorteil, den, daß er unsterblich ist: ist dieses nicht sein Jahrhundert, so werden viele andere es sein.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2020Leben im Dschungel
Also wie bei Hofe: Baltasar Gracián neu übersetzt
Manchem ist Literatur die bessere Psychologie: Sucht man treffende Darstellungen und Untersuchungen dessen, was im Kopf der Menschen an Banalem und Verrücktem geschieht, dann wird man in den psychologischen und Bewusstseinsromanen der Moderne leicht fündig. Die Wurzeln literarischer Psychokompetenz allerdings reichen weit zurück: Einer der Hauptstränge führt in die Überlegungen zum Hofmann oder in die Moralistik, die im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in Italien, Spanien und dann in Frankreich ihre Blüte erlebten: Hier wurden ein Verständnis des Menschen und das passende sprachliche Analysewerkzeug geformt, das noch den großen Modernen Nietzsche und Flaubert diente.
Baltasar Graciáns "Handorakel" (1647) ist ein herausragendes Werk dieser Zeit. Es ist eine Art spanischer "Hofmann", mit dem Unterschied, dass die höfischen Unterhaltungen seines Namensvetters Castiglione nun Aphorismen gewichen sind, kurzen, abstrakten Einlassungen von schneidender Brillanz; anders als die Analysen der französischen Moralisten beginnen sie mit einer Handlungsanweisung. Aber wie Castiglione und später Nicolas Faret will der Jesuit Gracián (1601 bis 1658) den Leser rein weltlich unterweisen und ihm zu Erfolg bei den Mächtigen - sprich: bei Hofe - verhelfen.
Die Basiszutaten hierfür sind rasch benannt: Mit kühlem Verstand muss man Schein und Sein trennen, die Konkurrenz durchschauen und sich selbst klug bedeckt halten. Das Handeln ist bestimmt vom Versuch, andere in Abhängigkeit zu bringen und sich Macht zu sichern. Denn das Leben in Gesellschaft ist ein Dschungel: "Eine Schlacht ist das Leben des Menschen gegen das Schlechte im Menschen. Es kämpft der Scharfsinn mit Strategien der Absicht", so programmatisch der dreizehnte Aphorismus. Gracián versteht es, den Ausgangsgedanken stilistische Prägnanz und intellektuelle Komplexität zu verleihen. Er fährt fort: "Wenn Verstellung ihre Kunst durchschaut sieht, wird sie stärker und versucht, mit der Wahrheit selbst zu täuschen; sie stellt ihr Spiel um, indem sie ihre List umstellt und das nicht Fingierte fingiert erscheinen lässt, also die Finte in der größten Aufrichtigkeit begründet." Wir tauchen ein ins Spiel der doppelten Böden. Manche Überlegung treibt Gracián auf eine paradoxe Pointe, etwa wenn er Großzügigkeit als Verpflichtungsstrategie deutet: "Wahr ist, dass für den Geizhals die Großzügigkeit Kauderwelsch ist, denn er versteht nicht die Bedingungen der guten Bedingung."
Die Beobachtungen und Ratschläge der dreihundert Aphorismen sind abstrakt: Man kann sie leicht in andere Situationen übertragen. So konnte eine englische Übersetzung 1992 in Amerika zum Verkaufsschlager werden, als Lebensratgeber vom Schlag "Machiavelli für Manager". In Deutschland nutzt man seit je Arthur Schopenhauers Übersetzung, nach seinem Tod 1862 veröffentlicht; spätere Ausgaben bauen darauf auf. Nun übersetzt mit Hans Ulrich Gumbrecht ein prominenter Romanist den Text neu: Das ist insofern naheliegend, als ein Schwachpunkt Schopenhauers sprachlich-stilistische Ferne ist - die überbrückt Gumbrecht, ohne die intellektuelle Nähe einzubüßen, die Schopenhauer auszeichnet.
Ein besonderes Verdienst Gumbrechts ist, dass er, dem Perspektivendenken des Schopenhauer-Nachfolgers Nietzsche treu, das Prozesshafte herausstellt: Gracián beleuchtet Sachverhalte von mehreren Seiten, kommt je nach Blickwinkel zu unterschiedlichen Schlüssen; diese systematisieren zu wollen wäre eine Gefahr. Die zweite Gefahr für die Heutigen ist, das "Handorakel" als aufklärerische Kritik am gesellschaftlichen Schein zu verstehen: Er wird zwar entlarvt, aber sein Nutzen wird auch gelobt. Widersprüchlichkeit ohne Zynismus: "Großer Scharfsinn, aber besser wäre es, ihn zu verstehen und die Narrheit wieder umzukehren, um jedem seine Ehre zurückzugeben und ihn seinen Nutzen ziehen zu lassen." Gracián steht zu moralischen Werten. Die Facetten der Wahrheit ergeben ein komplexes Gebilde, das den Wunsch nach immer neuen Deutungen weckt - und das ist gut so, denn "wo der Wunsch endet, beginnt die Angst".
NIKLAS BENDER
Baltasar Gracián:
"Handorakel und Kunst der Weltklugheit".
Aus dem Spanischen von Hans Ulrich Gumbrecht. Reclam Verlag, Ditzingen 2020. 302 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Also wie bei Hofe: Baltasar Gracián neu übersetzt
Manchem ist Literatur die bessere Psychologie: Sucht man treffende Darstellungen und Untersuchungen dessen, was im Kopf der Menschen an Banalem und Verrücktem geschieht, dann wird man in den psychologischen und Bewusstseinsromanen der Moderne leicht fündig. Die Wurzeln literarischer Psychokompetenz allerdings reichen weit zurück: Einer der Hauptstränge führt in die Überlegungen zum Hofmann oder in die Moralistik, die im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in Italien, Spanien und dann in Frankreich ihre Blüte erlebten: Hier wurden ein Verständnis des Menschen und das passende sprachliche Analysewerkzeug geformt, das noch den großen Modernen Nietzsche und Flaubert diente.
Baltasar Graciáns "Handorakel" (1647) ist ein herausragendes Werk dieser Zeit. Es ist eine Art spanischer "Hofmann", mit dem Unterschied, dass die höfischen Unterhaltungen seines Namensvetters Castiglione nun Aphorismen gewichen sind, kurzen, abstrakten Einlassungen von schneidender Brillanz; anders als die Analysen der französischen Moralisten beginnen sie mit einer Handlungsanweisung. Aber wie Castiglione und später Nicolas Faret will der Jesuit Gracián (1601 bis 1658) den Leser rein weltlich unterweisen und ihm zu Erfolg bei den Mächtigen - sprich: bei Hofe - verhelfen.
Die Basiszutaten hierfür sind rasch benannt: Mit kühlem Verstand muss man Schein und Sein trennen, die Konkurrenz durchschauen und sich selbst klug bedeckt halten. Das Handeln ist bestimmt vom Versuch, andere in Abhängigkeit zu bringen und sich Macht zu sichern. Denn das Leben in Gesellschaft ist ein Dschungel: "Eine Schlacht ist das Leben des Menschen gegen das Schlechte im Menschen. Es kämpft der Scharfsinn mit Strategien der Absicht", so programmatisch der dreizehnte Aphorismus. Gracián versteht es, den Ausgangsgedanken stilistische Prägnanz und intellektuelle Komplexität zu verleihen. Er fährt fort: "Wenn Verstellung ihre Kunst durchschaut sieht, wird sie stärker und versucht, mit der Wahrheit selbst zu täuschen; sie stellt ihr Spiel um, indem sie ihre List umstellt und das nicht Fingierte fingiert erscheinen lässt, also die Finte in der größten Aufrichtigkeit begründet." Wir tauchen ein ins Spiel der doppelten Böden. Manche Überlegung treibt Gracián auf eine paradoxe Pointe, etwa wenn er Großzügigkeit als Verpflichtungsstrategie deutet: "Wahr ist, dass für den Geizhals die Großzügigkeit Kauderwelsch ist, denn er versteht nicht die Bedingungen der guten Bedingung."
Die Beobachtungen und Ratschläge der dreihundert Aphorismen sind abstrakt: Man kann sie leicht in andere Situationen übertragen. So konnte eine englische Übersetzung 1992 in Amerika zum Verkaufsschlager werden, als Lebensratgeber vom Schlag "Machiavelli für Manager". In Deutschland nutzt man seit je Arthur Schopenhauers Übersetzung, nach seinem Tod 1862 veröffentlicht; spätere Ausgaben bauen darauf auf. Nun übersetzt mit Hans Ulrich Gumbrecht ein prominenter Romanist den Text neu: Das ist insofern naheliegend, als ein Schwachpunkt Schopenhauers sprachlich-stilistische Ferne ist - die überbrückt Gumbrecht, ohne die intellektuelle Nähe einzubüßen, die Schopenhauer auszeichnet.
Ein besonderes Verdienst Gumbrechts ist, dass er, dem Perspektivendenken des Schopenhauer-Nachfolgers Nietzsche treu, das Prozesshafte herausstellt: Gracián beleuchtet Sachverhalte von mehreren Seiten, kommt je nach Blickwinkel zu unterschiedlichen Schlüssen; diese systematisieren zu wollen wäre eine Gefahr. Die zweite Gefahr für die Heutigen ist, das "Handorakel" als aufklärerische Kritik am gesellschaftlichen Schein zu verstehen: Er wird zwar entlarvt, aber sein Nutzen wird auch gelobt. Widersprüchlichkeit ohne Zynismus: "Großer Scharfsinn, aber besser wäre es, ihn zu verstehen und die Narrheit wieder umzukehren, um jedem seine Ehre zurückzugeben und ihn seinen Nutzen ziehen zu lassen." Gracián steht zu moralischen Werten. Die Facetten der Wahrheit ergeben ein komplexes Gebilde, das den Wunsch nach immer neuen Deutungen weckt - und das ist gut so, denn "wo der Wunsch endet, beginnt die Angst".
NIKLAS BENDER
Baltasar Gracián:
"Handorakel und Kunst der Weltklugheit".
Aus dem Spanischen von Hans Ulrich Gumbrecht. Reclam Verlag, Ditzingen 2020. 302 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eine sorgfältige Ausgabe der erst eigentlich durch Schopenhauer in ihrer philosophischen Bedeutung erkannten Schrift. Das Nachwort bringt Kurzbiographie und Werkverzeichnis zu Gracián, zeigt die Hauptlinien der für ihn charakteristischen Einflüsse auf und bestimmt den ideengeschichtlichen Ort des Werkes. Besonders hilfreich ist Hübschers prägnante Beschreibung der Graciánschen, von Schopenhauer bewunderten Klugheitslehre." -- Schopenhauer-Jahrbuch
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Leander Scholz empfiehlt Hans Ulrich Gumbrechts Neubersetzung von Baltasar Gracians Ratgeber aller Ratgeber. Der Schopenhauerschen Fassung eilt Gumbrecht laut Scholz mit dem Wunsch davon beziehungsweise voraus, die ursprüngliche Sperrigkeit wiederherzustellen. Dergestalt bietet der Band Scholz nicht unbedingt eingängige Lektüre, jedoch eine, die den historischen Abstand bisweilen vergessen lässt. Was der Autor 1647 an Ratschlägen zur Lebensführung bei Hofe notiert, findet Scholz schließlich auch für die Gegenwart praktikabel. Dass wir es nicht mit einer höheren Ordnung zu tun haben, sondern nur mit Zufällen und Situationen, wie Gracian feststellt, wer würde das nicht mit Blick aufs Heute auch zugeben wollen, fragt Scholz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Diese Aphorismen, hinreißend neu übersetzt von Hans Ulrich Gumbrecht, sind 350 Jahre alt. Gerade heute, wo Nähe und Distanz ununterscheidbar sind, unentbehrlich.« Die Literarische WELT, 10.10.2020 »Wer das Leben verstehen will, muss dieses Buch von 1647 lesen - in glänzender Neuübersetzung« DIE ZEIT, 19.11.2020 »Um sowohl den Sog einer unterkomplexen 'politischen Korrektheit' als auch die Gefahren eines vereinfachenden 'Populismus' zu vermeiden, soll das 'Handorakel' zum Umgang mit der Unübersichtlichkeit anleiten. Dazu leistet die Neuübersetzung von Hans Ulrich Gumbrecht einen beeindruckenden Beitrag. Denn in sprachlicher Hinsicht ist das 'Handorakel' dadurch noch einmal deutlich anspruchsvoller geworden.« Deutschlandfunk »Büchermarkt«, 06.12.2020 »Sagen wir es unumwunden: Die neue Übersetzung des 'Handorakels' ist ein Glücksfall sondergleichen, in jedem einzelnen Paragrafen.« DIE ZEIT, 03.12.2020 »Wie der Zufall (oder die Vorhersehung) es will, ist soeben Baltasar Graciáns'Handorakel und Kunst der Weltklugheit' in neuer Übersetzung (von Hans Ulrich Gumbrecht) erschienen. Die Aphorismensammlung des Jesuitenpredigers aus dem 17. Jahrhundert diente schon dem spanischen König Philipp IV. als Lebens- und Herrschaftshilfe, und auch Donald Trump hätte gut daran getan, öfter mal einen Blick in das schmale Buch zu werfen.« Cicero, 19.11.2020