Von Arthur Schopenhauer schon 1862 kongenial übertragen, ist dieses Handbuch mit Abstand der beste und der berühmteste Lebensratgeber der Weltliteratur. Gracián war ein Meister der intelligenten Einsicht und pointierten Formulierung. Die 300 Denksprüche seiner überaus erfolgreichen »Schule der Weltklugheit« erklären, wie man sich in einer damals wie heute immer komplizierter werdenden Welt behauptet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2020Leben im Dschungel
Also wie bei Hofe: Baltasar Gracián neu übersetzt
Manchem ist Literatur die bessere Psychologie: Sucht man treffende Darstellungen und Untersuchungen dessen, was im Kopf der Menschen an Banalem und Verrücktem geschieht, dann wird man in den psychologischen und Bewusstseinsromanen der Moderne leicht fündig. Die Wurzeln literarischer Psychokompetenz allerdings reichen weit zurück: Einer der Hauptstränge führt in die Überlegungen zum Hofmann oder in die Moralistik, die im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in Italien, Spanien und dann in Frankreich ihre Blüte erlebten: Hier wurden ein Verständnis des Menschen und das passende sprachliche Analysewerkzeug geformt, das noch den großen Modernen Nietzsche und Flaubert diente.
Baltasar Graciáns "Handorakel" (1647) ist ein herausragendes Werk dieser Zeit. Es ist eine Art spanischer "Hofmann", mit dem Unterschied, dass die höfischen Unterhaltungen seines Namensvetters Castiglione nun Aphorismen gewichen sind, kurzen, abstrakten Einlassungen von schneidender Brillanz; anders als die Analysen der französischen Moralisten beginnen sie mit einer Handlungsanweisung. Aber wie Castiglione und später Nicolas Faret will der Jesuit Gracián (1601 bis 1658) den Leser rein weltlich unterweisen und ihm zu Erfolg bei den Mächtigen - sprich: bei Hofe - verhelfen.
Die Basiszutaten hierfür sind rasch benannt: Mit kühlem Verstand muss man Schein und Sein trennen, die Konkurrenz durchschauen und sich selbst klug bedeckt halten. Das Handeln ist bestimmt vom Versuch, andere in Abhängigkeit zu bringen und sich Macht zu sichern. Denn das Leben in Gesellschaft ist ein Dschungel: "Eine Schlacht ist das Leben des Menschen gegen das Schlechte im Menschen. Es kämpft der Scharfsinn mit Strategien der Absicht", so programmatisch der dreizehnte Aphorismus. Gracián versteht es, den Ausgangsgedanken stilistische Prägnanz und intellektuelle Komplexität zu verleihen. Er fährt fort: "Wenn Verstellung ihre Kunst durchschaut sieht, wird sie stärker und versucht, mit der Wahrheit selbst zu täuschen; sie stellt ihr Spiel um, indem sie ihre List umstellt und das nicht Fingierte fingiert erscheinen lässt, also die Finte in der größten Aufrichtigkeit begründet." Wir tauchen ein ins Spiel der doppelten Böden. Manche Überlegung treibt Gracián auf eine paradoxe Pointe, etwa wenn er Großzügigkeit als Verpflichtungsstrategie deutet: "Wahr ist, dass für den Geizhals die Großzügigkeit Kauderwelsch ist, denn er versteht nicht die Bedingungen der guten Bedingung."
Die Beobachtungen und Ratschläge der dreihundert Aphorismen sind abstrakt: Man kann sie leicht in andere Situationen übertragen. So konnte eine englische Übersetzung 1992 in Amerika zum Verkaufsschlager werden, als Lebensratgeber vom Schlag "Machiavelli für Manager". In Deutschland nutzt man seit je Arthur Schopenhauers Übersetzung, nach seinem Tod 1862 veröffentlicht; spätere Ausgaben bauen darauf auf. Nun übersetzt mit Hans Ulrich Gumbrecht ein prominenter Romanist den Text neu: Das ist insofern naheliegend, als ein Schwachpunkt Schopenhauers sprachlich-stilistische Ferne ist - die überbrückt Gumbrecht, ohne die intellektuelle Nähe einzubüßen, die Schopenhauer auszeichnet.
Ein besonderes Verdienst Gumbrechts ist, dass er, dem Perspektivendenken des Schopenhauer-Nachfolgers Nietzsche treu, das Prozesshafte herausstellt: Gracián beleuchtet Sachverhalte von mehreren Seiten, kommt je nach Blickwinkel zu unterschiedlichen Schlüssen; diese systematisieren zu wollen wäre eine Gefahr. Die zweite Gefahr für die Heutigen ist, das "Handorakel" als aufklärerische Kritik am gesellschaftlichen Schein zu verstehen: Er wird zwar entlarvt, aber sein Nutzen wird auch gelobt. Widersprüchlichkeit ohne Zynismus: "Großer Scharfsinn, aber besser wäre es, ihn zu verstehen und die Narrheit wieder umzukehren, um jedem seine Ehre zurückzugeben und ihn seinen Nutzen ziehen zu lassen." Gracián steht zu moralischen Werten. Die Facetten der Wahrheit ergeben ein komplexes Gebilde, das den Wunsch nach immer neuen Deutungen weckt - und das ist gut so, denn "wo der Wunsch endet, beginnt die Angst".
NIKLAS BENDER
Baltasar Gracián:
"Handorakel und Kunst der Weltklugheit".
Aus dem Spanischen von Hans Ulrich Gumbrecht. Reclam Verlag, Ditzingen 2020. 302 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Also wie bei Hofe: Baltasar Gracián neu übersetzt
Manchem ist Literatur die bessere Psychologie: Sucht man treffende Darstellungen und Untersuchungen dessen, was im Kopf der Menschen an Banalem und Verrücktem geschieht, dann wird man in den psychologischen und Bewusstseinsromanen der Moderne leicht fündig. Die Wurzeln literarischer Psychokompetenz allerdings reichen weit zurück: Einer der Hauptstränge führt in die Überlegungen zum Hofmann oder in die Moralistik, die im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in Italien, Spanien und dann in Frankreich ihre Blüte erlebten: Hier wurden ein Verständnis des Menschen und das passende sprachliche Analysewerkzeug geformt, das noch den großen Modernen Nietzsche und Flaubert diente.
Baltasar Graciáns "Handorakel" (1647) ist ein herausragendes Werk dieser Zeit. Es ist eine Art spanischer "Hofmann", mit dem Unterschied, dass die höfischen Unterhaltungen seines Namensvetters Castiglione nun Aphorismen gewichen sind, kurzen, abstrakten Einlassungen von schneidender Brillanz; anders als die Analysen der französischen Moralisten beginnen sie mit einer Handlungsanweisung. Aber wie Castiglione und später Nicolas Faret will der Jesuit Gracián (1601 bis 1658) den Leser rein weltlich unterweisen und ihm zu Erfolg bei den Mächtigen - sprich: bei Hofe - verhelfen.
Die Basiszutaten hierfür sind rasch benannt: Mit kühlem Verstand muss man Schein und Sein trennen, die Konkurrenz durchschauen und sich selbst klug bedeckt halten. Das Handeln ist bestimmt vom Versuch, andere in Abhängigkeit zu bringen und sich Macht zu sichern. Denn das Leben in Gesellschaft ist ein Dschungel: "Eine Schlacht ist das Leben des Menschen gegen das Schlechte im Menschen. Es kämpft der Scharfsinn mit Strategien der Absicht", so programmatisch der dreizehnte Aphorismus. Gracián versteht es, den Ausgangsgedanken stilistische Prägnanz und intellektuelle Komplexität zu verleihen. Er fährt fort: "Wenn Verstellung ihre Kunst durchschaut sieht, wird sie stärker und versucht, mit der Wahrheit selbst zu täuschen; sie stellt ihr Spiel um, indem sie ihre List umstellt und das nicht Fingierte fingiert erscheinen lässt, also die Finte in der größten Aufrichtigkeit begründet." Wir tauchen ein ins Spiel der doppelten Böden. Manche Überlegung treibt Gracián auf eine paradoxe Pointe, etwa wenn er Großzügigkeit als Verpflichtungsstrategie deutet: "Wahr ist, dass für den Geizhals die Großzügigkeit Kauderwelsch ist, denn er versteht nicht die Bedingungen der guten Bedingung."
Die Beobachtungen und Ratschläge der dreihundert Aphorismen sind abstrakt: Man kann sie leicht in andere Situationen übertragen. So konnte eine englische Übersetzung 1992 in Amerika zum Verkaufsschlager werden, als Lebensratgeber vom Schlag "Machiavelli für Manager". In Deutschland nutzt man seit je Arthur Schopenhauers Übersetzung, nach seinem Tod 1862 veröffentlicht; spätere Ausgaben bauen darauf auf. Nun übersetzt mit Hans Ulrich Gumbrecht ein prominenter Romanist den Text neu: Das ist insofern naheliegend, als ein Schwachpunkt Schopenhauers sprachlich-stilistische Ferne ist - die überbrückt Gumbrecht, ohne die intellektuelle Nähe einzubüßen, die Schopenhauer auszeichnet.
Ein besonderes Verdienst Gumbrechts ist, dass er, dem Perspektivendenken des Schopenhauer-Nachfolgers Nietzsche treu, das Prozesshafte herausstellt: Gracián beleuchtet Sachverhalte von mehreren Seiten, kommt je nach Blickwinkel zu unterschiedlichen Schlüssen; diese systematisieren zu wollen wäre eine Gefahr. Die zweite Gefahr für die Heutigen ist, das "Handorakel" als aufklärerische Kritik am gesellschaftlichen Schein zu verstehen: Er wird zwar entlarvt, aber sein Nutzen wird auch gelobt. Widersprüchlichkeit ohne Zynismus: "Großer Scharfsinn, aber besser wäre es, ihn zu verstehen und die Narrheit wieder umzukehren, um jedem seine Ehre zurückzugeben und ihn seinen Nutzen ziehen zu lassen." Gracián steht zu moralischen Werten. Die Facetten der Wahrheit ergeben ein komplexes Gebilde, das den Wunsch nach immer neuen Deutungen weckt - und das ist gut so, denn "wo der Wunsch endet, beginnt die Angst".
NIKLAS BENDER
Baltasar Gracián:
"Handorakel und Kunst der Weltklugheit".
Aus dem Spanischen von Hans Ulrich Gumbrecht. Reclam Verlag, Ditzingen 2020. 302 S., geb., 25,- [Euro].
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