Über welche Möglichkeiten verfügt unter den gegenwärtigen Bedingungen ein Schriftsteller zum Eingreifen in den Lauf der Dinge? Ein mit allen literarischen Traditionen vertrauter Volker Braun bedient sich der bewährten Prosaformen, um diesem Zweck näherzukommen: Aphorismen, Dialogfetzen, Zitaten. In seiner Werkstatt entstehen Träume, Rätselhaftes, eigensinnige Wahrheiten, Beobachtungen zum schreibenden und fühlenden Ich und zur Welt.
Solche handstreichartigen Überfälle erfolgen in der Schelmenperspektive: Der Schelm gründet sein Denken und Handeln auf den plebejischen Umgang mit den Dingen, ungehobelte Einsprüche, Angriffe und Verteidigungen, Burlesken, Handgriffe, Fingerzeige, Rippenstöße.
Solche handstreichartigen Überfälle erfolgen in der Schelmenperspektive: Der Schelm gründet sein Denken und Handeln auf den plebejischen Umgang mit den Dingen, ungehobelte Einsprüche, Angriffe und Verteidigungen, Burlesken, Handgriffe, Fingerzeige, Rippenstöße.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2019Dieses Leben muss man verprassen
Ohne Hoffnung, aber nicht aus Prinzip: Zum 80. Geburtstag von Volker Braun erscheint ein Band mit Aphorismen, Dialogen und Traumprotokollen.
Es gibt Beispiele für die Wirkungsmacht von Literatur, die den jeweiligen Autoren vermutlich alles andere als recht sind. Ein solcher Fall, auch wenn er erst später davon erfuhr, war schon Mitte der siebziger Jahre Volker Braun. Im Jahr 1975 veröffentlichte die Zeitschrift "Sinn und Form" seine Novelle "Unvollendete Geschichte", zwei Jahre später erschien sie im Westen als Buch bei Suhrkamp. Die Geschichte von der Funktionärstochter Karin, deren persönliche Glücksansprüche sie in einen Loyalitätskonflikt mit dem Staat DDR bringen, dessen Kind und gläubige Anhängerin sie ist, beruht auf einem authentischen Fall, der Braun von einer jungen Frau erzählt wurde, die sich später selbst als IM herausstellte. Sie ist aber auch ein Spiegelbild des Loyalitätskonflikts, den ihr Autor spätestens seit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 mit seinem Staat hatte, noch über dessen Untergang hinaus.
Neun Stasioffiziere und zweiunddreißig inoffizielle beziehungsweise "gesellschaftliche" Mitarbeiter beschäftigten sich seit 1975 mit dem Dramatiker, Lyriker und Erzähler Volker Braun. Der war qua Biographie eigentlich der Wunschkandidat für einen Schriftsteller, wie die SED ihn sich vorstellte: mit "Erfahrungen in der Produktion" (Gaskombinat Schwarze Pumpe), seit 1960 Parteimitglied und dazu im Unterschied zu manchem seiner Kollegen mit einem großen und reichhaltigen Talent als Lyriker, Dramatiker und Erzähler gesegnet. Die "Unvollendete Geschichte" liest sich noch heute in ihrem atemlosen Tempo und ihrem sprachlichen Zugriff, als habe der wiedergeborene Kleist sie geschrieben.
Braun, der in den sechziger Jahren auf Einladung Helene Weigels zwei Jahre als Dramaturg am Berliner Ensemble arbeitete, verstand sich als politischer Autor in der Nachfolge Brechts. Das musste zwangsläufig den Argwohn seines Staates und der Partei hervorrufen, deren Mitglied er war. Gleichzeitig hatte dieser Staat, wie später zu erfahren war, eine panische Angst, dieses Aushängeschild eines sozialistischen und zugleich talentierten Autors könne in den Westen gehen. Nicht zuletzt, um das zu verhindern, kümmerte sich die Staatssicherheit so umfassend und fürsorglich um ihn.
Volker Braun ist nicht in den Westen gegangen, nicht einmal dann, als es seinen Staat nicht mehr gab. Unter dem Datum 1. Juli 1990, dem Tag der zweiten Währungsreform, findet sich in seinem Arbeitsbuch ("Werktage 2") stattdessen das Gedicht, das vermutlich sein berühmtestes bleiben wird: "da bin ich noch: mein land geht in den westen. / KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN" - so beginnt es. Brauns Lesart der frühen Jahre nach der sogenannten Wende, die sich in diesem Arbeitsbuch spiegelt, folgt dem bis heute beliebten ostdeutschen Narrativ der westdeutschen Kolonialisierung des Ostens. "die vereinigung der deutschen gleicht einem überfall hier, einer landflucht da. Man sieht die bullige geste / die geduckte gier." Dabei wird unterschlagen, von welcher Seite, kaum war die Mauer geöffnet, die Parolen "Wir sind ein Volk" und "Deutschland, einig Vaterland" gerufen wurden, die so wenig realen Boden hatten wie Willy Brandts Hoffnung, dass nun zusammenwachse, was zusammengehöre.
Hoffnung aber ist das Stichwort, von dem her Volker Brauns Werk zu lesen ist, bis in die jüngst veröffentlichten Notate mit dem Titel "Handstreiche", eine Sammlung von Aphorismen, Dialogen, Traumprotokollen und anderen Fragmenten. Hoffnung und die immer wieder durchscheinende Bitterkeit darüber, dass sie vielfach enttäuscht wurde, in seinem Staat und auch nach dessen Ende. "Was denn für ein Hunger?", lesen wir. "Wir hatten andere Appetite, als man mit einer Banane abspeist."
Das wehrt sich gegen das Klischee der D-Mark- und Konsumgierigen, und das natürlich zu Recht, soweit bestimmte Fraktionen der Revolte von 1989 gemeint sind, etwa jene, die wie Braun auch zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs "Für unser Land" gehörten. Dort wurde um die Chance gerungen, "in gleichberechtigter Nachbarschaft zu den Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln". Dies war aber offenbar nicht der Impuls der "Massen". Ihre Hoffnungen, wenn auch von vornherein illusionär, richteten sich auf die Möglichkeiten des gelobten Landes und riefen in der Tat jene Landflucht hervor, von der oben die Rede war, so dass Braun im Rückblick jetzt nur notieren kann: "In Wendezeiten zeigt sich der Gerade."
Das mag im ersten Moment überheblich klingen, ist aber nur die veredelte Form jener Notate etwas später, in denen Braun seine Autobiographie in vier Sätzen auf den Punkt bringt: "Auch das Leben, erlebten wir, kann entwertet werden. Hätten wir es ausgegeben, verprasst!" Und weiter: "Gewiss, wir haben es verjubelt, und klagen es nun nicht ein. Aber beschämend ist, dass es das Unsere war."
Die neuen Verhältnisse können es ihm nicht zurückgeben. So sehr er die Widersprüche seines verlorenen Landes gelebt und formuliert hat, so sehr kommt ihm seine sprachliche Sensibilität bei der Erfassung der neuen Wirklichkeiten zugute: ",Bäume weichen Gewerbegebiet.' Nicht direkt, sie weichen nicht zurück, sie haun nicht ab, sie werden abgehauen." Chapeau!
Das zentrale Motiv im Werk von Volker Braun, der heute achtzig Jahre alt wird, war von Anfang an der Glücksanspruch des Einzelnen, der mit den Forderungen der Gesellschaft, selbst wenn man diese anerkennt, in Konflikt gerät. In den "Handstreichen" hat er dafür vielleicht die endgültige Formulierung gefunden: "Sich üben, ein Mensch zu sein. Nur ist die Frage seit 5000 Jahren, soll es der Einzelne tun oder die Gesellschaft? Allein bist du wohl kein Mensch, in der Masse bleibst du es nicht. Übungen an Geräten, die groß wie Staaten sind; aber diese gerade verfehlen den Zweck."
"Man kann ohne Hoffnung leben, aber nicht aus Prinzip", schreibt Braun in deutlicher Anspielung auf Bloch. Man kann aber, wäre dem zu entgegnen, auch die Hoffnung nicht als Prinzip leben. Gegen Ende der Notate scheint davon eine Ahnung durch in der großartigen Formel: "Aus den Kieseln der Erkenntnis das Massiv des Irrtums."
JOCHEN SCHIMMANG
Volker Braun: "Handstreiche". Aphorismen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 91 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ohne Hoffnung, aber nicht aus Prinzip: Zum 80. Geburtstag von Volker Braun erscheint ein Band mit Aphorismen, Dialogen und Traumprotokollen.
Es gibt Beispiele für die Wirkungsmacht von Literatur, die den jeweiligen Autoren vermutlich alles andere als recht sind. Ein solcher Fall, auch wenn er erst später davon erfuhr, war schon Mitte der siebziger Jahre Volker Braun. Im Jahr 1975 veröffentlichte die Zeitschrift "Sinn und Form" seine Novelle "Unvollendete Geschichte", zwei Jahre später erschien sie im Westen als Buch bei Suhrkamp. Die Geschichte von der Funktionärstochter Karin, deren persönliche Glücksansprüche sie in einen Loyalitätskonflikt mit dem Staat DDR bringen, dessen Kind und gläubige Anhängerin sie ist, beruht auf einem authentischen Fall, der Braun von einer jungen Frau erzählt wurde, die sich später selbst als IM herausstellte. Sie ist aber auch ein Spiegelbild des Loyalitätskonflikts, den ihr Autor spätestens seit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 mit seinem Staat hatte, noch über dessen Untergang hinaus.
Neun Stasioffiziere und zweiunddreißig inoffizielle beziehungsweise "gesellschaftliche" Mitarbeiter beschäftigten sich seit 1975 mit dem Dramatiker, Lyriker und Erzähler Volker Braun. Der war qua Biographie eigentlich der Wunschkandidat für einen Schriftsteller, wie die SED ihn sich vorstellte: mit "Erfahrungen in der Produktion" (Gaskombinat Schwarze Pumpe), seit 1960 Parteimitglied und dazu im Unterschied zu manchem seiner Kollegen mit einem großen und reichhaltigen Talent als Lyriker, Dramatiker und Erzähler gesegnet. Die "Unvollendete Geschichte" liest sich noch heute in ihrem atemlosen Tempo und ihrem sprachlichen Zugriff, als habe der wiedergeborene Kleist sie geschrieben.
Braun, der in den sechziger Jahren auf Einladung Helene Weigels zwei Jahre als Dramaturg am Berliner Ensemble arbeitete, verstand sich als politischer Autor in der Nachfolge Brechts. Das musste zwangsläufig den Argwohn seines Staates und der Partei hervorrufen, deren Mitglied er war. Gleichzeitig hatte dieser Staat, wie später zu erfahren war, eine panische Angst, dieses Aushängeschild eines sozialistischen und zugleich talentierten Autors könne in den Westen gehen. Nicht zuletzt, um das zu verhindern, kümmerte sich die Staatssicherheit so umfassend und fürsorglich um ihn.
Volker Braun ist nicht in den Westen gegangen, nicht einmal dann, als es seinen Staat nicht mehr gab. Unter dem Datum 1. Juli 1990, dem Tag der zweiten Währungsreform, findet sich in seinem Arbeitsbuch ("Werktage 2") stattdessen das Gedicht, das vermutlich sein berühmtestes bleiben wird: "da bin ich noch: mein land geht in den westen. / KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN" - so beginnt es. Brauns Lesart der frühen Jahre nach der sogenannten Wende, die sich in diesem Arbeitsbuch spiegelt, folgt dem bis heute beliebten ostdeutschen Narrativ der westdeutschen Kolonialisierung des Ostens. "die vereinigung der deutschen gleicht einem überfall hier, einer landflucht da. Man sieht die bullige geste / die geduckte gier." Dabei wird unterschlagen, von welcher Seite, kaum war die Mauer geöffnet, die Parolen "Wir sind ein Volk" und "Deutschland, einig Vaterland" gerufen wurden, die so wenig realen Boden hatten wie Willy Brandts Hoffnung, dass nun zusammenwachse, was zusammengehöre.
Hoffnung aber ist das Stichwort, von dem her Volker Brauns Werk zu lesen ist, bis in die jüngst veröffentlichten Notate mit dem Titel "Handstreiche", eine Sammlung von Aphorismen, Dialogen, Traumprotokollen und anderen Fragmenten. Hoffnung und die immer wieder durchscheinende Bitterkeit darüber, dass sie vielfach enttäuscht wurde, in seinem Staat und auch nach dessen Ende. "Was denn für ein Hunger?", lesen wir. "Wir hatten andere Appetite, als man mit einer Banane abspeist."
Das wehrt sich gegen das Klischee der D-Mark- und Konsumgierigen, und das natürlich zu Recht, soweit bestimmte Fraktionen der Revolte von 1989 gemeint sind, etwa jene, die wie Braun auch zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs "Für unser Land" gehörten. Dort wurde um die Chance gerungen, "in gleichberechtigter Nachbarschaft zu den Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln". Dies war aber offenbar nicht der Impuls der "Massen". Ihre Hoffnungen, wenn auch von vornherein illusionär, richteten sich auf die Möglichkeiten des gelobten Landes und riefen in der Tat jene Landflucht hervor, von der oben die Rede war, so dass Braun im Rückblick jetzt nur notieren kann: "In Wendezeiten zeigt sich der Gerade."
Das mag im ersten Moment überheblich klingen, ist aber nur die veredelte Form jener Notate etwas später, in denen Braun seine Autobiographie in vier Sätzen auf den Punkt bringt: "Auch das Leben, erlebten wir, kann entwertet werden. Hätten wir es ausgegeben, verprasst!" Und weiter: "Gewiss, wir haben es verjubelt, und klagen es nun nicht ein. Aber beschämend ist, dass es das Unsere war."
Die neuen Verhältnisse können es ihm nicht zurückgeben. So sehr er die Widersprüche seines verlorenen Landes gelebt und formuliert hat, so sehr kommt ihm seine sprachliche Sensibilität bei der Erfassung der neuen Wirklichkeiten zugute: ",Bäume weichen Gewerbegebiet.' Nicht direkt, sie weichen nicht zurück, sie haun nicht ab, sie werden abgehauen." Chapeau!
Das zentrale Motiv im Werk von Volker Braun, der heute achtzig Jahre alt wird, war von Anfang an der Glücksanspruch des Einzelnen, der mit den Forderungen der Gesellschaft, selbst wenn man diese anerkennt, in Konflikt gerät. In den "Handstreichen" hat er dafür vielleicht die endgültige Formulierung gefunden: "Sich üben, ein Mensch zu sein. Nur ist die Frage seit 5000 Jahren, soll es der Einzelne tun oder die Gesellschaft? Allein bist du wohl kein Mensch, in der Masse bleibst du es nicht. Übungen an Geräten, die groß wie Staaten sind; aber diese gerade verfehlen den Zweck."
"Man kann ohne Hoffnung leben, aber nicht aus Prinzip", schreibt Braun in deutlicher Anspielung auf Bloch. Man kann aber, wäre dem zu entgegnen, auch die Hoffnung nicht als Prinzip leben. Gegen Ende der Notate scheint davon eine Ahnung durch in der großartigen Formel: "Aus den Kieseln der Erkenntnis das Massiv des Irrtums."
JOCHEN SCHIMMANG
Volker Braun: "Handstreiche". Aphorismen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 91 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zu Volker Brauns achtzigstem Geburtstag liegt dieser Band mit Aphorismen, Dialogen und Traumprotokollen vor, freut sich der hier rezensierende Jochen Schimmang, für den Braun spätestens seit dessen "Unvollendeter Geschichte" der "wiedergeborene Kleist" ist. "Hoffnung und Bitterkeit" über die Wendezeit erkennt der Kritiker in den Sentenzen des Dichters, der hier die Treuhand ebenso wie seine einstige Heimat, die DDR, kritisiert, an den neuen Verhältnissen leidet, diese aber mit äußerster "Sensibilität" beschreibt, staunt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Brauns pointierter Wortwitz, sein tiefsinniger Humor und seine Heiterkeit, die sich auf Karl Marx beruft, der diese als 'wesentliche Form des Geistes' bezeichnete, machen die Lektüre dieses kleinen Bandes zum (Denk)-Genuss.« Christiane Baumann schattenblick.de 20191031