Nach dem großen Erfolg seines epochalen Romans Neue Leben beschreitet Ingo Schulze in seinen Erzählungen Handy ganz neue Wege. In raffiniert variierenden Beziehungskonstellationen erweist er sich als großer Erzähler klassischer Prägung und einmal mehr als einer der bedeutendsten europäischen Schriftsteller seiner Generation.
Silvester 1999, die Millennium-Nacht in Berlin. Frank Reichert, als ostdeutscher Jungunternehmer erfolgreich im Westen angekommen, begegnet auf der Silvesterfeier an der Schwelle zum neuen Jahrtausend Julia, seiner verlorenen großen Liebe. Seit der Trennung im Herbst 1989 wandelt er wie ein Fremder durchs Leben, fast unbeteiligt erlebt er neue Beziehungen und den Erfolg seines florierenden Geschäfts. Nichts mehr kann ihn im Tiefsten berühren, über allem liegt Julias Schatten und die Möglichkeit eines anderen Lebens. So wird das Ende der Nacht zu einem Neubeginn, mit dem keiner gerechnet hat. Zwischen Abschied und Aufbruch taumeln fast alle Figuren in Ingo Schulzes neuen Erzählungen. Oft reicht schon ein einziger irritierender Blick, um das scheinbar harmonische Gefüge einer frischen Liebe, einer nachbarschaftlichen Bekanntschaft oder eines unbeschwerten Urlaubs aus den Angeln zu heben. Ob im Friseurladen in Manhattan, in einer Datscha im Berliner Umland - stets umgibt eine Atmosphäre diffuser Bedrohung die selbstgeschaffenen Fluchtorte. In diesen Heterotopien der Seligkeit behaupten sich Schulzes Protagonisten gegen eine ständig be-schleunigende Welt, die mit ihren Fallstricken bis in die eigenen vier Wände reicht. Mit untrüglichem Gespür für tragikomische Situationen umkreist Ingo Schulze das Wesen der Liebe, das Ringen um Würde im Abschiednehmen und das Geschenk glückhafter Epiphanien mitten im Alltag.
Silvester 1999, die Millennium-Nacht in Berlin. Frank Reichert, als ostdeutscher Jungunternehmer erfolgreich im Westen angekommen, begegnet auf der Silvesterfeier an der Schwelle zum neuen Jahrtausend Julia, seiner verlorenen großen Liebe. Seit der Trennung im Herbst 1989 wandelt er wie ein Fremder durchs Leben, fast unbeteiligt erlebt er neue Beziehungen und den Erfolg seines florierenden Geschäfts. Nichts mehr kann ihn im Tiefsten berühren, über allem liegt Julias Schatten und die Möglichkeit eines anderen Lebens. So wird das Ende der Nacht zu einem Neubeginn, mit dem keiner gerechnet hat. Zwischen Abschied und Aufbruch taumeln fast alle Figuren in Ingo Schulzes neuen Erzählungen. Oft reicht schon ein einziger irritierender Blick, um das scheinbar harmonische Gefüge einer frischen Liebe, einer nachbarschaftlichen Bekanntschaft oder eines unbeschwerten Urlaubs aus den Angeln zu heben. Ob im Friseurladen in Manhattan, in einer Datscha im Berliner Umland - stets umgibt eine Atmosphäre diffuser Bedrohung die selbstgeschaffenen Fluchtorte. In diesen Heterotopien der Seligkeit behaupten sich Schulzes Protagonisten gegen eine ständig be-schleunigende Welt, die mit ihren Fallstricken bis in die eigenen vier Wände reicht. Mit untrüglichem Gespür für tragikomische Situationen umkreist Ingo Schulze das Wesen der Liebe, das Ringen um Würde im Abschiednehmen und das Geschenk glückhafter Epiphanien mitten im Alltag.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2007Verliebt, verlobt, vermaust
"Handy", ein literarisches Ereignis: Mit seinen dreizehn neuen Erzählungen zeigt Ingo Schulze souverän, wie sich die größte literarische Raffinesse hinter einem schlichten Erzählton verbergen lässt.
Von Hubert Spiegel
Wie soll man das nennen, wenn ein Mann, ein Ingenieur, der auf dem Arbeitsamt stolz von sich sagen kann, er habe ein Kraftwerk gebaut, seinen Job verliert, fortan zuhause bleibt, sich um Haus, Garten, Einkauf und Gebäck zum Tee kümmert und eines Tages feststellt, dass er im eigenen Haus nicht viel anders lebt als die Maus, die zu fangen er von den Nachbarn eine Falle ausgeliehen hat?
Er liegt im Bett, lauscht den morgendlichen Alltagsgeräuschen, und plötzlich wird ihm klar, dass die Maus die ganze Zeit dieselben Geräusche hört wie er: "Und dass sie wohl unterscheiden konnte, ob jemand die Treppe hinunterging oder heraufkam, und dass sie, die Maus, wenn sich Schritte näherten, Angst empfand, und vielleicht sogar Freude, oder zumindest Erleichterung, wenn sie sich entfernten, obwohl es an ihrer Situation nichts veränderte." Was für die Maus gilt, gilt auch für den Mann. Die beiden teilen das Haus, die Perspektive, das Leben. Dieser Mann ist verwandelt, er ist vermaust, längst schon, aber erst jetzt, im Bett, wird es ihm klar, von einer Sekunde auf die andere, und in diesem Augenblick der Einsicht wird er gefangen bleiben, vielleicht nicht für immer, aber für lange Zeit.
Der Stellenwert des Glücks.
Von dieser und anderen Fallen erzählt das neue Buch Ingo Schulzes, von Menschen, die Fallen aufstellen, ohne es zu merken und hineintappen, ohne es zu merken. Bis dann der Augenblick der Erkenntnis kommt, in dem die unsichtbaren Gitterstäbe plötzlich sichtbar werden und immer näher rücken, bis sie ins Fleisch schneiden. Und plötzlich wird die Luft knapp für einen Moment, und dann geht das Leben weiter. Das Leben geht ja immer weiter, es fühlt sich nur anders an mit einem Mal. Aber wie soll man das nennen?
Ingo Schulze hat nicht nach Begriffen gesucht, sondern er versammelt in seinem neuen Erzählungsband "Handy" Situationen, Begebenheiten, Augenblicke: Ein Straßenjunge springt in Kairo auf den Kofferraumdeckel eines Taxis und klammert sich fest in rasender Fahrt, und der deutsche Fahrgast wird sich nie verzeihen oder erklären können, warum er solange gewartet hat, bevor er den Taxifahrer zum Anhalten aufforderte. Oder der Gipfel einer Ehekrise, die damit endet, dass der Mann, der den Kopf seiner betrunkenen Frau hält, keinen anderen Ausweg mehr sieht, als den offenen Mund zu küssen, aus dem sich gerade der Mageninhalt in die Kloschüssel ergossen hatte. Oder das Aufblitzen einer Erkenntnis, als ein Mann seiner ehemaligen Geliebten im Café gegenübersitzt: "In mir ist keine Liebe."
Oft ist in diesen Geschichten, die überwiegend in der Ich-Form erzählt werden, von Liebe die Rede, und von Paaren, die sich gefunden und wieder verloren haben. Und immer wieder trägt der Ich-Erzähler unverkennbar Züge des Autors, hat die langen Haare Ingo Schulzes oder wird als Verfasser eines Buches mit dem Titel "Dreiunddreissig Augenblick des Glücks" vorgestellt. Spricht hier also, wenn Ingo Schulze "ich" sagt, wirklich Ingo Schulze?
Man könnte es kokett nennen, dass Schulze immer wieder Realitätspartikel der eigenen Biographie in seine Geschichte einstreut. Und man müsste eigentlich misstrauisch werden, wenn ein Schriftsteller über einen Schriftsteller schreibt, der sich auf Lesereise befindet oder gerade irgendwo ein Stipendium abwohnt. Normalerweise ist das ein höchst bedrohliches Zeichen, das sich nicht selten mit dem zweiten Buch einstellt: Nach dem gelungenen Debüt kommen die Stipendien, nach den Stipendien kommt das Buch über die Stipendienzeit, und danach kommt dann nichts mehr. Aber müsste ein Ingo Schulze nicht gegen einen solchen Absturz gefeit sein?
Als 1995 der Debütband "Dreiunddreissig Augenblicke des Glücks" erschien, stellte Schulze dem Buch eine kleine Herausgeberfiktion voran: Nicht er habe diese Geschichten geschrieben, sondern ein gewisser Hofmann, der sein Manuskript einer zufälligen Reisebekanntschaft überlassen habe, die es dann an "I. S." geschickt habe, der die Geschichten herausgibt, weil er glaubt, sie könnten "die anhaltende Diskussion um den Stellenwert des Glücks" beleben. In seinem Roman "Neue Leben", 2005 erschienen, hat Schulze wiederum mit einer Herausgeberfigur gearbeitet. Warum? Was verspricht er sich davon, und warum so kompliziert?
Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert diente die Herausgeberfiktion der Abwehr des Vorwurfs, in der Literatur sei alles nur erfunden und gelogen. Der wahre Autor erfand sich also einen fiktiven Autor, um den fiktiven Charakter seines Textes zu verschleiern. Später war die Herausgeberfiktion ein ironisches Zitat, ein literarisches Spiel, das den Kunstcharakter der Fiktion nur umso stärker betonen sollte: Jeder Realitätsgehalt wurde so ironisch gebrochen. Jetzt, im neuen Buch, geht Schulze den umgekehrten Weg: Er erfindet verschiedene Erzähler, verleiht ihnen erkennbar Züge der eigenen Person und suggeriert so dem Leser: Es ist ja gar nicht erfunden, was du hier liest. Ich, Ingo Schulze, habe es selbst erlebt. Das stimmt natürlich nicht, oder allenfalls zum Teil. Ja, Ingo Schulze war schon einmal in Kairo, und gewiss war er auch in Estland: Aber hat er wirklich einen Bären auf einem Damenrad vor seinen Jägern flüchten sehen? Und hat er wirklich seine Geliebte in Ägypten an einen jungen und ausnehmend charmanten Reiseführer verloren, wie er es in "Zwischenfall in Kairo" beschreibt?
In der Endlosschleife der Liebe.
Immer öfter, immer deutlicher setzt Schulze diese Brechung im Verlauf des Buches ein, immer häufiger werden die Verweise auf die Person des Autors. Zum Schluss kulminiert die Sache: "Noch eine Geschichte" handelt von einem Schriftsteller, der an einer Erzählung mit dem Titel "Zwischenfall in Petersburg" arbeitet. Das ist ein doppelter Verweis, zum einen natürlich auf die Geschichte "Zwischenfall in Kairo", zum anderen auf den Debütband von 1995, der St. Petersburg zum Schauplatz hatte. Während einer Zugfahrt von Budapest nach Wien liest der Erzähler jetzt eine von Istvan Örkénys "Minutennovellen" mit dem Titel "Schleifen", verliert aber kein Wort über den Inhalt. "Schleifen", das ist auf nur drei Seiten rasch nachgelesen, handelt von einem Freundespaar, das während eines Spaziergangs über eine Frau spricht, die zwar schön sei, der es aber an Herzenswärme fehle. Sie ist schön, hat aber kein Herz, sie hat kein Herz, aber dafür ist sie schön - so geht das Gespräch und hört nicht auf sich im Kreise zu drehen: in der Endlosschleife von Anziehung und Abstoßung gefangen.
Von Schönheit ist bei Schulze weniger die Rede, aber um die Wärme des Herzens geht es in allen diesen Erzählungen, es geht um verpasste Gelegenheiten und erlöschende Leidenschaften, um Abschiede und die Unfähigkeit zum Aufbruch, um enttäuschte Hoffnungen und erkaltende Seelen, es geht also, wie schon im Debütband um "den Stellenwert des Glücks" und um all die Schleifen und Fallen, in denen wir uns verfangen, wenn wir ihm auf den Fersen sind. Schulzes literarische Meisterschaft besteht darin, uns den Sinn dafür zu öffnen. Und er tut dies nicht auf eine "alte Manier", wie der Untertitel verkündet, sondern auf seine ganz eigene Art, die die Einfachheit des Erzähltons mit großer literarischer Kunstfertigkeit verknüpft. In seinem neuen Buch hat Schulze neben den Fallen des Alltags auch die älteste, schönste und vertrackteste Falle der Literatur aufgestellt: das ewige Spiel von Realität und Fiktion, von Kunst und Leben. In dieser Falle bewegt sich Ingo Schulze mit einer Leichtigkeit und einer Raffinesse, die ihresgleichen in der deutschen Literatur unserer Zeit lange suchen muss.
Ingo Schulze: "Handy". Dreizehn Geschichten in alter Manier. Berlin Verlag, Berlin 2007. 281 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Handy", ein literarisches Ereignis: Mit seinen dreizehn neuen Erzählungen zeigt Ingo Schulze souverän, wie sich die größte literarische Raffinesse hinter einem schlichten Erzählton verbergen lässt.
Von Hubert Spiegel
Wie soll man das nennen, wenn ein Mann, ein Ingenieur, der auf dem Arbeitsamt stolz von sich sagen kann, er habe ein Kraftwerk gebaut, seinen Job verliert, fortan zuhause bleibt, sich um Haus, Garten, Einkauf und Gebäck zum Tee kümmert und eines Tages feststellt, dass er im eigenen Haus nicht viel anders lebt als die Maus, die zu fangen er von den Nachbarn eine Falle ausgeliehen hat?
Er liegt im Bett, lauscht den morgendlichen Alltagsgeräuschen, und plötzlich wird ihm klar, dass die Maus die ganze Zeit dieselben Geräusche hört wie er: "Und dass sie wohl unterscheiden konnte, ob jemand die Treppe hinunterging oder heraufkam, und dass sie, die Maus, wenn sich Schritte näherten, Angst empfand, und vielleicht sogar Freude, oder zumindest Erleichterung, wenn sie sich entfernten, obwohl es an ihrer Situation nichts veränderte." Was für die Maus gilt, gilt auch für den Mann. Die beiden teilen das Haus, die Perspektive, das Leben. Dieser Mann ist verwandelt, er ist vermaust, längst schon, aber erst jetzt, im Bett, wird es ihm klar, von einer Sekunde auf die andere, und in diesem Augenblick der Einsicht wird er gefangen bleiben, vielleicht nicht für immer, aber für lange Zeit.
Der Stellenwert des Glücks.
Von dieser und anderen Fallen erzählt das neue Buch Ingo Schulzes, von Menschen, die Fallen aufstellen, ohne es zu merken und hineintappen, ohne es zu merken. Bis dann der Augenblick der Erkenntnis kommt, in dem die unsichtbaren Gitterstäbe plötzlich sichtbar werden und immer näher rücken, bis sie ins Fleisch schneiden. Und plötzlich wird die Luft knapp für einen Moment, und dann geht das Leben weiter. Das Leben geht ja immer weiter, es fühlt sich nur anders an mit einem Mal. Aber wie soll man das nennen?
Ingo Schulze hat nicht nach Begriffen gesucht, sondern er versammelt in seinem neuen Erzählungsband "Handy" Situationen, Begebenheiten, Augenblicke: Ein Straßenjunge springt in Kairo auf den Kofferraumdeckel eines Taxis und klammert sich fest in rasender Fahrt, und der deutsche Fahrgast wird sich nie verzeihen oder erklären können, warum er solange gewartet hat, bevor er den Taxifahrer zum Anhalten aufforderte. Oder der Gipfel einer Ehekrise, die damit endet, dass der Mann, der den Kopf seiner betrunkenen Frau hält, keinen anderen Ausweg mehr sieht, als den offenen Mund zu küssen, aus dem sich gerade der Mageninhalt in die Kloschüssel ergossen hatte. Oder das Aufblitzen einer Erkenntnis, als ein Mann seiner ehemaligen Geliebten im Café gegenübersitzt: "In mir ist keine Liebe."
Oft ist in diesen Geschichten, die überwiegend in der Ich-Form erzählt werden, von Liebe die Rede, und von Paaren, die sich gefunden und wieder verloren haben. Und immer wieder trägt der Ich-Erzähler unverkennbar Züge des Autors, hat die langen Haare Ingo Schulzes oder wird als Verfasser eines Buches mit dem Titel "Dreiunddreissig Augenblick des Glücks" vorgestellt. Spricht hier also, wenn Ingo Schulze "ich" sagt, wirklich Ingo Schulze?
Man könnte es kokett nennen, dass Schulze immer wieder Realitätspartikel der eigenen Biographie in seine Geschichte einstreut. Und man müsste eigentlich misstrauisch werden, wenn ein Schriftsteller über einen Schriftsteller schreibt, der sich auf Lesereise befindet oder gerade irgendwo ein Stipendium abwohnt. Normalerweise ist das ein höchst bedrohliches Zeichen, das sich nicht selten mit dem zweiten Buch einstellt: Nach dem gelungenen Debüt kommen die Stipendien, nach den Stipendien kommt das Buch über die Stipendienzeit, und danach kommt dann nichts mehr. Aber müsste ein Ingo Schulze nicht gegen einen solchen Absturz gefeit sein?
Als 1995 der Debütband "Dreiunddreissig Augenblicke des Glücks" erschien, stellte Schulze dem Buch eine kleine Herausgeberfiktion voran: Nicht er habe diese Geschichten geschrieben, sondern ein gewisser Hofmann, der sein Manuskript einer zufälligen Reisebekanntschaft überlassen habe, die es dann an "I. S." geschickt habe, der die Geschichten herausgibt, weil er glaubt, sie könnten "die anhaltende Diskussion um den Stellenwert des Glücks" beleben. In seinem Roman "Neue Leben", 2005 erschienen, hat Schulze wiederum mit einer Herausgeberfigur gearbeitet. Warum? Was verspricht er sich davon, und warum so kompliziert?
Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert diente die Herausgeberfiktion der Abwehr des Vorwurfs, in der Literatur sei alles nur erfunden und gelogen. Der wahre Autor erfand sich also einen fiktiven Autor, um den fiktiven Charakter seines Textes zu verschleiern. Später war die Herausgeberfiktion ein ironisches Zitat, ein literarisches Spiel, das den Kunstcharakter der Fiktion nur umso stärker betonen sollte: Jeder Realitätsgehalt wurde so ironisch gebrochen. Jetzt, im neuen Buch, geht Schulze den umgekehrten Weg: Er erfindet verschiedene Erzähler, verleiht ihnen erkennbar Züge der eigenen Person und suggeriert so dem Leser: Es ist ja gar nicht erfunden, was du hier liest. Ich, Ingo Schulze, habe es selbst erlebt. Das stimmt natürlich nicht, oder allenfalls zum Teil. Ja, Ingo Schulze war schon einmal in Kairo, und gewiss war er auch in Estland: Aber hat er wirklich einen Bären auf einem Damenrad vor seinen Jägern flüchten sehen? Und hat er wirklich seine Geliebte in Ägypten an einen jungen und ausnehmend charmanten Reiseführer verloren, wie er es in "Zwischenfall in Kairo" beschreibt?
In der Endlosschleife der Liebe.
Immer öfter, immer deutlicher setzt Schulze diese Brechung im Verlauf des Buches ein, immer häufiger werden die Verweise auf die Person des Autors. Zum Schluss kulminiert die Sache: "Noch eine Geschichte" handelt von einem Schriftsteller, der an einer Erzählung mit dem Titel "Zwischenfall in Petersburg" arbeitet. Das ist ein doppelter Verweis, zum einen natürlich auf die Geschichte "Zwischenfall in Kairo", zum anderen auf den Debütband von 1995, der St. Petersburg zum Schauplatz hatte. Während einer Zugfahrt von Budapest nach Wien liest der Erzähler jetzt eine von Istvan Örkénys "Minutennovellen" mit dem Titel "Schleifen", verliert aber kein Wort über den Inhalt. "Schleifen", das ist auf nur drei Seiten rasch nachgelesen, handelt von einem Freundespaar, das während eines Spaziergangs über eine Frau spricht, die zwar schön sei, der es aber an Herzenswärme fehle. Sie ist schön, hat aber kein Herz, sie hat kein Herz, aber dafür ist sie schön - so geht das Gespräch und hört nicht auf sich im Kreise zu drehen: in der Endlosschleife von Anziehung und Abstoßung gefangen.
Von Schönheit ist bei Schulze weniger die Rede, aber um die Wärme des Herzens geht es in allen diesen Erzählungen, es geht um verpasste Gelegenheiten und erlöschende Leidenschaften, um Abschiede und die Unfähigkeit zum Aufbruch, um enttäuschte Hoffnungen und erkaltende Seelen, es geht also, wie schon im Debütband um "den Stellenwert des Glücks" und um all die Schleifen und Fallen, in denen wir uns verfangen, wenn wir ihm auf den Fersen sind. Schulzes literarische Meisterschaft besteht darin, uns den Sinn dafür zu öffnen. Und er tut dies nicht auf eine "alte Manier", wie der Untertitel verkündet, sondern auf seine ganz eigene Art, die die Einfachheit des Erzähltons mit großer literarischer Kunstfertigkeit verknüpft. In seinem neuen Buch hat Schulze neben den Fallen des Alltags auch die älteste, schönste und vertrackteste Falle der Literatur aufgestellt: das ewige Spiel von Realität und Fiktion, von Kunst und Leben. In dieser Falle bewegt sich Ingo Schulze mit einer Leichtigkeit und einer Raffinesse, die ihresgleichen in der deutschen Literatur unserer Zeit lange suchen muss.
Ingo Schulze: "Handy". Dreizehn Geschichten in alter Manier. Berlin Verlag, Berlin 2007. 281 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nur bewundern kann Rezensent Hubert Spiegel das Können des Erzählers Ingo Schulze, der sich nach seinem dicken Roman "Neue Leben" nun wieder am erzählerischen Kleinformat versucht, mit dem er einst zu Ruhm kam. Erfreulichweise, so Spiegel, sind alle Stärken noch immer vorhanden. Um Fallen gehe es diesmal, Fallen, die die Figuren sich selber stellen, Fallen, in die sie tappen. Keine Theorien bietet Schulze, sondern "Situationen, Begebenheiten, Augenblicke" aus eher normalen Leben von Menschen, die unterwegs sind und immer mal auch den Namen Ingo Schulze tragen. Ziemlich virtuos findet es der Rezensent, wie der Autor hier Realität und Fiktion per Herausgeberfiktion so ineinanderschlinge, dass die Grenzverläufe dem Leser vor Augen verschwimmen. Als Grundmotiv macht Spiegel unser aller Suche nach dem Glück aus und als herausragende Fähigkeit des Autors, dass er so unangestrengt, ja, "Leichtigkeit" und "Raffinesse" miteinander verbindend, davon zu erzählen versteht, was bei dieser Suche so alles passieren kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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