Produktdetails
- Verlag: Insel Verlag
- 1998.
- Seitenzahl: 22
- Deutsch
- Abmessung: 30mm x 330mm x 460mm
- Gewicht: 2402g
- ISBN-13: 9783458169161
- ISBN-10: 3458169164
- Artikelnr.: 07588665
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1996Das Reich der Sinne liegt im Skulpturensaal
Eine opulente Ausgabe präsentiert Goethe als Zeichner / Von Wilfried Wiegand
Goethe war zeitlebens erfüllt von einer Liebe zur Bildenden Kunst. Ihr verdanken wir eine Reihe großartiger Essays, eine kleine, aber originelle Kunstsammlung und leider auch eine penetrante Schulmeisterei, die den jungen deutschen Künstlern die Romantik auszutreiben und die sie auf den Klassizismus einzuschwören versuchte. Nicht zuletzt aber hat diese lebenslange Leidenschaft rund zweieinhalbtausend Zeichnungen hervorgebracht, sorgfältig erfaßt und reproduziert in einem siebenbändigen "Corpus der Goethezeichnungen". Läßt man die vielen wissenschaftlichen Skizzen beiseite, so bleibt immer noch eine beträchtliche Zahl künstlerischen Charakters. Auswahlbände, in denen dieses OEuvre vorgestellt wird, oft von namhaften Kunsthistorikern ediert, gibt es einige, keinen freilich, der es mit dem schwergewichtigen, im Format leider recht unhandlichen Werk von Petra Maisak aufnehmen kann. Die Auswahl von fast zweihundert Blättern, darunter auch einigen wissenschaftlichen Demonstrationszeichnungen, ist repräsentativ und die Kommentierung gründlicher als alles Bisherige. Neben jeder Zeichnung steht eine sorgfältig die biographischen, thematischen und kunsthistorischen Aspekte abwägende Interpretation. Manche Kommentare sind knapp, andere ziehen sich über mehrere Seiten hin und werden durch Vergleichsabbildungen unterstützt. Solch unterschiedliche Gewichtung wirkt belebend und vermeidet das Schematische eines bloßen Katalogs. Für jeden Goethe-Freund ist dieses Buch ein großer Gewinn.
Petra Maisak, als Leiterin des Frankfurter Goethe-Museums den Quellen beneidenswert nahe, ordnet das Bildmaterial nicht nach Motiven, sondern in chronologischer Folge. Dadurch untermauert sie ihr Plädoyer, auch die Zeichnungen Goethes als "Bruchstücke einer großen Konfession" anzusehen. Die Frage nach den unterschiedlichen Qualitäten - oder die Frage nach Goethes Rang als Zeichner überhaupt - wird damit nebensächlich. Jede Zeichnung, sobald sie im passenden biographischen Moment verankert wird, weiß etwas von Goethe zu erzählen. Jede ist ein Lebenszeugnis, das niemals unrecht haben kann.
So werden die bisherigen Irrwege vermieden, Goethes Zeichenkunst an seinen großen Zeitgenossen zu messen oder umgekehrt in seinem OEuvre Einzelblätter zu entdecken, die vermeintlich radikal sind und die als Vorläufer der modernen Kunst in Frage kommen sollen. Beim ersten Verfahren, im Vergleich mit Turner oder Friedrich, muß der Dilettant Goethe den kürzeren ziehen; im zweiten Fall bürdet man seiner Kunst eine Last auf, durch die sie einen Augenblick lang interessant wird, die sie auf Dauer aber nicht zu tragen vermag. Ob man Goethe zweitrangig findet oder ihn angestrengt zu modernisieren versucht - beides ist ein Mißverständnis dieses monumentalen Nebenwerks eines Lebenswerks.
Petra Maisak geht noch weiter und gibt uns den klugen Rat, auch den Vergleich mit der Realität zu unterlassen, da Goethes Zeichnungen "eher eine innere als eine äußere Wirklichkeit" vermitteln. Sie erteilt dem hellsichtigen Zeitgenossen Riemer das Wort: "Eine saubere oder gar geleckte Manier in der Zeichnungsweise muß man daher nicht von ihm erwarten, noch dieses Mangels an technischer Fertigkeit und Vollendung wegen seinen Versuchen überhaupt verdienstliche Bedeutsamkeit absprechen . . . Seine Zeichnungen gelten also nur als skizzierte Ideen, als bildlicher, symbolischer Ausdruck dessen, was seine Phantasie, sein Gemüt beschäftigte . . . " Wie wenig es Goethe um fotografische Präzision ging, zeigt auch sein praktisches Desinteresse an der Camera obscura, wiewohl ihm die Arbeitsweise der Zeichenkamera, wie jeder Leser der "Wahlverwandtschaften" weiß, durchaus vertraut war.
Großzügig unterteilt die Herausgeberin ihre Auswahl in drei Kapitel: Frühzeit, Italien, Spätzeit. So bekommt die italienische Reise das Gewicht, das sie verdient. Denn der römische Aufenthalt wurde für Goethe zur Probe aufs Exempel. Hier, wo das Herz der europäischen Kunst schlug, mußte sich erweisen, ob seine künstlerische Begabung ausreichte oder ob er "nur" ein Dichter war. Man weiß, wie es ausging. Im Umgang mit professionellen Malern begriff er endlich, was nicht seine Sache war und gab den Plan, vielleicht sogar doch noch Maler zu werden, endgültig auf. Aber wie ernsthaft war dieser Plan überhaupt? Hat Goethe jemals in Öl gemalt? Einmal, als Jüngling, bekam er Unterricht, ist aber nicht dabei gelieben. Was hatte es auf sich mit der römischen Resignation? War der Verzicht begleitet von Trauer und Schmerz? Hat Goethe vielleicht sogar den Zeichenstift endgültig beiseite gelegt und ist dem einst so geliebten Metier schmollend aus dem Wege gegangen? Daß es nicht so war, macht dieses Buch deutlicher, als wir es zuvor wußten.
In ihrem einleitenden Essay schildert die Herausgeberin Goethes Doppelbegabung mit all ihrer Problematik. Unter vielen Zitaten findet sich eine erstaunliche Passage aus dem "Werther": "Noch nie war ich glücklicher, noch nie war meine Empfindung an der Natur, bis auf's Steinchen, auf's Gräschen herunter, voller und inniger, und doch - Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, meine vorstellende Kraft ist so schwach, alles schwimmt und schwankt so vor meiner Seele, daß ich keinen Umriß packen kann; aber ich bilde mir ein, wenn ich Thon hätte oder Wachs, so wollte ich's wohl herausbilden. Ich werde auch Thon nehmen, wenn's länger währt, und kneten, und sollten's Kuchen werden!" Werther, folgert Petra Maisak, "scheitert nicht nur an seiner Liebe - er scheitert auch als Künstler, sobald er seine Empfindung ernsthaft in die Tat umzusetzen versucht". Dilettantentum kann sich zu einer Tragödie auswachsen. Unverschlüsselt sprach Goethe das nicht so offen aus. Immer harmonisierte er seinen Lebenslauf, und selbst wenn er später die Schwäche der zeichnerischen Begabung eingestand, achtete er darauf, daß sie als etwas dennoch Nützliches erschien.
Daß Goethe sich lange nicht entscheiden konnte zwischen Poesie und Kunst, weil er beide Begabungen für gleich stark hielt, dürfte eine Legende sein, von ihm selbst kolportiert und in späteren Jahren wohl auch geglaubt. Ebenso verhält es sich mit dem angeblich endgültigen Abschied von der Zeichnerei nach der Rückkehr aus Rom. Erst Jahre später, um die Jahrhundertwende, verzichtete er tatsächlich einige Jahre lang auf künstlerisches Zeichnen. Aber der Grund dafür war nicht eine in Rom gewonnene Einsicht, sondern seine neueste Weimarer Kunsttheorie. Sie sollte zum Klassizismus erziehen und propagierte deshalb eine Hierarchie der Stile, in der das Dilettantentum ganz unten angesiedelt war. Damit hatte Goethe sich selbst aus dem Reich der Kunst vertrieben. Erst 1805, nach dem Tod Schillers und dem Scheitern der Weimarer Preisaufgaben, resignierte der Kunstpädagoge und fand wieder den Mut, sich zu seinem Dilettantismus zu bekennen.
Macht man ein Gedankenspiel und stellt sich vor, jedes der drei Kapitel schildere einen anderen Künstler und man müßte sich für einen entscheiden - man würde den nach-italienischen Goethe des letzten Kapitels wählen. Goethes Abschied von der Illusion des Künstlertums ist mit einer spürbaren Befreiung verbunden. Der Zeichner, der er bis in die zwanziger Jahre bleibt, wirkt oft mutiger als zuvor und wie im Einklang mit seiner eigenen Unvollkommenheit. Früher hatte Goethe zeichnen wollen, jetzt tut er einfach, was er kann.
So bestechend Bildauswahl und Interpretationen sind und so verführerisch das Plädoyer für die große Konfession in unseren Ohren klingt - die ernüchternde Feststellung, daß Goethe kein großer Künstler war, läßt sich nicht umgehen. Damit wird die alte Frage unumgänglich: Wie kommt es, daß der lebenskluge Dichter gleichzeitig so naiv sein konnte, an seine künstlerische Berufung zu glauben? Warum hat es so lange gedauert, bis er zur Einsicht seiner Schwäche kam? Wie erklärt sich dieser blinde Fleck in Goethes Selbsterkenntnis?
Man kommt der Antwort nicht nahe, wenn man hier nur einen besonderen Fall von Doppelbegabung und ein psychologisches Problem sieht. Goethes hartnäckige Überzeugung, er sei zum Künstler berufen, hat ihre Wurzeln auch in der Kulturgeschichte seiner Zeit. Es ist die Faszination Winckelmanns, die Goethe dem Anspruch aussetzt, unbedingt ein Künstler zu werden. Die Wirkung Winckelmanns auf die Jugend seiner Zeit kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Unsere völlig falsche Vorstellung vom Gründervater des Gipsfiguren-Klassizismus verkennt, welch Befreier er für sein Jahrhundert war, vergleichbar mit Rousseau oder für unser Jahrhundert mit Freud.
Auch Winckelmann berief sich auf einen Naturzustand, auf das Griechentum. Damit gab er einer Jugend, die christlicher Moral ebenso mißtraute wie der Libertinage des Rokoko, ein neues erotisches Leitbild. Das Erotische wurde plötzlich in eins gesetzt mit der höchsten Idealität. Am Beispiel der antiken Skulptur erotisierte Winckelmann den Kunstgenuß und brach damit das Erotikmonopol der Dichtung. Der Königsweg ins Reich der Sinne führte für Deutschlands Dichter nun durch den Skulpturensaal. Lessing empfand die verführerische Gefahr und setzte sich mit der Laokoon-Schrift gegen Winckelmann zur Wehr. Winckelmann hatte die Sinnlichkeit entfesselt; losgelöst von der Gedankenkunst Literatur, wurde sie zur vagabundierenden Bedrohung. Auch Klopstock protestierte. Goethe jedoch setzte sich nicht zur Wehr.
Als Student in Leipzig wartet er mit seinen Freunden nervös darauf, daß Winckelmann die Stadt betritt und er den Wundermann wenigstens sehen kann; statt dessen muß er die schockierende Todesnachricht hören. Als Goethe fast zwanzig Jahre später in Rom eintrifft, gedenkt er seiner wie eines Schutzpatrons: "Heute früh fielen mir Winckelmanns Briefe, die er aus Italien schrieb, in die Hand. Mit welcher Rührung hab ich sie zu lesen angefangen! Vor 31 Jahren in derselben Jahrszeit kam er, ein noch ärmerer Narr als ich, hierher . . .Und was ist mir nun das Andencken dieses Mannes auf diesem Platze."
Durch Winckelmann wurde die Ästhetik der Bildenden Kunst zum Pflichtfach für die deutschen Dichter der klassischen Zeit. Noch bei Kleist ist das zu spüren. Erst die Romantik kündigte diese Verbindung auf und eröffnete den Dialog der Dichtung mit der Musik. Wie Füssli und Heinse gehörte Goethe zu den radikalen Winckelmann-Verehrern. Winckelmann war für sie der Stifter eines neuen Ideals von Selbstverwirklichung, einer Verschmelzung von Kunst und Leben, von Sinnlichkeit und Moral. Goethe wollte in Rom viel mehr als nur Maler werden, er wollte die von Winckelmann evozierte ästhetisch-erotisch-moralische Einheit selbst erleben, die eigene Lebensführung sollte sich am großen Vorbild orientieren. In den Römischen Elegien hat er später behauptet, die ersehnte Einheit von Fleisch und Wort gefunden zu haben. Aber wieviel davon ist Wahrheit, wieviel Dichtung?
Hat es Goethe wirklich so sehr nach Rom gedrängt, wie er immer wieder betonte? Oder verhielt es sich doch umgekehrt? Dann hätte er die Reise nach Italien immer wieder hinausgezögert, aus Furcht vor der unausweichlichen Lebensentscheidung in Rom.
Johann Wolfgang Goethe: "Zeichnungen". Herausgegeben und kommentiert von Petra Maisak. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1996. 328 S., 237 Abb., davon 78 farbige, geb. 178,- DM (bis 31. Januar 148,- DM).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine opulente Ausgabe präsentiert Goethe als Zeichner / Von Wilfried Wiegand
Goethe war zeitlebens erfüllt von einer Liebe zur Bildenden Kunst. Ihr verdanken wir eine Reihe großartiger Essays, eine kleine, aber originelle Kunstsammlung und leider auch eine penetrante Schulmeisterei, die den jungen deutschen Künstlern die Romantik auszutreiben und die sie auf den Klassizismus einzuschwören versuchte. Nicht zuletzt aber hat diese lebenslange Leidenschaft rund zweieinhalbtausend Zeichnungen hervorgebracht, sorgfältig erfaßt und reproduziert in einem siebenbändigen "Corpus der Goethezeichnungen". Läßt man die vielen wissenschaftlichen Skizzen beiseite, so bleibt immer noch eine beträchtliche Zahl künstlerischen Charakters. Auswahlbände, in denen dieses OEuvre vorgestellt wird, oft von namhaften Kunsthistorikern ediert, gibt es einige, keinen freilich, der es mit dem schwergewichtigen, im Format leider recht unhandlichen Werk von Petra Maisak aufnehmen kann. Die Auswahl von fast zweihundert Blättern, darunter auch einigen wissenschaftlichen Demonstrationszeichnungen, ist repräsentativ und die Kommentierung gründlicher als alles Bisherige. Neben jeder Zeichnung steht eine sorgfältig die biographischen, thematischen und kunsthistorischen Aspekte abwägende Interpretation. Manche Kommentare sind knapp, andere ziehen sich über mehrere Seiten hin und werden durch Vergleichsabbildungen unterstützt. Solch unterschiedliche Gewichtung wirkt belebend und vermeidet das Schematische eines bloßen Katalogs. Für jeden Goethe-Freund ist dieses Buch ein großer Gewinn.
Petra Maisak, als Leiterin des Frankfurter Goethe-Museums den Quellen beneidenswert nahe, ordnet das Bildmaterial nicht nach Motiven, sondern in chronologischer Folge. Dadurch untermauert sie ihr Plädoyer, auch die Zeichnungen Goethes als "Bruchstücke einer großen Konfession" anzusehen. Die Frage nach den unterschiedlichen Qualitäten - oder die Frage nach Goethes Rang als Zeichner überhaupt - wird damit nebensächlich. Jede Zeichnung, sobald sie im passenden biographischen Moment verankert wird, weiß etwas von Goethe zu erzählen. Jede ist ein Lebenszeugnis, das niemals unrecht haben kann.
So werden die bisherigen Irrwege vermieden, Goethes Zeichenkunst an seinen großen Zeitgenossen zu messen oder umgekehrt in seinem OEuvre Einzelblätter zu entdecken, die vermeintlich radikal sind und die als Vorläufer der modernen Kunst in Frage kommen sollen. Beim ersten Verfahren, im Vergleich mit Turner oder Friedrich, muß der Dilettant Goethe den kürzeren ziehen; im zweiten Fall bürdet man seiner Kunst eine Last auf, durch die sie einen Augenblick lang interessant wird, die sie auf Dauer aber nicht zu tragen vermag. Ob man Goethe zweitrangig findet oder ihn angestrengt zu modernisieren versucht - beides ist ein Mißverständnis dieses monumentalen Nebenwerks eines Lebenswerks.
Petra Maisak geht noch weiter und gibt uns den klugen Rat, auch den Vergleich mit der Realität zu unterlassen, da Goethes Zeichnungen "eher eine innere als eine äußere Wirklichkeit" vermitteln. Sie erteilt dem hellsichtigen Zeitgenossen Riemer das Wort: "Eine saubere oder gar geleckte Manier in der Zeichnungsweise muß man daher nicht von ihm erwarten, noch dieses Mangels an technischer Fertigkeit und Vollendung wegen seinen Versuchen überhaupt verdienstliche Bedeutsamkeit absprechen . . . Seine Zeichnungen gelten also nur als skizzierte Ideen, als bildlicher, symbolischer Ausdruck dessen, was seine Phantasie, sein Gemüt beschäftigte . . . " Wie wenig es Goethe um fotografische Präzision ging, zeigt auch sein praktisches Desinteresse an der Camera obscura, wiewohl ihm die Arbeitsweise der Zeichenkamera, wie jeder Leser der "Wahlverwandtschaften" weiß, durchaus vertraut war.
Großzügig unterteilt die Herausgeberin ihre Auswahl in drei Kapitel: Frühzeit, Italien, Spätzeit. So bekommt die italienische Reise das Gewicht, das sie verdient. Denn der römische Aufenthalt wurde für Goethe zur Probe aufs Exempel. Hier, wo das Herz der europäischen Kunst schlug, mußte sich erweisen, ob seine künstlerische Begabung ausreichte oder ob er "nur" ein Dichter war. Man weiß, wie es ausging. Im Umgang mit professionellen Malern begriff er endlich, was nicht seine Sache war und gab den Plan, vielleicht sogar doch noch Maler zu werden, endgültig auf. Aber wie ernsthaft war dieser Plan überhaupt? Hat Goethe jemals in Öl gemalt? Einmal, als Jüngling, bekam er Unterricht, ist aber nicht dabei gelieben. Was hatte es auf sich mit der römischen Resignation? War der Verzicht begleitet von Trauer und Schmerz? Hat Goethe vielleicht sogar den Zeichenstift endgültig beiseite gelegt und ist dem einst so geliebten Metier schmollend aus dem Wege gegangen? Daß es nicht so war, macht dieses Buch deutlicher, als wir es zuvor wußten.
In ihrem einleitenden Essay schildert die Herausgeberin Goethes Doppelbegabung mit all ihrer Problematik. Unter vielen Zitaten findet sich eine erstaunliche Passage aus dem "Werther": "Noch nie war ich glücklicher, noch nie war meine Empfindung an der Natur, bis auf's Steinchen, auf's Gräschen herunter, voller und inniger, und doch - Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, meine vorstellende Kraft ist so schwach, alles schwimmt und schwankt so vor meiner Seele, daß ich keinen Umriß packen kann; aber ich bilde mir ein, wenn ich Thon hätte oder Wachs, so wollte ich's wohl herausbilden. Ich werde auch Thon nehmen, wenn's länger währt, und kneten, und sollten's Kuchen werden!" Werther, folgert Petra Maisak, "scheitert nicht nur an seiner Liebe - er scheitert auch als Künstler, sobald er seine Empfindung ernsthaft in die Tat umzusetzen versucht". Dilettantentum kann sich zu einer Tragödie auswachsen. Unverschlüsselt sprach Goethe das nicht so offen aus. Immer harmonisierte er seinen Lebenslauf, und selbst wenn er später die Schwäche der zeichnerischen Begabung eingestand, achtete er darauf, daß sie als etwas dennoch Nützliches erschien.
Daß Goethe sich lange nicht entscheiden konnte zwischen Poesie und Kunst, weil er beide Begabungen für gleich stark hielt, dürfte eine Legende sein, von ihm selbst kolportiert und in späteren Jahren wohl auch geglaubt. Ebenso verhält es sich mit dem angeblich endgültigen Abschied von der Zeichnerei nach der Rückkehr aus Rom. Erst Jahre später, um die Jahrhundertwende, verzichtete er tatsächlich einige Jahre lang auf künstlerisches Zeichnen. Aber der Grund dafür war nicht eine in Rom gewonnene Einsicht, sondern seine neueste Weimarer Kunsttheorie. Sie sollte zum Klassizismus erziehen und propagierte deshalb eine Hierarchie der Stile, in der das Dilettantentum ganz unten angesiedelt war. Damit hatte Goethe sich selbst aus dem Reich der Kunst vertrieben. Erst 1805, nach dem Tod Schillers und dem Scheitern der Weimarer Preisaufgaben, resignierte der Kunstpädagoge und fand wieder den Mut, sich zu seinem Dilettantismus zu bekennen.
Macht man ein Gedankenspiel und stellt sich vor, jedes der drei Kapitel schildere einen anderen Künstler und man müßte sich für einen entscheiden - man würde den nach-italienischen Goethe des letzten Kapitels wählen. Goethes Abschied von der Illusion des Künstlertums ist mit einer spürbaren Befreiung verbunden. Der Zeichner, der er bis in die zwanziger Jahre bleibt, wirkt oft mutiger als zuvor und wie im Einklang mit seiner eigenen Unvollkommenheit. Früher hatte Goethe zeichnen wollen, jetzt tut er einfach, was er kann.
So bestechend Bildauswahl und Interpretationen sind und so verführerisch das Plädoyer für die große Konfession in unseren Ohren klingt - die ernüchternde Feststellung, daß Goethe kein großer Künstler war, läßt sich nicht umgehen. Damit wird die alte Frage unumgänglich: Wie kommt es, daß der lebenskluge Dichter gleichzeitig so naiv sein konnte, an seine künstlerische Berufung zu glauben? Warum hat es so lange gedauert, bis er zur Einsicht seiner Schwäche kam? Wie erklärt sich dieser blinde Fleck in Goethes Selbsterkenntnis?
Man kommt der Antwort nicht nahe, wenn man hier nur einen besonderen Fall von Doppelbegabung und ein psychologisches Problem sieht. Goethes hartnäckige Überzeugung, er sei zum Künstler berufen, hat ihre Wurzeln auch in der Kulturgeschichte seiner Zeit. Es ist die Faszination Winckelmanns, die Goethe dem Anspruch aussetzt, unbedingt ein Künstler zu werden. Die Wirkung Winckelmanns auf die Jugend seiner Zeit kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Unsere völlig falsche Vorstellung vom Gründervater des Gipsfiguren-Klassizismus verkennt, welch Befreier er für sein Jahrhundert war, vergleichbar mit Rousseau oder für unser Jahrhundert mit Freud.
Auch Winckelmann berief sich auf einen Naturzustand, auf das Griechentum. Damit gab er einer Jugend, die christlicher Moral ebenso mißtraute wie der Libertinage des Rokoko, ein neues erotisches Leitbild. Das Erotische wurde plötzlich in eins gesetzt mit der höchsten Idealität. Am Beispiel der antiken Skulptur erotisierte Winckelmann den Kunstgenuß und brach damit das Erotikmonopol der Dichtung. Der Königsweg ins Reich der Sinne führte für Deutschlands Dichter nun durch den Skulpturensaal. Lessing empfand die verführerische Gefahr und setzte sich mit der Laokoon-Schrift gegen Winckelmann zur Wehr. Winckelmann hatte die Sinnlichkeit entfesselt; losgelöst von der Gedankenkunst Literatur, wurde sie zur vagabundierenden Bedrohung. Auch Klopstock protestierte. Goethe jedoch setzte sich nicht zur Wehr.
Als Student in Leipzig wartet er mit seinen Freunden nervös darauf, daß Winckelmann die Stadt betritt und er den Wundermann wenigstens sehen kann; statt dessen muß er die schockierende Todesnachricht hören. Als Goethe fast zwanzig Jahre später in Rom eintrifft, gedenkt er seiner wie eines Schutzpatrons: "Heute früh fielen mir Winckelmanns Briefe, die er aus Italien schrieb, in die Hand. Mit welcher Rührung hab ich sie zu lesen angefangen! Vor 31 Jahren in derselben Jahrszeit kam er, ein noch ärmerer Narr als ich, hierher . . .Und was ist mir nun das Andencken dieses Mannes auf diesem Platze."
Durch Winckelmann wurde die Ästhetik der Bildenden Kunst zum Pflichtfach für die deutschen Dichter der klassischen Zeit. Noch bei Kleist ist das zu spüren. Erst die Romantik kündigte diese Verbindung auf und eröffnete den Dialog der Dichtung mit der Musik. Wie Füssli und Heinse gehörte Goethe zu den radikalen Winckelmann-Verehrern. Winckelmann war für sie der Stifter eines neuen Ideals von Selbstverwirklichung, einer Verschmelzung von Kunst und Leben, von Sinnlichkeit und Moral. Goethe wollte in Rom viel mehr als nur Maler werden, er wollte die von Winckelmann evozierte ästhetisch-erotisch-moralische Einheit selbst erleben, die eigene Lebensführung sollte sich am großen Vorbild orientieren. In den Römischen Elegien hat er später behauptet, die ersehnte Einheit von Fleisch und Wort gefunden zu haben. Aber wieviel davon ist Wahrheit, wieviel Dichtung?
Hat es Goethe wirklich so sehr nach Rom gedrängt, wie er immer wieder betonte? Oder verhielt es sich doch umgekehrt? Dann hätte er die Reise nach Italien immer wieder hinausgezögert, aus Furcht vor der unausweichlichen Lebensentscheidung in Rom.
Johann Wolfgang Goethe: "Zeichnungen". Herausgegeben und kommentiert von Petra Maisak. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1996. 328 S., 237 Abb., davon 78 farbige, geb. 178,- DM (bis 31. Januar 148,- DM).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main