Hannah Höchs Adressbuch ist ein Kuriosum. Angelegt schon 1917, weitergeführt und immer wieder durch zusätzliche Seiten ergänzt bis zu ihrem Tod 1978, enthält es weit über tausend Namen. Es entpuppt sich als wahre Fundgrube: künstlerische Freundschaften, riskante Biographien und verrückte Verbindungen werden sichtbar.Hannah Höch wurde 1889 in Gotha geboren. Gegen den Willen ihrer Eltern begann sie 1912 ein Studium an der Kunstgewerbeschule in Berlin. Seit 1915 enge Verbindung zu Künstlern aus dem Umkreis von Herwarth Waldens Galerie »Der Sturm«, besonders zu Raoul Hausmann. 1916 beginnt sie als eine der ersten mit Fotocollagen und -montagen. Seit 1917 Teil der Berliner Dada-Bewegung und Mitglied der »Novembergruppe«, die Kunst als Motor der gesell-schaftlichen Aufbruchstimmung nach dem Ersten Weltkrieg begriff. 1926-1929 lebtesie mit der Schriftstellerin Til Brugmanin Holland, seit 1929 wieder in Berlin. Ihre erste große Ausstellung im Bauhaus Des-sau wird 1932, kurz vor der Eröffnung, vonder nationalsozialisti-schen Regierung Thüringens verhindert.Nach der Trennungvon Brugman zieht sie mit Kurt Matthies, den sie beim Bergstei-gen kennengelernt und inzwischen geheiratet hatte, 1939 in ein ehemaliges Flugwärterhäuschen in Berlin-Heiligensee. Die Ehe wurde 1944 wieder geschieden.Während ihrer Inneren Emigration (die Nazis hatten sie zur »Kulturbolschewistin« geadelt) lebte und arbeitete sie nach 1933 in völliger Isolation. Nach 1945 wieder Ausstellungen in Berliner Galerien, Neu- und Wiederentdeckung als Malerin durch internationale Ausstellungen. Sie stirbt im Mai 1978 in Berlin.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Katharina Rudolph empfiehlt den von Harald Neckelmann herausgegebenen Band als wissenschaftliche Ergänzung zur Digitalversion von Hannah Höchs zwischen 1917 und 1978 geführtem Adressbuch. Neckelmanns aus dem Nachlass der Künstlerin hervorgegangenen Erläuterungen, Zitate und Quellenverweise bereichern die Lektüre der 1300 Einträge (Neckelmann bearbeitet 400 davon) ungemein, findet Rudolph. Mehr als ein Nachschlagewerk bietet der Band eine Lebenscollage der Künstlerin, verspricht die Rezensentin. Vom Haushund über Hans Arp bis zum Museumsdirektor kommen sie alle vor.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2018Nur nichts wegwerfen
Erläuterte Lebenscollage: Hannah Höchs Adressbuch
Bis vor einigen Jahren noch war es ein gutgehüteter Schatz im Archiv der Berlinischen Galerie, zu fragil, um systematisch erschlossen zu werden: das Adressbuch der Künstlerin Hannah Höch, mehr als 400 Seiten zerfleddertes vergilbtes Papier, teils gebunden, teils lose eingelegt zwischen zwei schmucklosen Pappdeckeln - mit über 1300 handgeschriebenen Einträgen. 2013 wurde das Buch restauriert und digitalisiert, seit 2015 kann man sich sogar im Netz Seite für Seite durchklicken.
Wer lieber blättert und wer vor allem mehr lesen möchte als Namen, Anschriften und Telefonnummern, der kann jetzt ein Buch zur Hand nehmen. Sein Herausgeber Harald Neckelmann hat im Nachlass der Künstlerin recherchiert, die Adressbuch-Einträge entziffert und mit Erläuterungen, Zitaten und vielen Querverweisen versehen. So ist das Buch, das allerdings nur rund 400 der über tausend Einträge enthält, nicht bloß Nachschlagewerk, sondern - zumindest für den, der sich von A bis Z durcharbeitet - auch Lebenscollage dieser Künstlerin, die als eine der ersten die Fotomontage zum eigenständigen Werk erhob und als einzige Frau zur 1918 gegründeten Berliner Dada-Bewegung gehörte.
Ein paar Adressbuch-Schlaglichter: Unter dem Buchstaben C notierte Höch den Namen ihrer jüngsten Schwester, zum Zeitpunkt der Eintragung bereits verheiratet: "Carlberg, Marianne". Mit fünfzehn muss Höch im Jahr 1904 die Schule verlassen, um sich um das neugeborene Geschwisterchen zu kümmern. Ihr Traum, Künstlerin zu werden, rückt in die Ferne. Der Vater will seine Tochter ohnehin "verheiratet wissen, aber nicht Kunst studieren lassen", wie Neckelmann Höch zitiert. Doch sie setzt sich durch. Unter "Bengen, Harold" ist zu lesen, dass sie 1912 in die von ihm geleitete Klasse für Glasgestaltung der Charlottenburger Kunstgewerbeschule eintritt. Ihr Vater ist vorerst besänftigt: "Kunstgewerblerin war immerhin nicht Künstlerin."
1915 begegnet Höch Raoul Hausmann, mit dem sie eine lange schmerzvolle Beziehung führt. In den folgenden Jahren reüssiert sie als Künstlerin und gehört bald zum Kreis der Avantgarde. Einer ihrer engsten Freunde wird Kurt Schwitters, so Neckelmann, mit Bauhauslehrer László Moholy-Nagy geht sie liebend gern ins Kino, der verheiratete Hans Arp, Mit-Initiator der Zürcher Dada-Bewegung, versucht bei ihr zu landen: "dein dein dein o komme na-na-türlich nakischt in mein kämmerlein", schreibt er ihr. 1924 empfängt De Stijl-Gründer Theo van Doesburg die Künstlerin in Paris, wo sie mit Piet Mondrian essen geht, der, so Höch, schwer litt, "wenn der Tisch nicht mit absoluter Symmetrie gedeckt war".
Im Jahr 1939 macht sie zwei wichtige Anschaffungen: ein abgelegenes Häuschen in Berlin-Heiligensee, wo sie bis zum Ende ihres Lebens zurückgezogen wohnt, sowie den Bedlington-Terrier Punta. Später kann Höch, wie Neckelmann unter Puntas Eintrag schreibt (ja, auch Haustiere kommen vor), die Hundesteuer nicht zahlen und verpfändet Arbeiten ihres ehemaligen Geliebten Hausmann. Als Punta stirbt, bekommt er eine Gedanktafel in Höchs Garten.
Ende der sechziger Jahre - Höch ist während der NS-Zeit in die innere Emigration gegangen - werden ihre Werke in Kassel ausgestellt. Neckelmann zitiert ihren Biographen Heinz Ohff, der sie damals mit dem Auto zur Vernissage fährt. Sie hatte eine Karte dabei und behauptete, dort, wo sie führen, verliefe gar keine Straße. "Frau Höch", sagte Ohffs Frau, "Sie haben eine Karte von 1919!" Weggeworfen habe sie bis zuletzt nichts. Sie war eine leidenschaftliche Sammlerin. Georgia von der Rohe, Tochter des mit Höch bekannten Mies van der Rohe, nannte das Heiligensee-Haus "ein verwunschenes Museum, angefüllt mit den Dingen ihres Lebens".
Ihr Adressbuch hat Höch über sechzig Jahre lang, von 1917 bis zu ihrem Tod 1978, angefüllt mit den Menschen ihres Lebens, von denen manche ihren Weg nur ein einziges, andere viele Male kreuzten - Museumsdirektoren und -kuratoren, Sammler, Galeristen, Familienmitglieder, Gärtner, Ärzte sowie befreundete Künstler, Literaten, Architekten, von denen viele heute weltberühmt sind.
Große Teile des 12 000 Archivalien umfassenden Höch-Nachlasses, der in der Berlinischen Galerie aufbewahrt wird, lagen bereits 2001 in kommentierten Editionen vor. Mit der Digitalisierung des Adressbuchs wurde ein weiteres, zentrales Dokument öffentlich zugänglich gemacht. Neckelmanns Werk ist dazu eine gelungene, wissenschaftlich fundierte Ergänzung. Und ein Glücksfall für all diejenigen, die sich mit Leben und Werk dieser vielseitigen Künstlerin beschäftigen wollen.
KATHARINA RUDOLPH
Harald Neckelmann (Hrsg.): "Hannah Höch". ,Mir die Welt geweitet'.
Das Adressbuch.
Transit Buchverlag, Berlin 2018. 320 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erläuterte Lebenscollage: Hannah Höchs Adressbuch
Bis vor einigen Jahren noch war es ein gutgehüteter Schatz im Archiv der Berlinischen Galerie, zu fragil, um systematisch erschlossen zu werden: das Adressbuch der Künstlerin Hannah Höch, mehr als 400 Seiten zerfleddertes vergilbtes Papier, teils gebunden, teils lose eingelegt zwischen zwei schmucklosen Pappdeckeln - mit über 1300 handgeschriebenen Einträgen. 2013 wurde das Buch restauriert und digitalisiert, seit 2015 kann man sich sogar im Netz Seite für Seite durchklicken.
Wer lieber blättert und wer vor allem mehr lesen möchte als Namen, Anschriften und Telefonnummern, der kann jetzt ein Buch zur Hand nehmen. Sein Herausgeber Harald Neckelmann hat im Nachlass der Künstlerin recherchiert, die Adressbuch-Einträge entziffert und mit Erläuterungen, Zitaten und vielen Querverweisen versehen. So ist das Buch, das allerdings nur rund 400 der über tausend Einträge enthält, nicht bloß Nachschlagewerk, sondern - zumindest für den, der sich von A bis Z durcharbeitet - auch Lebenscollage dieser Künstlerin, die als eine der ersten die Fotomontage zum eigenständigen Werk erhob und als einzige Frau zur 1918 gegründeten Berliner Dada-Bewegung gehörte.
Ein paar Adressbuch-Schlaglichter: Unter dem Buchstaben C notierte Höch den Namen ihrer jüngsten Schwester, zum Zeitpunkt der Eintragung bereits verheiratet: "Carlberg, Marianne". Mit fünfzehn muss Höch im Jahr 1904 die Schule verlassen, um sich um das neugeborene Geschwisterchen zu kümmern. Ihr Traum, Künstlerin zu werden, rückt in die Ferne. Der Vater will seine Tochter ohnehin "verheiratet wissen, aber nicht Kunst studieren lassen", wie Neckelmann Höch zitiert. Doch sie setzt sich durch. Unter "Bengen, Harold" ist zu lesen, dass sie 1912 in die von ihm geleitete Klasse für Glasgestaltung der Charlottenburger Kunstgewerbeschule eintritt. Ihr Vater ist vorerst besänftigt: "Kunstgewerblerin war immerhin nicht Künstlerin."
1915 begegnet Höch Raoul Hausmann, mit dem sie eine lange schmerzvolle Beziehung führt. In den folgenden Jahren reüssiert sie als Künstlerin und gehört bald zum Kreis der Avantgarde. Einer ihrer engsten Freunde wird Kurt Schwitters, so Neckelmann, mit Bauhauslehrer László Moholy-Nagy geht sie liebend gern ins Kino, der verheiratete Hans Arp, Mit-Initiator der Zürcher Dada-Bewegung, versucht bei ihr zu landen: "dein dein dein o komme na-na-türlich nakischt in mein kämmerlein", schreibt er ihr. 1924 empfängt De Stijl-Gründer Theo van Doesburg die Künstlerin in Paris, wo sie mit Piet Mondrian essen geht, der, so Höch, schwer litt, "wenn der Tisch nicht mit absoluter Symmetrie gedeckt war".
Im Jahr 1939 macht sie zwei wichtige Anschaffungen: ein abgelegenes Häuschen in Berlin-Heiligensee, wo sie bis zum Ende ihres Lebens zurückgezogen wohnt, sowie den Bedlington-Terrier Punta. Später kann Höch, wie Neckelmann unter Puntas Eintrag schreibt (ja, auch Haustiere kommen vor), die Hundesteuer nicht zahlen und verpfändet Arbeiten ihres ehemaligen Geliebten Hausmann. Als Punta stirbt, bekommt er eine Gedanktafel in Höchs Garten.
Ende der sechziger Jahre - Höch ist während der NS-Zeit in die innere Emigration gegangen - werden ihre Werke in Kassel ausgestellt. Neckelmann zitiert ihren Biographen Heinz Ohff, der sie damals mit dem Auto zur Vernissage fährt. Sie hatte eine Karte dabei und behauptete, dort, wo sie führen, verliefe gar keine Straße. "Frau Höch", sagte Ohffs Frau, "Sie haben eine Karte von 1919!" Weggeworfen habe sie bis zuletzt nichts. Sie war eine leidenschaftliche Sammlerin. Georgia von der Rohe, Tochter des mit Höch bekannten Mies van der Rohe, nannte das Heiligensee-Haus "ein verwunschenes Museum, angefüllt mit den Dingen ihres Lebens".
Ihr Adressbuch hat Höch über sechzig Jahre lang, von 1917 bis zu ihrem Tod 1978, angefüllt mit den Menschen ihres Lebens, von denen manche ihren Weg nur ein einziges, andere viele Male kreuzten - Museumsdirektoren und -kuratoren, Sammler, Galeristen, Familienmitglieder, Gärtner, Ärzte sowie befreundete Künstler, Literaten, Architekten, von denen viele heute weltberühmt sind.
Große Teile des 12 000 Archivalien umfassenden Höch-Nachlasses, der in der Berlinischen Galerie aufbewahrt wird, lagen bereits 2001 in kommentierten Editionen vor. Mit der Digitalisierung des Adressbuchs wurde ein weiteres, zentrales Dokument öffentlich zugänglich gemacht. Neckelmanns Werk ist dazu eine gelungene, wissenschaftlich fundierte Ergänzung. Und ein Glücksfall für all diejenigen, die sich mit Leben und Werk dieser vielseitigen Künstlerin beschäftigen wollen.
KATHARINA RUDOLPH
Harald Neckelmann (Hrsg.): "Hannah Höch". ,Mir die Welt geweitet'.
Das Adressbuch.
Transit Buchverlag, Berlin 2018. 320 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main