In diesem spektakulären Thriller rächt der junge Hannibal den Tod seiner Schwester Mischa, die in Litauen am Ende des Zweiten Weltkriegs auf bestialische Weise ermordet wird. HANNIBAL RISING schildert den atemberaubenden Rachefeldzug des genialen Siebzehnjährigen und damit die Geburt des berühmt-berüchtigten „Kannibalen“.
Thomas Harris erzählt, wie der charismatische Hannibal Lecter zum grausamen Serienmörder wird, als den ihn viele Millionen von Lesern und Kinozuschauern kennen- und fürchten gelernt haben.
Thomas Harris erzählt, wie der charismatische Hannibal Lecter zum grausamen Serienmörder wird, als den ihn viele Millionen von Lesern und Kinozuschauern kennen- und fürchten gelernt haben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2006Porträt des Künstlers als Kannibale
Thomas Harris steigt im neuen Roman "Hannibal Rising" hinab in Lecters Kindheit
Daß er kein leichtes Leben hatte, wußten wir ja von Anfang an: Hannibal Lecter, der Graf Dracula der Computer- und Handy-Ära, wie Stephen King ihn genannt hat, ist ein Psychopath mit vielen Talenten, ein außerordentlich kultivierter Massenmörder und ein Liebhaber der schönen Künste, die er um eine kannibalistische Variante erweitert hat. Hannibal, so hat ihn sein Schöpfer Thomas Harris von Anfang an angelegt, ist ein interessantes Monstrum, also ein Ungeheuer mit Vergangenheit. Jetzt wird diese Vergangenheit auf 370 Seiten enthüllt: "Hannibal Rising", der vierte Roman von Thomas Harris, in dem Lecter eine Rolle spielt, erscheint heute in den Vereinigten Staaten und morgen in der Übersetzung von Sepp Leeb im Verlag Hoffmann und Campe. Die englischsprachige Startauflage beträgt 1,3 Millionen Exemplare, in Deutschland hat Harris bislang fünf Millionen Bücher verkauft. Peter Webbers Verfilmung, an der Harris als Drehbuchautor beteiligt ist, kommt im nächsten Februar in die Kinos.
Bislang speiste sich der Reiz dieser Figur nicht zuletzt aus dem Geheimnis, das sie umgab: Lecter war eine unergründliche Figur des Schreckens, die nicht ohne sympathische Züge auszukommen brauchte, kein gebrochener, tragischer Held, sondern die Verkörperung völliger Unberechenbarkeit. Daß er Clarice Starling im "Schweigen der Lämmer" soeben noch geholfen hatte, einen Serienmörder zu fassen, mußte für die nächsten Bücher nicht viel zu bedeuten haben. Lecter verachtete zwar den Burschen, den die FBI-Agentin jagte, weil er jungen Frauen die Haut abzog, um sich ein Kleid daraus zu schneidern, aber das hieß nicht unbedingt, daß er Starling so sehr oder so wenig schätzte, daß er sie im nächsten Buch vom Tellerrand geschubst hätte. Was wissen wir schon, was im Inneren eines wankelmütigen Monstrums vor sich geht. Daß wir es nicht wissen können, macht den Reiz solcher Bücher aus. Ihre Lektüre dient nicht zuletzt der unterhaltsamen Einfühlung ins Unmenschliche.
Nur allzu unmenschlich darf es nicht sein: Wir können uns das Böse nun einmal nicht ohne das Gute vorstellen. Der geniale Kunstgriff von Harris war es, Lecter als Übermonstrum und zugleich als Perversen minderen Ranges vorzustellen. Neben Buffalo Bill, dem mottenzüchtenden Mädchenkürschner, erschien uns Lecter nämlich gar nicht mehr so krank im Kopf, im Gegenteil. Der Mann half ja dem FBI, und daß er gelegentlich seine Bewacher aufschlitzte und sich an ihren Eingeweiden labte, war zwar nicht ganz richtig, aber Dr. Lecter, so legte uns der Autor nahe, wird schon seine Gründe haben. Mit Hannibal Lecter ließ Harris dem edlen Wilden des neunzehnten Jahrhunderts den edlen Perversen folgen.
Veredelt, überfeinert und geradezu grotesk kultiviert, so schickte Harris seinen Liebling nach Florenz, wo er als Dante-Spezialist lebte, Sonette zitierte, manierliche Kohlezeichnungen berühmter Kirchen anfertigte und nie ohne Partitur ins Konzert geht. Einem Intimfeind, der ihm besonders am Herzen lag, sägte er so vorsichtig die Schädeldecke auf, daß sein Besucher mitansehen konnte und mußte, wie Lecter Teile des Hirns verspeiste. Die arme Clarice Starling wurde unter Drogen gesetzt, damit sie Lecter bei dem schaurigen Mahl Gesellschaft leistet. Schon damals lag die Vermutung nahe, daß wir es mit einem schwer degenerierten Angehörigen des Hochadels zu tun hätten und Lecter, der ja allein schon durch seinen Namen immer irgendwie amerikanisch wirkte, in Wirklichkeit ein Kind des alten Europa sei. Und tatsächlich verriet Harris im Roman andeutungsweise, daß Lecter aus Litauen stammt, wo er als Kind so schreckliche Dinge erleben mußte, daß er darüber, wie soll man sagen, aus dem Gleichgewicht geriet: Der kleine Hannibal mußte mitansehen, wie seine Schwester Mischa verspeist wurde.
Viele Leser des Romans "Hannibal" haben sich damals, also 1999, darüber geärgert, daß Harris scheinbar redselig ein so wichtiges Detail ausplauderte und dadurch Gefahr lief, den geheimnisvollen Lecter auf ein traumatisches Kindheitserlebnis zu reduzieren. Jetzt, sieben Jahre später, zeigt sich, daß Harris etwas ganz anderes im Sinne hatte. Er wollte andeuten, wie hoch er sich die Latte für seinen nächsten Roman legen würde: Hannibal sollte eine Vergangenheit, eine Kindheit und Jugend erhalten, eine Familie und eine Ausbildung. Kurzum, Harris plante das Porträt des Künstlers als junger Kannibale, ein Buch also, das das Rätsel lösen würde, den Unergründlichen aber nicht entzaubern durfte - keine ganz leichte Sache.
Harris zieht sich routiniert aus der Affäre, mehr aber auch nicht. Das Buch ist spannend, viel schlanker und ökonomischer als der doch arg überladene Vorgänger "Hannibal" - aber ein atemraubender Thriller ist es nicht geworden. Der Roman setzt ein, als Hitlers Truppen in Litauen einmarschieren und Hannibals Familie Burg Lecter verläßt, um Zuflucht in einem entlegenen Jagdhaus zu suchen. Lecters Urahn, Hannibal der Schreckliche hat in der Schlacht von Tannenberg die Deutschritter geschlagen und seine Burg von den Gefangenen errichten lassen. Zwangsarbeit also? Ja, aber Harris vergißt nicht zu erwähnen, daß Hannibal der vielleicht doch nicht ganz so Schreckliche, sein Versprechen hielt und den Rittern nach getaner Arbeit die Freiheit schenkte. Die meisten blieben, der "vorzüglichen Verpflegung wegen". Ein halbes Jahrtausend später kommen die Deutschen wieder, und bei einem Feuergefecht zwischen Russen und Deutschen müssen alle Bewohner des Hauses ihr Leben lassen, nur Hannibal und seine kleine Schwester können sich retten, bis sie marodierenden litauischen Kollaborateuren in die Hände fallen. Die kleine Schar, angeführt vom widerwärtigen Vladis Grutas, wechselt Partei und Uniform je nach Bedarf und gibt sich plündernd, mordend und vergewaltigend als Sanitätseinheit aus.
Als die Litauer vom Schnee eingeschlossen werden und die Nahrungsmittel aufgebraucht sind, passiert das Schreckliche. Hannibal kann entkommen, hat aber Gedächtnis und Sprache verloren und wächst als Insasse eines russischen Waisenhauses auf, das jetzt auf der Burg seiner Väter untergebracht ist. Als er in Paris, wohin ihn sein Onkel eines Tages holt, die Sprache wiederfindet, ist der Junge dreizehn und hat bereits seinen ersten Mord hinter sich. Sein Opfer ist ein Metzger, der Lady Murasaki, Hannibals exotische Tante und seine erste Liebe, beleidigt hatte. Von nun liegt Hannibals Bestimmung klar zutage: Er muß sein Gedächtnis wiedererlangen, um die Mörder seiner Schwester zu finden und zu töten.
Auschwitz und Hiroshima, Vichy, Kollaboration und Résistance, Kunstraub, Drogenhandel und vieles andere mehr spielt in diesem Roman eine Rolle, der zwar alle Klischees streift, aber Frontalzusammenstöße zu vermeiden weiß. Harris zeigt Hannibal als hochbegabtes Kind, das als junger Mann all seine Talente in den Dienst der Rache stellt und einen seiner Folterknechte nach dem anderen aufspürt und exekutiert. Verspeist wird indes nur einer von ihnen. Wie Hannibal der Rächer zu Hannibal dem Kannibalen wurde, wird uns Thomas Harris vermutlich im nächsten Buch verraten. Immerhin wissen wir schon jetzt, warum Hannibal, dessen Schwester von Kollaborateuren verspeist wurde, selbst zum Kollaborateur wurde: Clarice Starling muß ihn an Mischa erinnert haben.
HUBERT SPIEGEL
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Thomas Harris steigt im neuen Roman "Hannibal Rising" hinab in Lecters Kindheit
Daß er kein leichtes Leben hatte, wußten wir ja von Anfang an: Hannibal Lecter, der Graf Dracula der Computer- und Handy-Ära, wie Stephen King ihn genannt hat, ist ein Psychopath mit vielen Talenten, ein außerordentlich kultivierter Massenmörder und ein Liebhaber der schönen Künste, die er um eine kannibalistische Variante erweitert hat. Hannibal, so hat ihn sein Schöpfer Thomas Harris von Anfang an angelegt, ist ein interessantes Monstrum, also ein Ungeheuer mit Vergangenheit. Jetzt wird diese Vergangenheit auf 370 Seiten enthüllt: "Hannibal Rising", der vierte Roman von Thomas Harris, in dem Lecter eine Rolle spielt, erscheint heute in den Vereinigten Staaten und morgen in der Übersetzung von Sepp Leeb im Verlag Hoffmann und Campe. Die englischsprachige Startauflage beträgt 1,3 Millionen Exemplare, in Deutschland hat Harris bislang fünf Millionen Bücher verkauft. Peter Webbers Verfilmung, an der Harris als Drehbuchautor beteiligt ist, kommt im nächsten Februar in die Kinos.
Bislang speiste sich der Reiz dieser Figur nicht zuletzt aus dem Geheimnis, das sie umgab: Lecter war eine unergründliche Figur des Schreckens, die nicht ohne sympathische Züge auszukommen brauchte, kein gebrochener, tragischer Held, sondern die Verkörperung völliger Unberechenbarkeit. Daß er Clarice Starling im "Schweigen der Lämmer" soeben noch geholfen hatte, einen Serienmörder zu fassen, mußte für die nächsten Bücher nicht viel zu bedeuten haben. Lecter verachtete zwar den Burschen, den die FBI-Agentin jagte, weil er jungen Frauen die Haut abzog, um sich ein Kleid daraus zu schneidern, aber das hieß nicht unbedingt, daß er Starling so sehr oder so wenig schätzte, daß er sie im nächsten Buch vom Tellerrand geschubst hätte. Was wissen wir schon, was im Inneren eines wankelmütigen Monstrums vor sich geht. Daß wir es nicht wissen können, macht den Reiz solcher Bücher aus. Ihre Lektüre dient nicht zuletzt der unterhaltsamen Einfühlung ins Unmenschliche.
Nur allzu unmenschlich darf es nicht sein: Wir können uns das Böse nun einmal nicht ohne das Gute vorstellen. Der geniale Kunstgriff von Harris war es, Lecter als Übermonstrum und zugleich als Perversen minderen Ranges vorzustellen. Neben Buffalo Bill, dem mottenzüchtenden Mädchenkürschner, erschien uns Lecter nämlich gar nicht mehr so krank im Kopf, im Gegenteil. Der Mann half ja dem FBI, und daß er gelegentlich seine Bewacher aufschlitzte und sich an ihren Eingeweiden labte, war zwar nicht ganz richtig, aber Dr. Lecter, so legte uns der Autor nahe, wird schon seine Gründe haben. Mit Hannibal Lecter ließ Harris dem edlen Wilden des neunzehnten Jahrhunderts den edlen Perversen folgen.
Veredelt, überfeinert und geradezu grotesk kultiviert, so schickte Harris seinen Liebling nach Florenz, wo er als Dante-Spezialist lebte, Sonette zitierte, manierliche Kohlezeichnungen berühmter Kirchen anfertigte und nie ohne Partitur ins Konzert geht. Einem Intimfeind, der ihm besonders am Herzen lag, sägte er so vorsichtig die Schädeldecke auf, daß sein Besucher mitansehen konnte und mußte, wie Lecter Teile des Hirns verspeiste. Die arme Clarice Starling wurde unter Drogen gesetzt, damit sie Lecter bei dem schaurigen Mahl Gesellschaft leistet. Schon damals lag die Vermutung nahe, daß wir es mit einem schwer degenerierten Angehörigen des Hochadels zu tun hätten und Lecter, der ja allein schon durch seinen Namen immer irgendwie amerikanisch wirkte, in Wirklichkeit ein Kind des alten Europa sei. Und tatsächlich verriet Harris im Roman andeutungsweise, daß Lecter aus Litauen stammt, wo er als Kind so schreckliche Dinge erleben mußte, daß er darüber, wie soll man sagen, aus dem Gleichgewicht geriet: Der kleine Hannibal mußte mitansehen, wie seine Schwester Mischa verspeist wurde.
Viele Leser des Romans "Hannibal" haben sich damals, also 1999, darüber geärgert, daß Harris scheinbar redselig ein so wichtiges Detail ausplauderte und dadurch Gefahr lief, den geheimnisvollen Lecter auf ein traumatisches Kindheitserlebnis zu reduzieren. Jetzt, sieben Jahre später, zeigt sich, daß Harris etwas ganz anderes im Sinne hatte. Er wollte andeuten, wie hoch er sich die Latte für seinen nächsten Roman legen würde: Hannibal sollte eine Vergangenheit, eine Kindheit und Jugend erhalten, eine Familie und eine Ausbildung. Kurzum, Harris plante das Porträt des Künstlers als junger Kannibale, ein Buch also, das das Rätsel lösen würde, den Unergründlichen aber nicht entzaubern durfte - keine ganz leichte Sache.
Harris zieht sich routiniert aus der Affäre, mehr aber auch nicht. Das Buch ist spannend, viel schlanker und ökonomischer als der doch arg überladene Vorgänger "Hannibal" - aber ein atemraubender Thriller ist es nicht geworden. Der Roman setzt ein, als Hitlers Truppen in Litauen einmarschieren und Hannibals Familie Burg Lecter verläßt, um Zuflucht in einem entlegenen Jagdhaus zu suchen. Lecters Urahn, Hannibal der Schreckliche hat in der Schlacht von Tannenberg die Deutschritter geschlagen und seine Burg von den Gefangenen errichten lassen. Zwangsarbeit also? Ja, aber Harris vergißt nicht zu erwähnen, daß Hannibal der vielleicht doch nicht ganz so Schreckliche, sein Versprechen hielt und den Rittern nach getaner Arbeit die Freiheit schenkte. Die meisten blieben, der "vorzüglichen Verpflegung wegen". Ein halbes Jahrtausend später kommen die Deutschen wieder, und bei einem Feuergefecht zwischen Russen und Deutschen müssen alle Bewohner des Hauses ihr Leben lassen, nur Hannibal und seine kleine Schwester können sich retten, bis sie marodierenden litauischen Kollaborateuren in die Hände fallen. Die kleine Schar, angeführt vom widerwärtigen Vladis Grutas, wechselt Partei und Uniform je nach Bedarf und gibt sich plündernd, mordend und vergewaltigend als Sanitätseinheit aus.
Als die Litauer vom Schnee eingeschlossen werden und die Nahrungsmittel aufgebraucht sind, passiert das Schreckliche. Hannibal kann entkommen, hat aber Gedächtnis und Sprache verloren und wächst als Insasse eines russischen Waisenhauses auf, das jetzt auf der Burg seiner Väter untergebracht ist. Als er in Paris, wohin ihn sein Onkel eines Tages holt, die Sprache wiederfindet, ist der Junge dreizehn und hat bereits seinen ersten Mord hinter sich. Sein Opfer ist ein Metzger, der Lady Murasaki, Hannibals exotische Tante und seine erste Liebe, beleidigt hatte. Von nun liegt Hannibals Bestimmung klar zutage: Er muß sein Gedächtnis wiedererlangen, um die Mörder seiner Schwester zu finden und zu töten.
Auschwitz und Hiroshima, Vichy, Kollaboration und Résistance, Kunstraub, Drogenhandel und vieles andere mehr spielt in diesem Roman eine Rolle, der zwar alle Klischees streift, aber Frontalzusammenstöße zu vermeiden weiß. Harris zeigt Hannibal als hochbegabtes Kind, das als junger Mann all seine Talente in den Dienst der Rache stellt und einen seiner Folterknechte nach dem anderen aufspürt und exekutiert. Verspeist wird indes nur einer von ihnen. Wie Hannibal der Rächer zu Hannibal dem Kannibalen wurde, wird uns Thomas Harris vermutlich im nächsten Buch verraten. Immerhin wissen wir schon jetzt, warum Hannibal, dessen Schwester von Kollaborateuren verspeist wurde, selbst zum Kollaborateur wurde: Clarice Starling muß ihn an Mischa erinnert haben.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.12.2006Die Güte des Anthropophagen
Wo ist die maßlose Freiheit des Monsters? Thomas Harris schwächt Hannibal Lecter
Alle lieben Hannibal Lecter. Wenn diese große Figur des trivialen Erzählens ein Rätsel der Rezeption umgibt, dann ist es die innige Sympathie, die dieser Serienmörder und Menschenfleischesser weltweit bei denen auslöste, die in einem der Bücher von Thomas Harris oder in einer der Romanverfilmungen auf ihn stießen. Wir, die globalen Sympathisanten, zitterten um diesen schlimmen Übeltäter, sobald ihn die Staatsgewalt oder andere Machthaber um Freiheit und Leben bringen wollten, und es erfüllte uns mit einer nicht geringen Genugtuung, wenn der siegreiche Hannibal seinem jeweiligen Gegenspieler die fragwürdige letzte Ehre erwies, einen ausgewählten Teil seines Körpers, zum Beispiel sein noch denkendes Gehirn, zu verspeisen.
Im nun erschienenen neuesten Roman „Hannibal Rising” brät unser Held das Wangenfleisch eines Kriegsverbrechers, eines Kindermörders und Raubguthändlers, zusammen mit frischen Morcheln in einem Wald in Litauen über offenem Feuer. Wer der Handlung, die 1941 mit der Ostoffensive der deutschen Wehrmacht beginnt, bis in die späten 50er Jahre gefolgt ist, hat Hannibal Lecter als Knaben, als Jugendlichen und als jungen Mann erlebt und eben zum zweiten Mal morden gesehen. Sechs weitere Opfer werden folgen, allesamt Männer, die mehr als einen einzigen Tod verdient hätten. Dominanter noch als bereits in den vorausgegangenen Büchern ist der junge Hannibal Lecter ein Rächer. Jedem, den er zur Strecke bringt, hat Harris einen überschweren Rucksack aus Schuld aufgepackt: Mord, Folter, Vergewaltigung, Menschen- und Drogenhandel, individueller Sadismus plus die bereitwillige Beteiligung an den großen Verbrechen des Nazi-Regimes. Die maximale Schwarzzeichnung von Lecters Gegenspielern, die deshalb fast rundum wasserdichte Legitimation seiner Taten ist die erste auffällige Schwäche des Buches. Sie beschädigt den Helden zwar nur indirekt, aber doch auf eine fatale Weise. Denn in den vorausgegangenen Romanen konnten schon Dummheit, Borniertheit, Stillosigkeit für Lecter schwer genug wiegen, um einen Zeitgenossen dem Tod zu überantworten. Unvergesslich und beispielhaft befriedigend bleibt dem Leser im Gedächtnis, wie er im „Schweigen der Lämmer” einen Mithäftling zwingt, an der eigenen Zunge zu ersticken, weil dieser der FBI-Agentin Starling sein Sperma ins Gesicht geschleudert hat.
Die schockierend herrliche Willkür, die in einer derart maßlosen Abstrafung liegt und die bislang die anarchische, antizivilisatorische Freiheit dieser Figur ausmachte, wird ihr nun von Harris kein einziges Mal gegönnt. Sein Protagonist erledigt schlicht eine Handvoll der vielen Kriegsverbrecher, die dem Nürnberger Gerichtshof und anderen Tribunalen entkommen konnten. Das ist brav, allenfalls in der Art der Hinrichtung spektakulär. Hannibal Lecter, der zukünftige amerikanische Serienmörder, verhält sich in seinen europäischen Lehr- und Wanderjahren politisch korrekt. Die französische Polizei, die ihn eine Zeitlang inhaftiert, kann ihm allenfalls vorwerfen, dass er der Guillotine vorgreift.
Lesend beginnt man sich so bald nach der Figur zu sehnen, die Lecter in den bereits erschienenen Romanen gewesen ist. Im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses schien er uns weit freier, eine mysteriöse Wechselgestalt, halb ein ganz in sich gewandter Buddhist, halb ein archaischer Kopfjäger, der sich mit dem letzten Lebenshauch und dem Fleisch seines Feindes auch dessen Potenz und Aura einzuverleiben verstand.
Schwerer noch als die übertrieben gründliche Legitimation der Taten des jungen Hannibal Lecter wiegt eine zweite erzählerische Entscheidung: Thomas Harris liefert nun ausführlich die bereits im Roman „Hannibal” als Traumsequenz umrissene Begründung für die besondere seelische Gestimmtheit seiner Figur. Er greift platterdings zum Nächstliegenden: Dem zwölfjährigen Knaben Hannibal ist Schlimmes widerfahren. Ein kindliches Schockerlebnis ist die logisch leicht nachzuvollziehende Ursache seiner späteren Taten. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob die Armut dieses Einfalls oder das quietschend Mechanische, das zwanghaft Filmische seiner narrativen Durchführung, die Imagination des Lesers mehr beeinträchtigen. Harris hat parallel zum Roman auch das Drehbuch des bald in die Kinos kommenden Films geschrieben, und dass er als Autor zwei Fliegen mit einem Schlag erledigen wollte, ist im Aufbau der Szenen und in der Anlage der Dialoge ungut zu merken.
Aber auch wenn das Buch raffinierter geschrieben wäre, der Schaden bliebe im Wesentlichen derselbe. Eine wunderbar offene, unsere Ängste wie unsere uneingestandenen Begierden ansaugende Figur wird zu einem vom Trauma programmierten Automaten. Dies beraubt die Gestalt zwar nicht ihres ganzen Schreckens, aber fast vollständig ihrer Unheimlichkeit. Ihr weiteres Handeln wirkt vorhersehbar, auch die merkwürdigsten Hinrichtungsarten und Kochideen sind nun nur noch kuriose Varianten ein und desselben Wiederholungszwangs.
Soll uns Hannibal Lecter in Zukunft nicht mehr überraschen dürfen? Am Ende des nicht allzu langen, zunehmend hastig voranstolpernden Romans, dem in konsequenter Ausbeutung der Figur wohl noch ein weiterer über die amerikanischen Jünglingsjahre Lecters folgen muss, blickt man fast wehmütig auf jenen Hannibal Lecter zurück, der uns wie nur wenige Figuren der Trivialliteratur zugleich entsetzt und entzückt hat. Unerklärlich und deshalb hinreißend in ihrem Liebreiz war die Güte, zu der der Kannibale in manchen Momenten fähig war. In dieser spätmodernen Figur, in der die Autonomie des Individuums auf einen letzten eisigen Gipfel getrieben schien, schuf das Aufleuchten der Güte noch einmal jene Distanz zum Raubtier, jene humane Spanne, die einst in unergründbarer Vorzeit aufging, als zum ersten Mal ein Mensch einen anderen Menschen entgegen seinem Vorteil und ohne erkennbaren Grund verschonte. Hannibal Lecter war nie eine Bestie, weil er zur Güte fähig war. Und die Existenz seiner Güte ist als Rätsel größer und schöner als das Ausmaß seiner Grausamkeit. Besser als jeder Satz haben dies vielleicht die Augen des großen Lecter-Darstellers Anthony Hopkins gesagt, sobald sein Blick auf der FBI-Agentin Clarice Starling ruhte.
Hier glimmt auch jetzt noch ein Funken Hoffnung: Vielleicht kann der junge französische Schauspieler Gaspard Ulliel in der kommenden Verfilmung unserem geliebten Anthropophagen den Ausdruck dieser beunruhigenden Güte von Neuem verleihen. Mit der Güte kehrte dann auch die Freiheit zu Lecter zurück. Ja, eventuell kann dieser junge Darsteller, dessen linke Wange seit seiner Kindheit die Narbe eines Dobermann-Bisses ziert, auf der Leinwand heilmachen, was der allzu aufklärungswütige Autor mit Historie und Psychologie im Buch kaputt gemacht hat.GEORG KLEIN
THOMAS HARRIS: Hannibal Rising. Roman. Übersetzt von Sepp Leeb. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006. 345 Seiten, 19,95 Euro.
Jedem, den Lecter zur Strecke bringt, hat Harris einen schweren Rucksack aus Schuld aufgepackt.
Der amerikanische Serienmörder verhält sich in seinen europäischen Lehrjahren politisch sehr korrekt.
Halb Buddhist, halb Kopfjäger: Anthony Hopkins – zusammen mit Edward Norton in „Roter Drache”. Foto: Cinetext
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Wo ist die maßlose Freiheit des Monsters? Thomas Harris schwächt Hannibal Lecter
Alle lieben Hannibal Lecter. Wenn diese große Figur des trivialen Erzählens ein Rätsel der Rezeption umgibt, dann ist es die innige Sympathie, die dieser Serienmörder und Menschenfleischesser weltweit bei denen auslöste, die in einem der Bücher von Thomas Harris oder in einer der Romanverfilmungen auf ihn stießen. Wir, die globalen Sympathisanten, zitterten um diesen schlimmen Übeltäter, sobald ihn die Staatsgewalt oder andere Machthaber um Freiheit und Leben bringen wollten, und es erfüllte uns mit einer nicht geringen Genugtuung, wenn der siegreiche Hannibal seinem jeweiligen Gegenspieler die fragwürdige letzte Ehre erwies, einen ausgewählten Teil seines Körpers, zum Beispiel sein noch denkendes Gehirn, zu verspeisen.
Im nun erschienenen neuesten Roman „Hannibal Rising” brät unser Held das Wangenfleisch eines Kriegsverbrechers, eines Kindermörders und Raubguthändlers, zusammen mit frischen Morcheln in einem Wald in Litauen über offenem Feuer. Wer der Handlung, die 1941 mit der Ostoffensive der deutschen Wehrmacht beginnt, bis in die späten 50er Jahre gefolgt ist, hat Hannibal Lecter als Knaben, als Jugendlichen und als jungen Mann erlebt und eben zum zweiten Mal morden gesehen. Sechs weitere Opfer werden folgen, allesamt Männer, die mehr als einen einzigen Tod verdient hätten. Dominanter noch als bereits in den vorausgegangenen Büchern ist der junge Hannibal Lecter ein Rächer. Jedem, den er zur Strecke bringt, hat Harris einen überschweren Rucksack aus Schuld aufgepackt: Mord, Folter, Vergewaltigung, Menschen- und Drogenhandel, individueller Sadismus plus die bereitwillige Beteiligung an den großen Verbrechen des Nazi-Regimes. Die maximale Schwarzzeichnung von Lecters Gegenspielern, die deshalb fast rundum wasserdichte Legitimation seiner Taten ist die erste auffällige Schwäche des Buches. Sie beschädigt den Helden zwar nur indirekt, aber doch auf eine fatale Weise. Denn in den vorausgegangenen Romanen konnten schon Dummheit, Borniertheit, Stillosigkeit für Lecter schwer genug wiegen, um einen Zeitgenossen dem Tod zu überantworten. Unvergesslich und beispielhaft befriedigend bleibt dem Leser im Gedächtnis, wie er im „Schweigen der Lämmer” einen Mithäftling zwingt, an der eigenen Zunge zu ersticken, weil dieser der FBI-Agentin Starling sein Sperma ins Gesicht geschleudert hat.
Die schockierend herrliche Willkür, die in einer derart maßlosen Abstrafung liegt und die bislang die anarchische, antizivilisatorische Freiheit dieser Figur ausmachte, wird ihr nun von Harris kein einziges Mal gegönnt. Sein Protagonist erledigt schlicht eine Handvoll der vielen Kriegsverbrecher, die dem Nürnberger Gerichtshof und anderen Tribunalen entkommen konnten. Das ist brav, allenfalls in der Art der Hinrichtung spektakulär. Hannibal Lecter, der zukünftige amerikanische Serienmörder, verhält sich in seinen europäischen Lehr- und Wanderjahren politisch korrekt. Die französische Polizei, die ihn eine Zeitlang inhaftiert, kann ihm allenfalls vorwerfen, dass er der Guillotine vorgreift.
Lesend beginnt man sich so bald nach der Figur zu sehnen, die Lecter in den bereits erschienenen Romanen gewesen ist. Im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses schien er uns weit freier, eine mysteriöse Wechselgestalt, halb ein ganz in sich gewandter Buddhist, halb ein archaischer Kopfjäger, der sich mit dem letzten Lebenshauch und dem Fleisch seines Feindes auch dessen Potenz und Aura einzuverleiben verstand.
Schwerer noch als die übertrieben gründliche Legitimation der Taten des jungen Hannibal Lecter wiegt eine zweite erzählerische Entscheidung: Thomas Harris liefert nun ausführlich die bereits im Roman „Hannibal” als Traumsequenz umrissene Begründung für die besondere seelische Gestimmtheit seiner Figur. Er greift platterdings zum Nächstliegenden: Dem zwölfjährigen Knaben Hannibal ist Schlimmes widerfahren. Ein kindliches Schockerlebnis ist die logisch leicht nachzuvollziehende Ursache seiner späteren Taten. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob die Armut dieses Einfalls oder das quietschend Mechanische, das zwanghaft Filmische seiner narrativen Durchführung, die Imagination des Lesers mehr beeinträchtigen. Harris hat parallel zum Roman auch das Drehbuch des bald in die Kinos kommenden Films geschrieben, und dass er als Autor zwei Fliegen mit einem Schlag erledigen wollte, ist im Aufbau der Szenen und in der Anlage der Dialoge ungut zu merken.
Aber auch wenn das Buch raffinierter geschrieben wäre, der Schaden bliebe im Wesentlichen derselbe. Eine wunderbar offene, unsere Ängste wie unsere uneingestandenen Begierden ansaugende Figur wird zu einem vom Trauma programmierten Automaten. Dies beraubt die Gestalt zwar nicht ihres ganzen Schreckens, aber fast vollständig ihrer Unheimlichkeit. Ihr weiteres Handeln wirkt vorhersehbar, auch die merkwürdigsten Hinrichtungsarten und Kochideen sind nun nur noch kuriose Varianten ein und desselben Wiederholungszwangs.
Soll uns Hannibal Lecter in Zukunft nicht mehr überraschen dürfen? Am Ende des nicht allzu langen, zunehmend hastig voranstolpernden Romans, dem in konsequenter Ausbeutung der Figur wohl noch ein weiterer über die amerikanischen Jünglingsjahre Lecters folgen muss, blickt man fast wehmütig auf jenen Hannibal Lecter zurück, der uns wie nur wenige Figuren der Trivialliteratur zugleich entsetzt und entzückt hat. Unerklärlich und deshalb hinreißend in ihrem Liebreiz war die Güte, zu der der Kannibale in manchen Momenten fähig war. In dieser spätmodernen Figur, in der die Autonomie des Individuums auf einen letzten eisigen Gipfel getrieben schien, schuf das Aufleuchten der Güte noch einmal jene Distanz zum Raubtier, jene humane Spanne, die einst in unergründbarer Vorzeit aufging, als zum ersten Mal ein Mensch einen anderen Menschen entgegen seinem Vorteil und ohne erkennbaren Grund verschonte. Hannibal Lecter war nie eine Bestie, weil er zur Güte fähig war. Und die Existenz seiner Güte ist als Rätsel größer und schöner als das Ausmaß seiner Grausamkeit. Besser als jeder Satz haben dies vielleicht die Augen des großen Lecter-Darstellers Anthony Hopkins gesagt, sobald sein Blick auf der FBI-Agentin Clarice Starling ruhte.
Hier glimmt auch jetzt noch ein Funken Hoffnung: Vielleicht kann der junge französische Schauspieler Gaspard Ulliel in der kommenden Verfilmung unserem geliebten Anthropophagen den Ausdruck dieser beunruhigenden Güte von Neuem verleihen. Mit der Güte kehrte dann auch die Freiheit zu Lecter zurück. Ja, eventuell kann dieser junge Darsteller, dessen linke Wange seit seiner Kindheit die Narbe eines Dobermann-Bisses ziert, auf der Leinwand heilmachen, was der allzu aufklärungswütige Autor mit Historie und Psychologie im Buch kaputt gemacht hat.GEORG KLEIN
THOMAS HARRIS: Hannibal Rising. Roman. Übersetzt von Sepp Leeb. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006. 345 Seiten, 19,95 Euro.
Jedem, den Lecter zur Strecke bringt, hat Harris einen schweren Rucksack aus Schuld aufgepackt.
Der amerikanische Serienmörder verhält sich in seinen europäischen Lehrjahren politisch sehr korrekt.
Halb Buddhist, halb Kopfjäger: Anthony Hopkins – zusammen mit Edward Norton in „Roter Drache”. Foto: Cinetext
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Georg Klein ist schwer enttäuscht von diesem neuen Hannibal Lecter-Roman, den Autor Thomas Harris abgeliefert hat. Beleuchtet werden die Jahre des Massenmörders, als er seine ersten Morde beging - die allesamt, zu Kleins großer Enttäuschung, eine "rundum wasserdichte Legitimation" haben, weil Lecter sich in offenbar unerträglicher politischer Korrektheit nur an Mördern, Folterern und Kriegsverbrechern vergreift. Das ist in den Augen des Rezensenten für die Zeichnung der Figur ein fast ebenso großer Faux-Pas wie der Umstand, dass Harris Lecters Kindheitstraumata auf recht banale Weise psychologisiert. Zudem macht sich für ihn auf störende Weise bemerkbar, dass Harris parallel zum Buch am Drehbuch schrieb. Doch auch wenn der Roman stilistisch besser gelungen wäre - die erzählerischen Defizite würden nach Meinung des Rezensenten damit keinen Deut besser. So hofft Klein, dass der neue Lecter-Dasteller Gaspard Ulliel wenigstens den Film rettet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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