Hanno ist sauer. Er muss sein Zimmer vorübergehend abgeben, und zwar ausgerechnet an Pien. »Es ist ein Notfall«, sagt seine Mutter.Pien geht in Hannos Klasse, hat Zöpfe und Spinnenbeine und ist ziemlich tollpatschig. Sie kann noch nicht mal Rad fahren, fällt vom Baum und behauptet, eine polnische Prinzessin zu sein. Dabei hat sie ihren Vater, einen berühmten Dichter, noch nie gesehen.Hanno verzieht sich lieber in die Fahrradwerkstatt von Kees, sieht ihm bei der Arbeit zu und fischt sich Glückskekse aus der Dose auf dem Regal. Oder er arbeitet an seinen Eisentieren, der Sattelmaus zum Beispiel oder der Zahnradeule.Eines Nachts entdeckt Hanno, dass bei Pien Licht brennt. Was sie wohl in ihr rotes Heft schreibt?Eine berührende Geschichte über Ausgrenzung, wahre und falsche Freunde, einen abwesenden Vater und übers Gedichteschreiben.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Heike Nieder zeigt sich so berührt wie beeindruckt von Annejan Mieras Geschichte über Hanno, in dessen Familienleben plötzlich ein unerwarteter Gast auftaucht. So beeindruckt, dass sie das Buch direkt allen Lesenden zwischen 9 und 99 empfiehlt. Zu den großen Stärken von "Hanno und der Notfall" gehören insbesondere die Direktheit und die Authentizität der Erzählung. Sie machen es leicht, so Nieder, mit Hanno mitzufühlen, die Irritation und das Misstrauen etwa zu verstehen, als Hannos Mutter ankündigt, sie würde gerne eine von Hannos Klassenkameradinnen, deren Mutter es nicht gut geht, in der Familie aufnehmen. Mit Vergnügen liest Nieder, wie Hanno und das Mädchen Pien sich langsam annähern. Ganz besonders begeistert ist sie jedoch davon, wie Mieras Fiktion und Wirklichkeit miteinander verwebt, wodurch sie diesem Roman eine besondere Poesie mitgibt - in mehrerlei Hinsicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.09.2022Warum hier, warum ich
In „Hanno und der Notfall“ muss ein Junge sein Zimmer hergeben
Die neue Zeitrechnung beginnt an einem Freitag. „Wir bekommen einen Gast“, sagt Mams zu Hanno und Tim. „Das könnte unangenehm werden“, denkt Hanno. Und noch entsetzter ist er, als er erfährt, um wen es sich handelt. Pien, ein Mädchen aus seiner Klasse. „Ihre Mutter ist sehr müde, Hanno, ich möchte Pien gern dein Zimmer geben“, erklärt Mams. Hannos Gedanken überschlagen sich. Warum hier, warum Pien, warum so lange, warum mein Zimmer, was werden Lasse und Stan sagen, was werden die Fußballer denken?
Schon auf den ersten fünf Seiten zeigen sich die Stärken des Romans „Hanno und der Notfall“ der niederländischen Autorin Annejan Mieras: die Unmittelbarkeit und die Glaubwürdigkeit der Erzählung. Wir sitzen mit am Tisch, als Hannos und Tims Mutter den neuen Gast ankündigt, wir fühlen mit Hanno, der uns seine Gedanken ungefiltert entgegenschleudert. Wir begleiten den Zehnjährigen durch die kommenden drei Wochen, in denen er sich zunächst gegen Pien sträubt, sie sogar schlecht macht vor seinen Klassenkameraden, weil er glaubt, das Mädchen werde von seinen Eltern bevorzugt – und wie er sich am Ende dann doch mit ihr anfreundet.
Eine Schlüsselfigur in diesem Prozess ist der Fahrradmechaniker Kees, dem Hanno vertraut und den er bewundert: „Kees hat viel Glück. Eine große Werkstatt nur für ihn allein, immer das Radio an, mit schmutzigen Händen essen, einen Schrank voller Zahnräder, eine Hochdruckfahrradpumpe und eine volle Keksdose.“ Kees hatte Hanno vor einiger Zeit auf die Idee gebracht, aus ausrangierten Fahrradteilen Eisentiere zu basteln, was inzwischen zu Hannos Lieblingsbeschäftigung geworden ist. Als Hanno dem Fahrradmechaniker von seinen Sorgen erzählt, rät Kees, er solle sich ein paar Tage genau anschauen, was passiert. Hanno befolgt den Rat und spricht seine Beobachtungen in ein Diktiergerät: Dass Pien Angst vor Dreck hat. Dass sie vielleicht stinkt. Dass sie den Teller nicht leer essen muss. Dass sie behauptet, eine Prinzessin zu sein.
Ob das wohl stimmt? Stan und Lasse aus Hannos Klasse sagen, er soll Piens Zimmer (das ja eigentlich Hannos ist) nach Beweisen für ihr Prinzessinnensein durchsuchen. Hanno fühlt, dass das nicht richtig ist, macht es aber trotzdem. Er findet zwar keine Krone, aber einen anderen Schatz: ein rotes Schulheft mit einigen ordentlich geschriebenen Zeilen und vielen durchgestrichenen Wörtern. Gedichte?
Was es damit auf sich hat und was diese Verse mit der Sehnsucht Piens nach ihrem in Polen verschollenen Vater zu tun haben, erzählt Pien Hanno wenig später in einem ersten vertrauten Gespräch, als er sie in der Nacht schreibend auf ihrem Bett findet. Hier sprechen sie auch über Piens Mutter. Hanno versteht jetzt, dass sie keineswegs „faul“ ist, weil sie sich in einem „Hotel“ ausruht, sondern dass sie der Verlust ihres Mannes krankgemacht hat. Am Ende ist es Kees, der das Missverständnis um die Identität von Piens Vater auflöst und ihr somit ermöglicht, sich von ihm zu emanzipieren. Das verändert auch ihre Beziehung zu Hanno. Und Hanno selbst entwickelt Verständnis für die Situation des Mädchens.
Auf den letzten Seiten des Buches lesen wir neben der Biografie der polnischen Dichterin Wisława Szymborska, die 2012 in Krakau verstorben ist, auch die des Mädchens Pien van Putten. Es heißt, dass ihre Gedichte, die in der Erzählung hinter jedem Kapitel stehen und von Wisława Szymborska inspiriert wurden, kürzlich in dem Gedichtband „Jetzt“ erschienen sind. Wer nach den beiden Dichterinnen forscht, wird Wisława Szymborska schnell finden. Sie zählt zu den bedeutendsten Lyrikerinnen Polens und hat 1996 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Und Pien van Putten? Wer sie sucht, findet sie nicht. Pien ist fiktiv. Das Spiel mit Realität und Fiktion, das Annejan Mieras auch in ihrer Geschichte in Bezug auf Piens Vater anwendet, findet in diesen beiden gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Biografien seinen Höhepunkt. Piens Gedichte, wie sie in dem Gedichtband „Jetzt“ erschienen sind, oder wie sie hätten erscheinen können, sind danach in Gänze abgedruckt.
Dieses Büchlein, das Linde Faas in wenigen Pinselstrichen mit zahlreichen Eisentieren verziert und Andrea Kluitmann aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt hat, ist poetisch, authentisch und klug, eine unbedingte Empfehlung für alle zwischen neun und 99
.
HEIKE NIEDER
Pien hat Angst vor Dreck.
Und sie behauptet,
eine Prinzessin zu sein
Annejan Mieras:
Hanno und der Notfall. Illustrationen von
Linde Faas. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann.
Gerstenberg-Verlag, 2022. 192 Seiten,
14 Euro. Ab neun Jahren.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In „Hanno und der Notfall“ muss ein Junge sein Zimmer hergeben
Die neue Zeitrechnung beginnt an einem Freitag. „Wir bekommen einen Gast“, sagt Mams zu Hanno und Tim. „Das könnte unangenehm werden“, denkt Hanno. Und noch entsetzter ist er, als er erfährt, um wen es sich handelt. Pien, ein Mädchen aus seiner Klasse. „Ihre Mutter ist sehr müde, Hanno, ich möchte Pien gern dein Zimmer geben“, erklärt Mams. Hannos Gedanken überschlagen sich. Warum hier, warum Pien, warum so lange, warum mein Zimmer, was werden Lasse und Stan sagen, was werden die Fußballer denken?
Schon auf den ersten fünf Seiten zeigen sich die Stärken des Romans „Hanno und der Notfall“ der niederländischen Autorin Annejan Mieras: die Unmittelbarkeit und die Glaubwürdigkeit der Erzählung. Wir sitzen mit am Tisch, als Hannos und Tims Mutter den neuen Gast ankündigt, wir fühlen mit Hanno, der uns seine Gedanken ungefiltert entgegenschleudert. Wir begleiten den Zehnjährigen durch die kommenden drei Wochen, in denen er sich zunächst gegen Pien sträubt, sie sogar schlecht macht vor seinen Klassenkameraden, weil er glaubt, das Mädchen werde von seinen Eltern bevorzugt – und wie er sich am Ende dann doch mit ihr anfreundet.
Eine Schlüsselfigur in diesem Prozess ist der Fahrradmechaniker Kees, dem Hanno vertraut und den er bewundert: „Kees hat viel Glück. Eine große Werkstatt nur für ihn allein, immer das Radio an, mit schmutzigen Händen essen, einen Schrank voller Zahnräder, eine Hochdruckfahrradpumpe und eine volle Keksdose.“ Kees hatte Hanno vor einiger Zeit auf die Idee gebracht, aus ausrangierten Fahrradteilen Eisentiere zu basteln, was inzwischen zu Hannos Lieblingsbeschäftigung geworden ist. Als Hanno dem Fahrradmechaniker von seinen Sorgen erzählt, rät Kees, er solle sich ein paar Tage genau anschauen, was passiert. Hanno befolgt den Rat und spricht seine Beobachtungen in ein Diktiergerät: Dass Pien Angst vor Dreck hat. Dass sie vielleicht stinkt. Dass sie den Teller nicht leer essen muss. Dass sie behauptet, eine Prinzessin zu sein.
Ob das wohl stimmt? Stan und Lasse aus Hannos Klasse sagen, er soll Piens Zimmer (das ja eigentlich Hannos ist) nach Beweisen für ihr Prinzessinnensein durchsuchen. Hanno fühlt, dass das nicht richtig ist, macht es aber trotzdem. Er findet zwar keine Krone, aber einen anderen Schatz: ein rotes Schulheft mit einigen ordentlich geschriebenen Zeilen und vielen durchgestrichenen Wörtern. Gedichte?
Was es damit auf sich hat und was diese Verse mit der Sehnsucht Piens nach ihrem in Polen verschollenen Vater zu tun haben, erzählt Pien Hanno wenig später in einem ersten vertrauten Gespräch, als er sie in der Nacht schreibend auf ihrem Bett findet. Hier sprechen sie auch über Piens Mutter. Hanno versteht jetzt, dass sie keineswegs „faul“ ist, weil sie sich in einem „Hotel“ ausruht, sondern dass sie der Verlust ihres Mannes krankgemacht hat. Am Ende ist es Kees, der das Missverständnis um die Identität von Piens Vater auflöst und ihr somit ermöglicht, sich von ihm zu emanzipieren. Das verändert auch ihre Beziehung zu Hanno. Und Hanno selbst entwickelt Verständnis für die Situation des Mädchens.
Auf den letzten Seiten des Buches lesen wir neben der Biografie der polnischen Dichterin Wisława Szymborska, die 2012 in Krakau verstorben ist, auch die des Mädchens Pien van Putten. Es heißt, dass ihre Gedichte, die in der Erzählung hinter jedem Kapitel stehen und von Wisława Szymborska inspiriert wurden, kürzlich in dem Gedichtband „Jetzt“ erschienen sind. Wer nach den beiden Dichterinnen forscht, wird Wisława Szymborska schnell finden. Sie zählt zu den bedeutendsten Lyrikerinnen Polens und hat 1996 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Und Pien van Putten? Wer sie sucht, findet sie nicht. Pien ist fiktiv. Das Spiel mit Realität und Fiktion, das Annejan Mieras auch in ihrer Geschichte in Bezug auf Piens Vater anwendet, findet in diesen beiden gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Biografien seinen Höhepunkt. Piens Gedichte, wie sie in dem Gedichtband „Jetzt“ erschienen sind, oder wie sie hätten erscheinen können, sind danach in Gänze abgedruckt.
Dieses Büchlein, das Linde Faas in wenigen Pinselstrichen mit zahlreichen Eisentieren verziert und Andrea Kluitmann aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt hat, ist poetisch, authentisch und klug, eine unbedingte Empfehlung für alle zwischen neun und 99
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HEIKE NIEDER
Pien hat Angst vor Dreck.
Und sie behauptet,
eine Prinzessin zu sein
Annejan Mieras:
Hanno und der Notfall. Illustrationen von
Linde Faas. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann.
Gerstenberg-Verlag, 2022. 192 Seiten,
14 Euro. Ab neun Jahren.
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