Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.2002Heißes Blutbad zur Entspannung
Bataille als Brechstange: Reiner Niehoff erklärt Hans Henny Jahnn
Für speziell sich ausbildende Leser und Kenner des Werks von Hans Henny Jahnn ist eine umfangreiche Arbeit erschienen, die mit der grundlegenden Maßgabe von Georges Batailles Theorie der Grenzüberschreitung das Werk Jahnns interpretiert. Batailles "Kunst der Überschreitung", die Reiner Niehoff ausführlich expliziert, meint Kunst als religiös inkarniertes Reglement dieser Überschreitung (zum Beispiel säkularer Normen). Die kulturelle Institution, die die Überschreitung gesellschaftlicher Regeln wiederum "regelt", sei die Religion; in ihr sei der Umsturz der Ordnung aufgehoben. Freilich ist das von Niehoff plausibel explizierte Theoriegeflecht weitaus dichter, als es hier auch nur angedeutet werden kann.
Ausgehend von der Beschreibung der jugendlichen Bemühungen Jahnns und seines Freundes Gottlieb Harms um die Glaubensgemeinde UGRINO, in der sie solche existentiellen Überschreitungen quasireligiös erfahrbar und lebbar machen wollten, verfolgt Niehoff Batailles Theoriespur dann durch das gesamte dramatische und epische Werk und formuliert die These, daß UGRINO ebenso wie das literarische Werk Jahnns der Versuch gewesen sei, "die Grenze der profanen Welt aufzuspüren und durch den Akt ihrer Überschreitung in eine grundsätzlich andere und also heilige Welt einzutreten".
Der erste Teil des Buches über die Jahnnsche Glaubensgemeinde ist gut recherchiert und geradezu spannend erzählt, trotz der konsequenten Applikation der Batailleschen Theorie. Die avisierte "andere Welt" UGRINOs freilich war keineswegs eine offene Welt, wie man entsprechend der beanspruchten Grenzüberschreitung vermuten könnte. UGRINO sollte die alte traditionelle, heuchelnde und verlogene "kristliche" Welt zwar ablösen, war aber selbst eine autoritär verfügte und sakral und erhaben installierte "Schicksalsbühne", auf der der Mensch, dem in sich strömenden Blut ausgeliefert, sich dem göttlich inkarnierten Priester-Dichter, der künstlerischen Seher- und Verkündergestalt anzuvertrauen habe.
UGRINO war ein durch und durch hierarchisch angelegtes Kunst- und Künstlerprogramm: Geprägt von traditionellen Institutionen, "imitierte seine Oberleitung das Priestertum und erbte dessen hierarchisch-autoritäre Stellung", seine Mitglieder hatten passiv zu bleiben, seine Schriften wurden durch die Leitung kanonisiert, Geltung hatte nur, was von der Leitung (Jahnn und Harms) dekretiert worden war - UGRINO war im Grunde eine der monarchischen nachgebildete Ordnung mit der Orgel als ihrem heiligen "königlichen" Instrument und ihrem charismatischen Führer, dem Dichter, Seher und Priester Hans Henny Jahnn. Da gab es, so konstatiert auch Niehoff, durchaus Anklänge an spätere nationalsozialistische Ideen, die Jahnn dann allerdings mit seinem literarischen Werk alsbald gründlich desavouierte.
UGRINOs erhabene Religionsstiftung kam ja nur in theoretischen Ansätzen und auf ein paar Quadratmetern Pachtgelände, also eigentlich nie wirklich zustande. Seine kultische Sakralität wurde von Jahnn deshalb ins Literarische verlagert, ganz entschieden in seinem ersten alle Normen sprengenden Stück "Pastor Ephraim Magnus", 1916/17 entstanden, 1919 publiziert, 1923 von Brecht und Bronnen inszeniert, nach einer Woche abgesetzt und von einem damals maßgeblichen Kritiker wie Julius Bab als "Koprolalie" in den Giftschrank der Menschheit verbannt - also eine Überschreitung faßbarer Normen par excellence und eine Provokation ersten Ranges, die viel zu Jahnns permanenter literarischer Exterritorialität beigetragen hat.
Neben Bataille argumentiert Niehoff noch mit dem kultisch inspirierten "Theater der Grausamkeit" Antonin Artauds und der unerträglichen Inkommensurabilität ekstatischer Gewalt bei de Sade, zieht also alles bei, was als Erklärungsmuster des erratischen und exorbitanten Werkes Hans Henny Jahnns dienen kann, und unternimmt damit eine imponierende Interpretation dessen, als was er den "Pastor Ephraim Magnus" selbst charakterisiert: nämlich als den Versuch, "ein Bewußtsein von dem zu bekommen, was sich dem Bewußtsein sperrt". Eine Formel, die den angemessenen Blick auf das gesamte Werk Hans Henny Jahnns beschreibt und öffnet.
Ihr Ertrag ist eine sehr scharfsinnige und sehr komplexe Abhandlung, die dem Leser vieles erschließt, wenn er denn den theoretischen Vorgaben Niehoffs folgt. Immerhin bieten sie einen interessanten, wenn auch anstrengenden Weg, um das sperrige und widersprüchliche Werk Jahnns aufzubrechen und wenigstens halbwegs zu erklären.
HEINZ LUDWIG ARNOLD.
Reiner Niehoff: "Hans Henny Jahnn. Die Kunst der Überschreitung." Verlag Matthes & Seitz, München 2001. 525 S., Abb., geb., 58,-.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bataille als Brechstange: Reiner Niehoff erklärt Hans Henny Jahnn
Für speziell sich ausbildende Leser und Kenner des Werks von Hans Henny Jahnn ist eine umfangreiche Arbeit erschienen, die mit der grundlegenden Maßgabe von Georges Batailles Theorie der Grenzüberschreitung das Werk Jahnns interpretiert. Batailles "Kunst der Überschreitung", die Reiner Niehoff ausführlich expliziert, meint Kunst als religiös inkarniertes Reglement dieser Überschreitung (zum Beispiel säkularer Normen). Die kulturelle Institution, die die Überschreitung gesellschaftlicher Regeln wiederum "regelt", sei die Religion; in ihr sei der Umsturz der Ordnung aufgehoben. Freilich ist das von Niehoff plausibel explizierte Theoriegeflecht weitaus dichter, als es hier auch nur angedeutet werden kann.
Ausgehend von der Beschreibung der jugendlichen Bemühungen Jahnns und seines Freundes Gottlieb Harms um die Glaubensgemeinde UGRINO, in der sie solche existentiellen Überschreitungen quasireligiös erfahrbar und lebbar machen wollten, verfolgt Niehoff Batailles Theoriespur dann durch das gesamte dramatische und epische Werk und formuliert die These, daß UGRINO ebenso wie das literarische Werk Jahnns der Versuch gewesen sei, "die Grenze der profanen Welt aufzuspüren und durch den Akt ihrer Überschreitung in eine grundsätzlich andere und also heilige Welt einzutreten".
Der erste Teil des Buches über die Jahnnsche Glaubensgemeinde ist gut recherchiert und geradezu spannend erzählt, trotz der konsequenten Applikation der Batailleschen Theorie. Die avisierte "andere Welt" UGRINOs freilich war keineswegs eine offene Welt, wie man entsprechend der beanspruchten Grenzüberschreitung vermuten könnte. UGRINO sollte die alte traditionelle, heuchelnde und verlogene "kristliche" Welt zwar ablösen, war aber selbst eine autoritär verfügte und sakral und erhaben installierte "Schicksalsbühne", auf der der Mensch, dem in sich strömenden Blut ausgeliefert, sich dem göttlich inkarnierten Priester-Dichter, der künstlerischen Seher- und Verkündergestalt anzuvertrauen habe.
UGRINO war ein durch und durch hierarchisch angelegtes Kunst- und Künstlerprogramm: Geprägt von traditionellen Institutionen, "imitierte seine Oberleitung das Priestertum und erbte dessen hierarchisch-autoritäre Stellung", seine Mitglieder hatten passiv zu bleiben, seine Schriften wurden durch die Leitung kanonisiert, Geltung hatte nur, was von der Leitung (Jahnn und Harms) dekretiert worden war - UGRINO war im Grunde eine der monarchischen nachgebildete Ordnung mit der Orgel als ihrem heiligen "königlichen" Instrument und ihrem charismatischen Führer, dem Dichter, Seher und Priester Hans Henny Jahnn. Da gab es, so konstatiert auch Niehoff, durchaus Anklänge an spätere nationalsozialistische Ideen, die Jahnn dann allerdings mit seinem literarischen Werk alsbald gründlich desavouierte.
UGRINOs erhabene Religionsstiftung kam ja nur in theoretischen Ansätzen und auf ein paar Quadratmetern Pachtgelände, also eigentlich nie wirklich zustande. Seine kultische Sakralität wurde von Jahnn deshalb ins Literarische verlagert, ganz entschieden in seinem ersten alle Normen sprengenden Stück "Pastor Ephraim Magnus", 1916/17 entstanden, 1919 publiziert, 1923 von Brecht und Bronnen inszeniert, nach einer Woche abgesetzt und von einem damals maßgeblichen Kritiker wie Julius Bab als "Koprolalie" in den Giftschrank der Menschheit verbannt - also eine Überschreitung faßbarer Normen par excellence und eine Provokation ersten Ranges, die viel zu Jahnns permanenter literarischer Exterritorialität beigetragen hat.
Neben Bataille argumentiert Niehoff noch mit dem kultisch inspirierten "Theater der Grausamkeit" Antonin Artauds und der unerträglichen Inkommensurabilität ekstatischer Gewalt bei de Sade, zieht also alles bei, was als Erklärungsmuster des erratischen und exorbitanten Werkes Hans Henny Jahnns dienen kann, und unternimmt damit eine imponierende Interpretation dessen, als was er den "Pastor Ephraim Magnus" selbst charakterisiert: nämlich als den Versuch, "ein Bewußtsein von dem zu bekommen, was sich dem Bewußtsein sperrt". Eine Formel, die den angemessenen Blick auf das gesamte Werk Hans Henny Jahnns beschreibt und öffnet.
Ihr Ertrag ist eine sehr scharfsinnige und sehr komplexe Abhandlung, die dem Leser vieles erschließt, wenn er denn den theoretischen Vorgaben Niehoffs folgt. Immerhin bieten sie einen interessanten, wenn auch anstrengenden Weg, um das sperrige und widersprüchliche Werk Jahnns aufzubrechen und wenigstens halbwegs zu erklären.
HEINZ LUDWIG ARNOLD.
Reiner Niehoff: "Hans Henny Jahnn. Die Kunst der Überschreitung." Verlag Matthes & Seitz, München 2001. 525 S., Abb., geb., 58,-
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Als die wohl bedeutendste Untersuchung zu Jahnn betrachtet Uwe Schweikert diesen Band, den er zugleich anspruchsvoll und klar geschrieben findet. Der vom Autor vorgeschlagenen Lektüre des Jahnnschen Gesamtwerks als mit der philosophischen Anthropologie Batailles zu interpretierenden "Akt der Transgression" ist der Rezensent bereitwillig gefolgt, um so zur "Wurzel von Jahnns Ästhetik" vorzudringen: Dem Verlangen nach einer "Resakralisierung des Daseins" im Vorgang der explosiven Entgrenzung. Niehoffs Weg dahin, ausgehend von Jahnns Gründung der neuheidnischen Glaubensgemeinschaft Ugrino, scheint Schweikert einzuleuchten (fehlen ihm auch mitunter die Vergleiche zu anderen Autoren mit ähnlichen Ansprüchen), das Fazit des Buches, demnach Jahnns Kunst sich das Ausgeschiedene, Abgedrängte zur Aufgabe macht, will er gern unterstreichen. Und auch, dass es die bild- und sprachvisionäre Gewalt ist, die an Jahnn fasziniert, eine Gewalt, "vor der der beliebte Hammelsprung zwischen Irrationalität und Vernunft versagt".
© Perlentaucher Medien GmbH
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