Missouri, 1985: Um vor den Problemen zu Hause zu fliehen, nimmt der fünfzehnjährige Sam einen Ferienjob in einem alten Kino an. Und einen magischen Sommer lang ist alles auf den Kopf gestellt. Er findet Freunde, verliebt sich und entdeckt die Geheimnisse seiner Heimatstadt. Zum ersten Mal ist er kein unscheinbarer Außenseiter mehr. Bis etwas passiert, das ihn zwingt, erwachsen zu werden. Eine Hommage an 80's Coming-of-Age-Filme wie 'The Breakfast Club' und 'Stand By Me' - die Geschichte eines Sommers, den man nie mehr vergisst. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2022.
»Ein Ausnahmetalent in der jungen deutschen Literatur.« Claudio Armbruster / ZDF ZDF
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2021Sein amerikanischer Traum
Benedict Wells ist ein weltweit erfolgreicher deutschsprachiger Schriftsteller. Sein neuer Roman "Hard Land" ist in den Vereinigten Staaten angesiedelt, und alles wird dort gut.
Neunundvierzig Geheimnisse, heißt es in "Hard Land", habe die amerikanische Kleinstadt Grady, und neunundvierzig Nummern bilden die Kapitel des neuen Romans von Benedict Wells, der sich zur Gänze in dieser fiktiven Ortschaft mit ihren zwanzigtausend Einwohnern abspielt. Vier von ihnen bilden für elf Sommerwochen eine Clique: Kristie Andretti, Brandon Jameson, Cameron Leithauser und Sam Turner. Letzterer ist der Ich-Erzähler des Buchs, das Geschehen setzt kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag ein, die drei anderen sind zwei Jahre älter und stehen vor dem Abschied aus der Heimat; Studienplätze in New York, Los Angeles und Chicago warten bereits. Das ist doch etwas anderes als das ländliche Missouri. Aber was wird aus Sam, der gerade erst den Anschluss an die drei Älteren gefunden und sich damit über die familiäre Tristesse aus krebskranker Mutter und arbeitslosem Vater hinweggetröstet hat?
Das ist das handlungstreibende Geheimnis des neuen Wells-Romans. Darum wird er wieder weltweit viele Leser finden. Jeder dürfte in seiner Jugend ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie Sam, auch wenn die jeweiligen heimischen Begleitumstände hoffentlich weniger traurig waren. Die Freude über neue Freundschaften und die Erkenntnis ihrer Zerbrechlichkeit beim Übergang ins Erwachsenendasein sind eine anthropologische Konstante, deren Schilderungen ein eigenes Genre hervorgebracht haben, das auf den Namen "Coming of Age" hört. In "Hard Land" wird diese Erzählform literaturhistorisch zurückverfolgt bis zu einem Buch, das auch den Namen "Hard Land" trägt: einen 1893 veröffentlichten Gedichtzyklus von William J. Morris, den berühmtesten Sohn der Stadt Grady, dessen Werk dort denn auch zum obligatorischen College-Prüfungsstoff gehört. Natürlich hat sich Wells auch diesen literarischen Hintergrund ausgedacht - bis hin zu ganzen Passagen aus der schwülstigen Morris-Lyrik, die übrigens auch den Mythos der neunundvierzig Stadtgeheimnisse in die Welt gesetzt hat.
Das größte Geheimnis des realexistierenden Romans "Hard Land" ist indes, wie es Benedict Wells als Schriftsteller des Jahrgangs 1984 gelungen ist, eine Jugendgeschichte aus dem Jahr 1985 so zu erzählen, dass man selbst als ungefährer Altersgenosse der Protagonisten nur staunen kann über die Authentizität des von ihnen Erlebten - vor allem, was das kulturelle Klima jener Zeit angeht (die Musik natürlich, der Niedergang der kleinen Kinos, das politische Desinteresse). Dazu kommt der amerikanische Handlungsort. Nur der Sprache, dem konsequenten Gebrauch etwa von eingedeutschten Hollywood-Filmtiteln oder einigen Redewendungen, die man niemals aus dem Munde amerikanischer Jugendlicher vernommen hätte, merkt man bisweilen doch an, dass dieser Roman von einem Deutschen stammt. Seit einigen Jahren weiß man, dass Benedict Wells aus einer Familie stammt, die mit Ferdinand von Schirach auch einen weiteren erfolgreichen Schriftsteller hervorgebracht hat - dass Wells seinen Namen ändern ließ, hat natürlich nachvollziehbare andere Gründe.
Dieses Buch ist also in vielerlei Hinsicht ein amerikanischer Traum seines Verfassers, und das gilt auch für die hoffnungsvolle Stimmung - trotz dem Schicksal von Sams Mutter, deren Tod der Erzähler gleich im ersten Satz mitteilt. Aus dem Abstand eines Jahres blickt er auf den Sommer 1985 zurück, seine Stimme ist also immer noch die eines Halbwüchsigen, dem im deprimierendsten Moment angesichts des absehbaren Zerfalls seiner Clique nicht mehr einfällt als "Die zwei Wochen bis zur Abfahrt meiner Freunde waren seltsam". Doch das ist eine Scheinnaivität, denn Wells lässt Sam auch gewitzte Feststellungen machen wie "Wenn die First Base Küssen war und der Home Run Sex, dann saß ich noch in der Umkleidekabine und band meine Schuhe". Da kommt dem Verfasser die eigene Sympathie für seinen Erzähler in die Quere. Die Simulation der relativen Unmittelbarkeit von Sams Eindrücken ist das Einzige, was Wells in seinem Roman misslingt, gerade weil er die Erzählsituation ohne erkennbaren ästhetischen Grund auf ein Jahr danach verlegt.
Dafür gelingt ihm eines der schönsten Comebacks innerhalb einer Geschichte, nachdem man sie als Leser auf Seite 265 abgeschlossen wähnen durfte mit dem Satz "Und das war das letzte Mal, dass wir alle vier zusammen waren". Aber es folgt noch ein sattes Fünftel der Handlung, das über den Sommer hinauserzählt und eine Wendung nimmt, die wie eine Kompensation all der von Sam und seinen Freunden geliebten amerikanischen Filme und Lieder wirkt, die melancholische Abgesänge aufs Jungsein geliefert haben: Bogdanovichs "Last Picture Show", Lucas' "American Graffiti", Springsteens "The River" und noch so manchen anderen Song des "Boss" - selbstverständlich auch "This Hard Land"! - , dessen Musik die einzig erlaubte Klangkulisse im Bruce-Mobil darstellt, dem Pick-up von Brandon Jameson.
Leider bleibt dieser kleinstädtische Star der örtlichen College-Footballmannschaft die blasseste Figur des Quartetts. Als schwarzer Sohn eines weißen Adoptivvaters hegt Brandon nicht nur eine überraschende Vorliebe für Springsteen als Inbegriff weißer Rockmusik, er hat offenbar auch keinerlei Ressentiments im früheren Konföderierten-Staat Missouri erfahren. So konsequent, wie Wells die gesellschaftliche Wirklichkeit der Reagan-Jahre in seinem Roman ausblendet, ist auch das ein amerikanischer Traum. Aber wer sagt denn, dass wir bisweilen nicht gelegentlich von Literatur ins Träumen gebracht werden wollen? Womöglich ist das nicht einmal ein Geheimnis. Jedenfalls nicht für Benedict Wells.
ANDREAS PLATTHAUS
Benedict Wells: "Hard Land". Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2021. 344 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Benedict Wells ist ein weltweit erfolgreicher deutschsprachiger Schriftsteller. Sein neuer Roman "Hard Land" ist in den Vereinigten Staaten angesiedelt, und alles wird dort gut.
Neunundvierzig Geheimnisse, heißt es in "Hard Land", habe die amerikanische Kleinstadt Grady, und neunundvierzig Nummern bilden die Kapitel des neuen Romans von Benedict Wells, der sich zur Gänze in dieser fiktiven Ortschaft mit ihren zwanzigtausend Einwohnern abspielt. Vier von ihnen bilden für elf Sommerwochen eine Clique: Kristie Andretti, Brandon Jameson, Cameron Leithauser und Sam Turner. Letzterer ist der Ich-Erzähler des Buchs, das Geschehen setzt kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag ein, die drei anderen sind zwei Jahre älter und stehen vor dem Abschied aus der Heimat; Studienplätze in New York, Los Angeles und Chicago warten bereits. Das ist doch etwas anderes als das ländliche Missouri. Aber was wird aus Sam, der gerade erst den Anschluss an die drei Älteren gefunden und sich damit über die familiäre Tristesse aus krebskranker Mutter und arbeitslosem Vater hinweggetröstet hat?
Das ist das handlungstreibende Geheimnis des neuen Wells-Romans. Darum wird er wieder weltweit viele Leser finden. Jeder dürfte in seiner Jugend ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie Sam, auch wenn die jeweiligen heimischen Begleitumstände hoffentlich weniger traurig waren. Die Freude über neue Freundschaften und die Erkenntnis ihrer Zerbrechlichkeit beim Übergang ins Erwachsenendasein sind eine anthropologische Konstante, deren Schilderungen ein eigenes Genre hervorgebracht haben, das auf den Namen "Coming of Age" hört. In "Hard Land" wird diese Erzählform literaturhistorisch zurückverfolgt bis zu einem Buch, das auch den Namen "Hard Land" trägt: einen 1893 veröffentlichten Gedichtzyklus von William J. Morris, den berühmtesten Sohn der Stadt Grady, dessen Werk dort denn auch zum obligatorischen College-Prüfungsstoff gehört. Natürlich hat sich Wells auch diesen literarischen Hintergrund ausgedacht - bis hin zu ganzen Passagen aus der schwülstigen Morris-Lyrik, die übrigens auch den Mythos der neunundvierzig Stadtgeheimnisse in die Welt gesetzt hat.
Das größte Geheimnis des realexistierenden Romans "Hard Land" ist indes, wie es Benedict Wells als Schriftsteller des Jahrgangs 1984 gelungen ist, eine Jugendgeschichte aus dem Jahr 1985 so zu erzählen, dass man selbst als ungefährer Altersgenosse der Protagonisten nur staunen kann über die Authentizität des von ihnen Erlebten - vor allem, was das kulturelle Klima jener Zeit angeht (die Musik natürlich, der Niedergang der kleinen Kinos, das politische Desinteresse). Dazu kommt der amerikanische Handlungsort. Nur der Sprache, dem konsequenten Gebrauch etwa von eingedeutschten Hollywood-Filmtiteln oder einigen Redewendungen, die man niemals aus dem Munde amerikanischer Jugendlicher vernommen hätte, merkt man bisweilen doch an, dass dieser Roman von einem Deutschen stammt. Seit einigen Jahren weiß man, dass Benedict Wells aus einer Familie stammt, die mit Ferdinand von Schirach auch einen weiteren erfolgreichen Schriftsteller hervorgebracht hat - dass Wells seinen Namen ändern ließ, hat natürlich nachvollziehbare andere Gründe.
Dieses Buch ist also in vielerlei Hinsicht ein amerikanischer Traum seines Verfassers, und das gilt auch für die hoffnungsvolle Stimmung - trotz dem Schicksal von Sams Mutter, deren Tod der Erzähler gleich im ersten Satz mitteilt. Aus dem Abstand eines Jahres blickt er auf den Sommer 1985 zurück, seine Stimme ist also immer noch die eines Halbwüchsigen, dem im deprimierendsten Moment angesichts des absehbaren Zerfalls seiner Clique nicht mehr einfällt als "Die zwei Wochen bis zur Abfahrt meiner Freunde waren seltsam". Doch das ist eine Scheinnaivität, denn Wells lässt Sam auch gewitzte Feststellungen machen wie "Wenn die First Base Küssen war und der Home Run Sex, dann saß ich noch in der Umkleidekabine und band meine Schuhe". Da kommt dem Verfasser die eigene Sympathie für seinen Erzähler in die Quere. Die Simulation der relativen Unmittelbarkeit von Sams Eindrücken ist das Einzige, was Wells in seinem Roman misslingt, gerade weil er die Erzählsituation ohne erkennbaren ästhetischen Grund auf ein Jahr danach verlegt.
Dafür gelingt ihm eines der schönsten Comebacks innerhalb einer Geschichte, nachdem man sie als Leser auf Seite 265 abgeschlossen wähnen durfte mit dem Satz "Und das war das letzte Mal, dass wir alle vier zusammen waren". Aber es folgt noch ein sattes Fünftel der Handlung, das über den Sommer hinauserzählt und eine Wendung nimmt, die wie eine Kompensation all der von Sam und seinen Freunden geliebten amerikanischen Filme und Lieder wirkt, die melancholische Abgesänge aufs Jungsein geliefert haben: Bogdanovichs "Last Picture Show", Lucas' "American Graffiti", Springsteens "The River" und noch so manchen anderen Song des "Boss" - selbstverständlich auch "This Hard Land"! - , dessen Musik die einzig erlaubte Klangkulisse im Bruce-Mobil darstellt, dem Pick-up von Brandon Jameson.
Leider bleibt dieser kleinstädtische Star der örtlichen College-Footballmannschaft die blasseste Figur des Quartetts. Als schwarzer Sohn eines weißen Adoptivvaters hegt Brandon nicht nur eine überraschende Vorliebe für Springsteen als Inbegriff weißer Rockmusik, er hat offenbar auch keinerlei Ressentiments im früheren Konföderierten-Staat Missouri erfahren. So konsequent, wie Wells die gesellschaftliche Wirklichkeit der Reagan-Jahre in seinem Roman ausblendet, ist auch das ein amerikanischer Traum. Aber wer sagt denn, dass wir bisweilen nicht gelegentlich von Literatur ins Träumen gebracht werden wollen? Womöglich ist das nicht einmal ein Geheimnis. Jedenfalls nicht für Benedict Wells.
ANDREAS PLATTHAUS
Benedict Wells: "Hard Land". Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2021. 344 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.03.202149
Geheimnisse
Benedict Wells’ neuer
Roman „Hard Land“
Erste Sätze sind wie Dates. Sie können sich als Hochstapler entpuppen, als Langweiler oder Reinfälle, im besten Fall sind sie die Erfüllung schlechthin. Benedict Wells lässt seinen neuen Roman mit einem Satz beginnen, in dem die Essenz der Geschichte steckt, Plot und Spoiler zugleich, und noch ein bisschen mehr. Zunächst der Satz: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ Darum geht’s in „Hard Land“, um den schönsten und schlimmsten Sommer, das pralle Leben im ersten Satz. Man könnte das Buch auch in einem Wort zusammenfassen. Euphancholie hieße dieses Wort, ein Mashup aus Euphorie und Melancholie. „Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird.“ Das sagt Kirstie, die Erfinderin des Wortes, in die sich Sam, der pubertierende Ich-Erzähler, Hals über Kopf verknallt. Dieses Gefühl ist dieser Roman, ein Buch über die maximale Euphancholie des Erwachsenwerdens.
Was ein bisschen wie auf dem Reißbrett konstruiert wirkt, ist eine fluide Geschichte über Freundschaft und Liebe, Familie und Heimat. Eine Geschichte, der man das Analytische kaum anmerkt vor lauter Empathie für Themen und Figuren. Das Ensemble ist toll, kantig und scharf gezeichnet, allen voran die Freundesclique, die schöne Kirstie mit der Zahnlücke, der sportliche Brandon, genannt Hightower, und Cameron, der auf Männer steht. Die Teenager vereint der Wunsch, das Kaff in Missouri bald zu verlassen. Bis es so weit ist, lenken sie sich gegenseitig von der Langeweile ab und den neuen Freund Sam von dem Gefühl, „etwas Schlimmes wird passieren“. Sie fordern sich in Mutproben, hängen auf dem Dach des Kinos ab, feiern Partys, rauchen, trinken, und sie grübeln über die 49 Geheimnisse, die ihr Städtchen am Lake Virgin verspricht (49 Kapitel hat denn auch der Roman).
Benedict Wells ist ein erfahrener Schriftsteller mit Gespür für bipolare Gefühlswelten, für große Träume und feine Tragik. Seine bisherigen vier Romane und ein Kurzgeschichtenband haben sich in Dutzenden Ländern mehr als eine Million Mal verkauft, mit „Vom Ende der Einsamkeit“, seinem wuchtigsten Werk, hat er Kritiker und Leser überzeugt.
Der Bewunderer von John Irving weiß genau, was er tut und was er will. Mit „Hard Land“, seinem fünften Roman, hat er nicht irgendeine Coming-of-Age-Geschichte geschrieben. Jede der 352 Seiten strahlt aus: Hier geht es um die Blaupause der Coming-of-Age-Geschichten, das Herauslösen aus der Jugend unter schwierigsten Bedingungen. Wells hat es sich selbst nicht leicht gemacht, indem er die Geschichte über einen fast 16-jährigen Außenseiter, dessen krebskranke Mutter stirbt, während er sich erstmals verliebt, in die USA des Jahres 1985 verpflanzte, in eine Zeit, die Wells als Säugling in Oberbayern verbrachte. Er konnte bei Billy Idol, OMD und den Simple Minds nicht mitfiebern, als diese ihren Zenit erreicht hatten. Viel Sehnsucht steckt in seiner literarischen Zeitreise, wobei er es ein bisschen übertreibt mit Bezügen und Symbolen. Dann leidet die Leichtigkeit unter der Last der Vorbilder, weil man gedanklich wegrutscht und zu vergleichen beginnt.
Womit wir bei der Remix-Taktik wären. Beste Zutaten, neu gemischt, funktioniert meistens. Wells macht daraus kein Geheimnis, sein Buch ist eine Hymne auf die Musik und Filme der Achtziger, ein Füllhorn an Referenzen. Vor dem ersten Kapitel steht ein Zitat aus „Ferris macht blau“ (zudem gibt es hier wie da einen Cameron), auf der Leinwand laufen „American Graffiti“ und „Breakfast Club“, und oft lockt im Feld der Roggen, in Anspielung an den berühmten Fänger.
Ein Mashup wie das Wort Euphancholie ist dieser Roman, eine Art „Breakfast Club“ durch die Brille von John Green, mit einem Titel, der als kleine Hommage an den befreundeten US- und Diogenes-Kollegen Joey Goebel („Heartland“) daherkommt, mit dem Wells eines seiner Lieblingsthemen teilt: die Einsamkeit der Außenseiter. Erste Sätze haben es Wells besonders angetan. Das verbindet ihn mit Kirstie. Der blonde Jungsschwarm sammelt Romananfänge, immer wieder tauscht sie sich mit Sam, der eigentlich mehr auf Zahlen steht, darüber aus. Einer beeindruckt den Ich-Erzähler ganz besonders, er stammt aus Charles Simmons’ „Salzwasser“: „Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank.“
Oha, der erste Satz von „Hard Land“ ist also selbst ein Remix. Da Sam Simmons’ Zeile verehrt und nun seine Erinnerungen, die „Hard Land“ formal sind, mit einer Variation davon beginnt, steckt in Wells’ Auftakt noch ein bisschen mehr als die Essenz der Geschichte: Raffinesse.
BERNHARD BLÖCHL
Es ist die Geschichte
einer Jugend unter
schwierigsten Bedingungen
Benedict Wells:
Hard Land. Roman.
Diogenes, Zürich 2021.
352 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Geheimnisse
Benedict Wells’ neuer
Roman „Hard Land“
Erste Sätze sind wie Dates. Sie können sich als Hochstapler entpuppen, als Langweiler oder Reinfälle, im besten Fall sind sie die Erfüllung schlechthin. Benedict Wells lässt seinen neuen Roman mit einem Satz beginnen, in dem die Essenz der Geschichte steckt, Plot und Spoiler zugleich, und noch ein bisschen mehr. Zunächst der Satz: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ Darum geht’s in „Hard Land“, um den schönsten und schlimmsten Sommer, das pralle Leben im ersten Satz. Man könnte das Buch auch in einem Wort zusammenfassen. Euphancholie hieße dieses Wort, ein Mashup aus Euphorie und Melancholie. „Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird.“ Das sagt Kirstie, die Erfinderin des Wortes, in die sich Sam, der pubertierende Ich-Erzähler, Hals über Kopf verknallt. Dieses Gefühl ist dieser Roman, ein Buch über die maximale Euphancholie des Erwachsenwerdens.
Was ein bisschen wie auf dem Reißbrett konstruiert wirkt, ist eine fluide Geschichte über Freundschaft und Liebe, Familie und Heimat. Eine Geschichte, der man das Analytische kaum anmerkt vor lauter Empathie für Themen und Figuren. Das Ensemble ist toll, kantig und scharf gezeichnet, allen voran die Freundesclique, die schöne Kirstie mit der Zahnlücke, der sportliche Brandon, genannt Hightower, und Cameron, der auf Männer steht. Die Teenager vereint der Wunsch, das Kaff in Missouri bald zu verlassen. Bis es so weit ist, lenken sie sich gegenseitig von der Langeweile ab und den neuen Freund Sam von dem Gefühl, „etwas Schlimmes wird passieren“. Sie fordern sich in Mutproben, hängen auf dem Dach des Kinos ab, feiern Partys, rauchen, trinken, und sie grübeln über die 49 Geheimnisse, die ihr Städtchen am Lake Virgin verspricht (49 Kapitel hat denn auch der Roman).
Benedict Wells ist ein erfahrener Schriftsteller mit Gespür für bipolare Gefühlswelten, für große Träume und feine Tragik. Seine bisherigen vier Romane und ein Kurzgeschichtenband haben sich in Dutzenden Ländern mehr als eine Million Mal verkauft, mit „Vom Ende der Einsamkeit“, seinem wuchtigsten Werk, hat er Kritiker und Leser überzeugt.
Der Bewunderer von John Irving weiß genau, was er tut und was er will. Mit „Hard Land“, seinem fünften Roman, hat er nicht irgendeine Coming-of-Age-Geschichte geschrieben. Jede der 352 Seiten strahlt aus: Hier geht es um die Blaupause der Coming-of-Age-Geschichten, das Herauslösen aus der Jugend unter schwierigsten Bedingungen. Wells hat es sich selbst nicht leicht gemacht, indem er die Geschichte über einen fast 16-jährigen Außenseiter, dessen krebskranke Mutter stirbt, während er sich erstmals verliebt, in die USA des Jahres 1985 verpflanzte, in eine Zeit, die Wells als Säugling in Oberbayern verbrachte. Er konnte bei Billy Idol, OMD und den Simple Minds nicht mitfiebern, als diese ihren Zenit erreicht hatten. Viel Sehnsucht steckt in seiner literarischen Zeitreise, wobei er es ein bisschen übertreibt mit Bezügen und Symbolen. Dann leidet die Leichtigkeit unter der Last der Vorbilder, weil man gedanklich wegrutscht und zu vergleichen beginnt.
Womit wir bei der Remix-Taktik wären. Beste Zutaten, neu gemischt, funktioniert meistens. Wells macht daraus kein Geheimnis, sein Buch ist eine Hymne auf die Musik und Filme der Achtziger, ein Füllhorn an Referenzen. Vor dem ersten Kapitel steht ein Zitat aus „Ferris macht blau“ (zudem gibt es hier wie da einen Cameron), auf der Leinwand laufen „American Graffiti“ und „Breakfast Club“, und oft lockt im Feld der Roggen, in Anspielung an den berühmten Fänger.
Ein Mashup wie das Wort Euphancholie ist dieser Roman, eine Art „Breakfast Club“ durch die Brille von John Green, mit einem Titel, der als kleine Hommage an den befreundeten US- und Diogenes-Kollegen Joey Goebel („Heartland“) daherkommt, mit dem Wells eines seiner Lieblingsthemen teilt: die Einsamkeit der Außenseiter. Erste Sätze haben es Wells besonders angetan. Das verbindet ihn mit Kirstie. Der blonde Jungsschwarm sammelt Romananfänge, immer wieder tauscht sie sich mit Sam, der eigentlich mehr auf Zahlen steht, darüber aus. Einer beeindruckt den Ich-Erzähler ganz besonders, er stammt aus Charles Simmons’ „Salzwasser“: „Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank.“
Oha, der erste Satz von „Hard Land“ ist also selbst ein Remix. Da Sam Simmons’ Zeile verehrt und nun seine Erinnerungen, die „Hard Land“ formal sind, mit einer Variation davon beginnt, steckt in Wells’ Auftakt noch ein bisschen mehr als die Essenz der Geschichte: Raffinesse.
BERNHARD BLÖCHL
Es ist die Geschichte
einer Jugend unter
schwierigsten Bedingungen
Benedict Wells:
Hard Land. Roman.
Diogenes, Zürich 2021.
352 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de