Produktdetails
  • Verlag: Harenberg
  • ISBN-13: 9783611010590
  • ISBN-10: 3611010596
  • Artikelnr.: 20801642
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2002

Goethe war recht geschickt, aber Vicki Baum erst!
Joachim Kaisers "1000 Bücher" / Von Hans-Jürgen Schings

Zehn Bücher, die Überlebensration für die einsame Insel, sind ein Existenzminimum, über das getrost jeder Leser für sich entscheiden mag. Mit der Zahl hundert beginnen die Probleme. Hundert Exempla classica, so der Name der wunderschönen "Fischer Bibliothek der hundert Bücher", die Walther Killy in den sechziger Jahren veranstaltete, erheben, ob sie wollen oder nicht, Anspruch auf Verbindlichkeit. Sie stellen einen Kanon dar und sind deshalb ohne Normen und Geschmacksbefehle nicht zu haben, also nicht ohne Streit. Seitdem gab es mehr Streit als Kanons und eine Kanon-Diskussion vor allem im germanistischen Überbau, die mit größter Sorge die (konservative) Macht des Kanons "hinterfragte", während gleichzeitig die Basis, Leselust, Lesefähigkeit und die Kenntnis der Werke, immer mehr abhanden kam. Glücklicherweise aber haben wir noch resolute Liebhaber der Literatur, die sich von der "Kanonforschung" nicht bange machen lassen. Und sie schreiten jetzt, als sei ein Bann gebrochen, zur Tat. Renaissance des Kanons heißt die Parole. Marcel Reich-Ranicki hat gerade seinen Kanon der deutschen Romane bekanntgegeben, Dramen, Gedichte, Erzählungen und Essays werden folgen. Und Joachim Kaiser wartet im Verein mit dem Harenberg-Verlag mit einem Pracht- und Prunkstück auf, dem "Buch der 1000 Bücher". Die Literatur ist offenbar (wie die Schöpfung) nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet. Die Zauberzahl tausend ist erreicht. Also endlich ein üppiges und deshalb unanfechtbares Maß?

Doch handelt es sich noch um einen Kanon oder nicht eher um einen Supermarkt? Man blättert und gerät in eine bunte Welt. Mehr als 1250 meist farbige Abbildungen auf fast ebensoviel Seiten erfreuen das Auge. Fast 890 Autoren werden aufgeboten, tausend Werke im Detail vorgestellt; dazu gesellt sich eine Fülle von "informativen Sonderelementen" in übersichtlichen Kästen, mit Werkübersichten, Definitionen von Fachbegriffen, Auflistung von Romanpersonal, Zitatproben. Gewiefte Lexikonmacher sind mit Lust am Werk. Man blättert und genießt die Überraschungseffekte: Rudolf Augstein steht da neben Augustinus, Waldemar Bonsels "Biene Maja" neben Borges, Kierkegaard neben Stephen King und so fort, alle gleichermaßen von der millenaren Sonne beschienen, und das heißt: mit nahezu gleichen Kontingenten bedacht.

Puristische Kanoniker müssen noch tiefer durchatmen, wenn Jane Austen oder Borges oder Dante kürzer wegkommen als ihre Nachbarn Stefan Aust, Nicolas Born und Erich von Däniken. Man blättert und staunt über ingeniös eingestreute Begegnungen der merkwürdigen Art. Da erscheinen "Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung" und David Lodges "Ortswechsel" (mit Verzeichnis der wichtigsten Campusromane) oder Samuel Hahnemanns "Organon der rationellen Heilkunde". Man lernt: Hier herrschen das Wohlwollen eines Lexikons und eine Toleranz, die Findigkeit über Ausgrenzung stellt. Man ist verblüfft, möchte nicht kleinlich sein und nimmt deshalb erst allmählich wahr, daß solcher Überfluß mit einem äußerst unfreundlichen Gewaltakt erkauft worden ist. Vielleicht hätte man zunächst die "Benutzerhinweise" lesen sollen, denn dort steht in schöner Lakonie: "Dramen fanden grundsätzlich keine Aufnahme." Um welchen Grundsatz es sich handelt, erfährt man nicht. Die Unfreundlichkeit ist perfekt.

Dabei hatte Joachim Kaiser in seinem "Wegweiser für Leser" gerade noch über die ungelenken Kanon-Verächter gespottet und für die sanfte Hilfe oder gar Nötigung eines Kanons geworben - mit Berufung auf das unbestreitbar Kanonische, die klassischen Tragödien und den "König Ödipus", Shakespeares Hamlet, Lear, Shylock, Ophelia und natürlich Goethes "Faust". Nun aber: Nichts davon findet Eingang in das Angebot der "1000 Bücher". Tragen wir es mit Fassung und warten wir auf das Buch der 1000 Dramen, das womöglich folgen wird? Vorerst jedenfalls können sich nur ein paar Dramatiker vor dem Nichts retten, sofern sie gelegentlich ihr Hauptgeschäft vernachlässigt haben. Shakespeare überlebt mit seinen Sonetten, Büchner mit der "Lenz"-Erzählung, Grillparzer mit dem "Armen Spielmann" und Schiller gerade eben noch - mit dem braven "Verbrecher aus verlorener Ehre". Nicht einmal im Informationskasten mit seinen "wichtigsten Büchern" darf ein Drama erscheinen. Der schwer Zurechtgestutzte (dessen Vater das Druckerpech vom Wund- zum "Wunderarzt" befördert) büßt offenbar spät für ein schweres Vergehen, die böse Rezension über Gottfried August Bürger - hier muß er sich mit dem gleichen Platz begnügen wie Bürger ("Münchhausen") oder Ulrich Bräker ("Der arme Mann im Tockenburg"). Unbegreiflich und geradezu schändlich ist allerdings der völlige Ausschluß Lessings, der ganz und gar an der Dramatiker-Klausel scheitert, als hätte er sonst nichts zu bieten. Fehlanzeige gleich auch noch für seinen Freund Moses Mendelssohn. Nicht anders ergeht es Hofmannsthal (der nur, und dies auch noch mit falscher Schreibung, im Register auftaucht). Wo man ihn sucht, steht, ganz zu Recht, Hoffmanns "Struwwelpeter". Auflagenzahlen sorgen für klare Verhältnisse im Bücherparadies.

Überhaupt die Weimarer Klassiker. Nicht nur leiden sie, wie ihre europäischen Kollegen (Corneille, Racine, Molière oder Calderón kommen erst gar nicht vor), an der Aussperrung der Dramatiker. Sie müssen sich obendrein eine kleinmütige und lustlose Behandlung gefallen lassen. Herder fehlt ganz, mag seine (ost-)europäische Wirkung auch ungeheuer gewesen sein. Wieland passiert als "sprach- und formgewandter Schöngeist" mit der "Geschichte der Abderiten", von der es ein wenig ungewandt heißt: "Dabei lässt er kaum einen Bereich des Lebens aus und präsentiert sich somit auch heute noch als aktuell." Goethe nun freilich behauptet unangefochten den Spitzenplatz; mit fünf (eigentlich sechs) ausgezeichneten "Büchern" besetzt er gemeinsam mit Thomas Mann und Günter Grass den Olymp. Der Romancier, der Farbenlehrer und der Autobiograph kommen zu Gesicht. Über den Lyriker verlautet: "Frauen inspirierten Goethe von Jugend an vor allem zu lyrischer Bewältigung." Deshalb wohl "begegnet Lotte Werthers Küssen durch die Flucht ins Nebenzimmer", wie im "Werther"-Porträt zu lesen ist. Und was soll der Leser mit folgender Information über die "Wahlverwandtschaften" anfangen: "Goethes Geschick zeigt sich besonders in dem Ausgleich zwischen vorhersagbarem Verhängnis und dem schleichenden Entstehen der Leidenschaften"? Kein Geschick zeigt jedenfalls der folgende Satz: "Goethes über 50 Jahre währendes Leben in Weimar hat er dagegen erzählerisch nicht gestaltet." Eine Visitenkarte für das ganze Unternehmen ist dessen längster Artikel nicht. Um aber auch Erfreuliches zu melden: Klopstock ist präsent, sogar mit dem vielgeschmähten "Messias"; ein gelungener Artikel widmet sich Johann Peter Eckermann.

Die alten Klassiker haben es nicht leicht in diesem bunten Buch. Offensichtlich verträgt sich Kaisers werbendes Plädoyer für den Kanon nicht reibungslos mit der Deklaration der "Benutzerhinweise". Denn die erheben "nicht die Bedeutung des Autors, sondern die Geschichte und Wirkung des einzelnen Werks" zum Hauptkriterium der Auswahl. Im wohltönenden Klartext: "Das Harenberg Buch der 1000 Bücher enthält somit 1000 Bücher, die die Welt bewegten und selbst zu Geschichte geworden sind." Und woran mißt man den Grad der Weltbewegung am einfachsten? An Auflagenzahl und Medienresonanz, worüber denn auch gern Auskunft erteilt wird. Der Fall Vicki Baum ist dafür paradigmatisch: "Die Bedeutung von Vicki Baum beruht vor allem auf ihrer Fähigkeit, den Literaturmarkt mit Werken zu versorgen, die den Publikumsgeschmack trafen, aber dennoch unerwartete Wendungen zuließen." Bei solchen Vorzeichen darf man sich freuen, wie oft die Kaiser-Linie sich gleichwohl gegen die Bestseller-Liste durchgesetzt hat, also Bedeutung und Rang der Autoren, die nicht meßbaren Langzeit- und Tiefenwirkungen großer Werke zu ihrem Recht kommen.

Nur manchmal kommt es vor, daß sich die Artikelverfasser auch zu Kritikern ihres Gegenstandes machen und ihre Ansicht über den gewünschten Lauf der Weltbewegung bekunden. Ausgerechnet der Artikel über die Bibel tut sich darin hervor. Der Autor, er ist kein Theologe und behandelt deshalb auch "Textkorpus" als Maskulinum, empört sich über die "herrschaftslegitimierende Funktion der Bibel" und hält sie für ein "zentrales Unterdrückungsinstrument", das freilich auch "immer wieder Emanzipationsbewegungen, Rebellionen und Revolutionen motivierte". Was hat Eiferertum heute noch in einem Lexikon zu suchen, und just in diesem?

Doch mag auch das Vergnügen an dieser mächtigen Literaturschau nicht überall ungetrübt bleiben, ein Vergnügen ist es doch. Halten wir es also mit Faust, auch wenn ihn das tausendfältige Buch verschmäht, und glauben wir mit ihm, daß man auch "am farbigen Abglanz" das Leben haben könne, zumindest das literarische.

"Harenberg. Das Buch der 1000 Bücher". Autoren, Geschichte, Inhalt und Wirkung. Herausgegeben von Joachim Kaiser. Harenberg Verlag, Dortmund 2002. 1247 S., geb., zahlr. Abb., 50,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Überwältigt ist Hans-Jürgen Schings vom schieren Umfang dieses "Pracht und Prunkstücks" mit seinen Abbildungen, Biografien, Zusammenfassungen und "informativen Sonderelementen". Und auch wenn er nicht weiß, ob hier nun ein Kanon oder eher ein Supermarkt vorliegt, soviel ist doch sicher: "Gewiefte Lexikonmacher sind mit Lust am Werk." Schings genießt diese "bunte Welt" mit ihren Überraschungen, besonders gefallen ihm die "ingeniös eingestreuten Begegnungen der merkwürdigen Art", wenn etwa Mao Tse Tungs Belehrungen unerwartet auftauchen. Hier herrscht eine "Toleranz, die Findigkeit über Ausgrenzung stellt", notiert der Rezensent vergnügt. Sein Missfallen erregt die völlige Nichtbeachtung der Dramen, was etwa zum Ausschluss Lessings führt, "unbegreiflich und geradezu schändlich", findet das Schings. Und doch: obwohl bei dieser - neutral gesagt - etwas eigenen Art der Auswahl noch einige weitere altbekannte Klassiker wie Moliere oder Hofmannsthal auf der Strecke bleiben, "ein Vergnügen ist es doch".

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