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Die Esterházys, eine der großen Aristokratenfamilien Europas, haben sich über Jahrhunderte in die ungarische und habsburgische Geschichte eingeschrieben. Die Esterházysche Familiengeschichte ist Landesgeschichte, und dieser monumentale Roman Harmonia Cælestis konnte kurz nach Erscheinen auch als "Nationalepos" (Corriere della Sera) begrüßt werden. Aber Esterházy wäre nicht der als Erneuerer der ungarischen Literatur bekannt gewordene Autor, wenn er nicht die Form des bürgerlichen Familienromans zugleich auch unterliefe. Buch I heißt "Numerierte Sätze aus dem Leben der Familie Esterházy". Es…mehr

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Produktbeschreibung
Die Esterházys, eine der großen Aristokratenfamilien Europas, haben sich über Jahrhunderte in die ungarische und habsburgische Geschichte eingeschrieben. Die Esterházysche Familiengeschichte ist Landesgeschichte, und dieser monumentale Roman Harmonia Cælestis konnte kurz nach Erscheinen auch als "Nationalepos" (Corriere della Sera) begrüßt werden. Aber Esterházy wäre nicht der als Erneuerer der ungarischen Literatur bekannt gewordene Autor, wenn er nicht die Form des bürgerlichen Familienromans zugleich auch unterliefe. Buch I heißt "Numerierte Sätze aus dem Leben der Familie Esterházy". Es bietet ein barockes Füllhorn an Legenden, Chroniken, Registern, Mythen und Episoden, ein Mosaik aus Texten, in denen jede Chronologie aufgehoben ist, und die nur eine Hauptfigur kennen: "Mein Vater". Er ist Don Juan und Nichtsnutz, Magnat und Gelehrter, Bischof und Baumeister, Verrückter und Tyrann, Gesandter und Ministerpräsident, Schüler von Helmholtz, aber auch die Katze in Schrödingers Experiment - er steht für alle Familienmitglieder, ist ein Passepartout für alles, grenzenlos und unerschöpflich wie die Macht der Familie in der Geschichte. "Die Bekenntnisse einer Familie Esterházy" (Buch II) erzählen von dem Leben einer aristokratischen Familie im 20. Jahrhundert unter den Bedingungen der Diktatur, seit der Räterepublik 1919 bis in die jüngere Vergangenheit. Eine Geschichte von Enteignung, Aussiedlung und Verarmung, die Geschichte einer Familie vor dem Nichts. Zwischen diesen beiden Polen, dem Alles und dem Nichts, bewegt sich das Familienschicksal der Esterházys. Péter Esterházy wurde in diesem Jahr bereits mit zwei ungarischen Literaturpreisen für Harmonia Cælestis ausgezeichnet. Als Goethe vom "Esterházyschen Feenreich" schrieb, konnte er dieses epochale Werk noch nicht kennen.
Autorenporträt
Terézia Mora, 1971 in Sopron/Ungarn, geboren, lebt seit 1990 in Berlin und ist Übersetzerin aus dem Ungarischen. Für ihre Erzählungen erhielt sie 1997 den Open-Mike-Literaturpreis, 1999 den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2000 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Für ihr bisheriges literarisches Werk sowie für ihre vielfältigen Aktivitäten als Übersetzerin und Vermittlerin zwischen dem deutschsprachigen und dem ungarischen Kulturraum wurde Terézia Mora 2010 mit dem Chamisso-Preis geehrt.

Péter Esterházy wurde 1950 in Budapest geboren, wo er auch heute lebt, seit 1978 als freier Schriftsteller. 2004 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet und 2012 mit dem Bremerhavener Jeanette-Schocken-Preis für Literatur.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.01.2005

Wie man elegant einen Apfel verspeist
Über die Tücken der Dissidenz, der Literatur und der Restaurantkritik: Ein Besuch bei Péter Esterházy in Budapest
„Die weltliche Anerkennung”, sagt Péter Esterházy, während er den Telefonhörer einhängt, „ist doch etwas Schönes. Besonders dann, wenn man auch noch kurzfristig in seinem Lieblingsrestaurant einen Tisch bekommt.” Péter Esterházy isst gerne. So gerne, dass er mit Blick auf ein gutes Essen einen pragmatischen Zugang zur Vorstellungswelt des Ruhms gewinnen kann. Ruhm ist, denkt man sich, Esterházys Fröhlichkeit nach der erfolgreichen Platzreservierung vor Augen, wenn sich der Koch eines guten Restaurants freut, für einen kochen zu dürfen.
Dabei ist ein Wort wie Ruhm eigentlich zu klobig für einen Leichtigkeitsvirtuosen wie Esterházy. Obwohl andererseits die großen und auch die schweren Worte und Vorstellungswelten bei ihm durchaus eine Rolle spielen. Aber eben keine gewichtige. Sie haben in seinem Werk einen guten Auftritt, weil sie unter seiner Hand plötzlich tänzerisch werden, als hätten sie ihr althergebrachtes Gewicht, ihre traditionellen Epauletten sozusagen, abgelegt. Worte wie Männlichkeit, Stolz, Herr-Sein, Freiheit oder Niederlage, Feigheit, Demütigung und Verrat. Wollte man Péter Esterházy einen Satiriker nennen, so müsste man hinzufügen, dass er über die paradoxe Kunst verfügt, das Parodierte nicht abzustrafen und herunterzuziehen, sondern es im Gegenteil im Leichtigkeitsauftrieb seiner Ironie zu erhöhen.
Die Brille auf der Nase
Das gilt nicht nur für seine Bücher, sein ganzes Wesen besteht aus dieser adelnden Ironie, bei der Schalk und seelische Delikatesse zwei Seiten der selben Medaille sind. Als Péter Esterházy im vergangenen Herbst den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, hat er mit einer Handbewegung ein vollkommenes Bild seiner eigenen Person abgeliefert. Und dank des intuitiven Gespürs der Fotografen war er dann am nächsten Tag auch genau in dieser Pose in den meisten Zeitungen zu sehen.
Es war noch vor seiner Dankesrede, als der Vorsteher des Deutschen Börsenvereins, auf den in Sachen Gravitas und Pomp stets Verlass ist, mit staatsmännischem Aplomb die Preisurkunde zwischen sich und Esterházy in Stellung brachte und mit getragener Feierlichkeit den Blick des Schriftstellers suchte: Da schaute Esterházy, die Mundwinkel wie zu einem lautlosen Clowns-Oh verzogen, mit großen Augen zurück und rückte dabei seine leicht auf dem Nasenrücken nach vorne gerutschte Brille mit dem Zeigefinger wieder nach oben. „Hab ich irgendwas getan”, schien Esterházys Blick zu sagen - dabei verflog die steife Atmosphäre für alle spürbar auf einen Schlag, der in Wahrheit bloß ein leichtes Brillehochrücken gewesen war, und ein erleichtertes Lachen ging durch den Saal.
Esterházy zu beobachten, heißt, sich an der Kunst der Nuance zu erfreuen. Er beherrscht eine Form der Distanzierung, die nie respektlos ist. Dieser späteste Sprössling eines der ältesten Adelsgeschlechter Europas, dem einst halb Ungarn gehörte und das so manchen hochfahrenden Grafen hervorgebracht hat, hätte sein opus magnum, das Familienepos „Harmonia Caelestis”, das 400 Jahre Esterházy-Geschichte umfasst, nicht als diese beschwingte Liebeserklärung an seine Vorfahren schreiben können ohne eben diese Gabe der erhöhende Ironie.
In Péter Esterházys Haus in Buda hängen mancherlei Bilder aus der Ahnengalerie. Das frappierendste, weil einschüchterndste, ist fraglos eine Schwarzweißfotografie seines Großvaters Móricz, der zeitweilig ungarischer Ministerpräsident war. Der außenstehende Betrachter mag sich, besonders durch die Partie um die grimmigen Augenbrauen, an ein Porträt Wallensteins erinnert fühlen. So herrisch, gebieterisch und von unglaublichem Schneid geprägt ist der Anblick, dass man unwillkürlich an Jacob Burckhardts Formulierung von „unserem Knirpstum” denkt: „Größe ist, was wir nicht sind.” Aber das wäre die pathetisch-depressive Perspektive. In „Harmonia Caelestis” heißt es dagegen: „Mein Vater schaute auf niemanden herab, das war seine Art, ein Aristokrat zu sein. Großpapa schaute auf alle herab, das war seine. Und ich blinzle nur.”
Dieses Blinzeln ist die zugleich bewahrendste und freieste Form, sich gegenüber einem solchen Stammbaum zu verhalten. Und es ist dieses Blinzeln, das lebenspragmatisch die vier Esterházy-Brüder (einer davon übrigens ein Fußballer der ungarischen Nationalmannschaft) dazu bestimmte, nach 1989 von allen Restitutionsansprüchen auf ihre enteigneten Ländereien und Schlösser abzusehen. Ästhetisch ist es die Voraussetzung für eine poetische Aneignung der Familiengeschichte, die nichts von Gotha und Familiendünkel hat.
In einem weiteren Sinn betrifft dieses Blinzeln aber nicht nur Péter Esterházys Verhältnis zu seiner Familiengeschichte, sondern auch seine Rolle im sogenannten Gulaschkommunismus. 1950 geboren, studierter Mathematiker, hat man Esterházy seit seinem literarischen Debut „Fancsikó und Pinta” von 1976 einen Vertreter der Postmoderne genannt. Das leuchtet in gewisser Weise ein. Es handelt sich aber um eine spezifisch osteuropäische Postmoderne unter den Bedingungen einer kommunistischen Diktatur. Sie war wesentlich politischer als ihr westliches Pedant, und ihr sprachlicher Spielcharakter war voll existentiellen Ernstes, weil das ästhetische Virtuosentum ein riskanter antiideologischer Gestus war: Heiterkeit als Mittel, sich der Verfügbarkeit zu entziehen.
Was Esterházy in der Zeit des Eisernen Vorhangs entwickelte, war eine Form der Dissidenz, die weniger auf den moralischen Appell und mehr auf die ästhetische Alertheit setzte. Das unterschied ihn - und unterscheidet ihn bis heute - deutlich von jenem anderen mitteleuropäischen Dissidententypus der Václav Havels und György Konráds, die sich mehr durch die Getragenheit ihres Timbres zu erkennen gaben.
Wenigem misstraut Esterházy vermutlich mehr als der moralisch-normativen Rhetorik. Deren traditionelle Heimstatt ist die alljährliche Verleihung des Friedenspreises in der Frankfurter Paulskirche. Václav Havel und György Konrád haben ihn beide längst bekommen. Aber Péter Esterházy? Wie sollte das gehen, ohne schief zu klingen? Aber auch hier rettete ihn sein Blinzeln, sein postmoderner, zitierender Umgang mit den Worten. In diesem Falle denen der Verleihungsurkunde. „Deutsche Preisverleihungen”, sprach er, „führen die Preisträger in Versuchung, sich selbst so zu sehen, wie sie in der Preisbegründung beschrieben werden. Sag nur, mein lieber guter Vater, sagt mir neulich mein 17-jähriger Sohn, na so was!, hast du wirklich nicht nur deine Heimat (Ungarn) in der Mitte Europas, sondern Europa in der Mitte der Literatur neu situiert? Er spricht mit mir wie ein strenger Vater. Schon gut, sagt er, aber das soll nicht noch einmal vorkommen, ich will nicht wieder hören, dass du der europäischen Depression einen Kontrapunkt gesetzt hast.”
Während wir in einem Taxi durch das winterliche Budapest zu seinem Lieblingsrestaurant fahren, sagt Esterházy: „Ich bin sehr weit von Havel entfernt. Natürlich habe ich für ihn unterschrieben. Aber ich hatte immer gehofft, dass er vom Hradschin zum Schreibtisch zurückkehrt. Er ist nie zurückgekommen. Nun, auch kein Drama.” Und dann erzählt er von den Jahren vor 1989. Es war, sagt er, alles Lüge, das schon, aber die gefährlichste Versuchung sei gewesen, sich irgendwann mitten in dieser Lüge als Gral, als einzig rein und wahr, zu sehen. Doch das gibt es nicht.
Die Diktatur, sagt er, sei ja selbst schon eine postmoderne Fiktion gewesen: „Wie oft war ich in einer Situation, wo ich mir sagte: Wenn ich ein normaler Mensch wäre, würde ich jetzt brüllen. Und was machte ich darauf? Ich brüllte, klar. Aber so ist nicht Brüllen. Es gibt kein reflexives Brüllen. Entweder man brüllt oder man brüllt nicht.” In einem seiner Bücher, in denen die Bespitzelung ein wichtiges Motiv ist, heißt es: „Die osteuropäische Paranoia ist, dass jemand unter Verfolgungswahn leidet, weil man ihn verfolgt.” Da erscheint rechts, auf der anderen Seite der Donau, aus dem dunklen Nachthimmel plötzlich die hellerleuchtete Burg, ein hinreißender Anblick, und Esterházy wirft entzückt die Arme in die Luft. Und fügt dem Gesagten hinzu: „Wer sich vor 1989 zu sehr auf die Dissidentenrolle festgelegt hatte, für den ging mit dem Fall des Eisernen Vorhangs etwas zu Ende. Das war nicht immer einfach. Mir erscheint mein Leben aber immer eher als Einheit.”
Der wackere Schwaben
Schließlich erreichen wir das Restaurant. Unter sehr würdevollen Herzereien geleitet uns der Kellner zum Tisch und serviert erstmal zwei sehr scharfe Schnäpse - eine ungarische Eigenart, die wohl von der optimistischen Annahme ausgeht, dass sich die Geschmacksnerven rasch genug erholen werden, um die bevorstehenden Leckereien weiter würdigen zu können. Esterházy redet gerne über Essen. Und es ist ein nicht geringeres Vergnügen, ihn essen zu sehen.
Er hat in den neunziger Jahren längere Zeit - zum Vergnügen, aber mit großer Ernsthaftigkeit - als Restaurantkritiker gearbeitet. Aber es ist nicht nur die rein kulinarische Seite, die ihn mit Wohlgefallen erfüllt. Mindestens genauso fasziniert ihn das Theaterhafte, das jedes gepflegte Essen auszeichnet, die feine Balance zwischen Ritual und Ausgelassenheit: das Speisen im Restaurant gewissermaßen als Musterfall gelingender Gesellschaftlichkeit. Schon als Knabe hatte er immer ein wenig Geld zur Seite gelegt, um gelegentlich in ein vornehmes Restaurant zu gehen. Seine erste Lektion war damals der delikate Zusammenhang zwischen Regel und Freiheit. Als der Kellner ihm zum Nachtisch einen Apfel auf einem Teller mit Messer und Gabel servierte, nahm der junge Esterházy den Apfel in die Hand und biss zu: Solange man glaubwürdig ausstrahlt, man wisse um die Benimmregeln, darf man sie gerne und ohne Ansehensverlust missachten.
In „Harmonia Caelestis” heißt es: „Mein Name hat sich nicht (besonders) in mein Leben eingemischt. Er hat mich zwar ab und an berührt, aber er brachte mich nicht ins Stolpern und blendete mich auch nicht. Am ehesten gab er noch zu Anekdoten Anlass.” Nach der Vorspeise nähert sich uns ein älterer Herr. Mit stark schwäbischer Färbung bittet er um Entschuldigung. Er trägt eine kuriose Joppe mit einem schwarz-weiß karierten Hemd darunter, die ihm halb wie einen vornehmen Clowns, halb wie einen leicht geckenhaften Kirchenratsvorsitzenden aussehen lässt. Seit seinem 17. Lebensjahr, hebt er darauf an, sei er ein glühender Bewunderer - nun, nicht von Péter Esterházy, sondern von Joseph Haydn. „Er war damals der größte für mich”, sagt er. Und jetzt also einem echten Esterházy gegenüberzustehen („meine Frau hat sie erkannt”), das sei nun doch außerordentlich bewegend. Und es ist komischerweise, als sei die mäzenatische Generosität des Fürsten Esterházy selig für ihn, den wackeren Schwaben, noch heute fast bewunderungswürdiger als die musikalischen Werke selbst.
In „Harmonia Caelestis” gibt es eine Szene, in der der junge Erzähler während seiner Militärzeit beim Fußballspiel schikaniert wird, weil er sich angeblich zu fein ist, richtig hinzulangen. Man fragt ihn im Kommandoton: „Name?” Und der Ezähler gesteht, zum ersten Mal in seinem Leben das Bedürfnis gehabt zu haben, lieber anders zu heißen: „Kovács, Eich, sogar Zichy oder Schwarzenberg wäre angenehmer gewesen; es war ein merkwürdiges Gefühl, der Odem des Verrats streifte mich.”
Es ist kein Zufall, dass das Wort Verrat im Kontext des Namens des Vaters fällt. Als Péter Esterházy diese Szene schrieb, war die Welt noch in Ordnung. Der zweite Teil der „Harmonia Caelestis” ist eine wunderbare Hommage an seinen Vater, Mátyás Esterházy. Als der Sohn nach fast einem Jahrzehnt die Arbeit an „Harmonia Caelestis” abschließt, kommt für ihn, den Heiteren, der so viel Kraft aus der poetischen wie der realen Geborgenheit in seiner Familiengeschichte gezogen hatte, der wohl schwerste Schlag seines Lebens. Im Jahr 2000 gewährt ihm das „Amt für Geschichte”, die ungarische Gauck-Behörde, wenn man so will, Akteneinsicht: Esterházy will schauen, was für Dossiers die Staatssicherheit über ihn geführt hat. Doch er muss etwas anderes entdecken: „Ich wusste sofort, worum es sich handelte. Was ich sah, konnte ich nicht glauben. Ich legte rasch meine Hand auf den Tisch, weil sie zu zittern begann. Als ich das Dossier aufschlug, hatte ich die Handschrift meines Vaters erkannt.”
Fast drei Jahrzehnte hatte Mátyás Esterházy für die berüchtigte „Abteilung III/III” des ungarischen Geheimdienstes Spitzeldienste geleistet. Es gibt da wenig schön zu reden, niedrig und widerlich waren seine Berichte auch da, wo sie unbeholfen und wenig effektiv waren. Der geliebte Vater, dem der Sohn gerade ein literarisches Monument ohnegleichen errichtet hatte. Was war in dieser Situation zu tun? „Harmonia Caelestis” überarbeiten? Die Spitzeltätigkeit ins Werk aufnehmen? Aber es war doch ein Roman, der sich, wie Esterházy sagt, wenig um reale Väter kümmert! „Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt”, heißt der berühmte erste Satz des Buches. Esterházy beschloss, dass Buch, das Literatur ist, zu lassen, wie es war. Statt dessen schrieb er die „Verbesserte Ausgabe”, die auf herzzusammenziehende Weise von der schmerzhaften Lektüre der Spitzeldossiers seines Vaters erzählt. In diesen Notizen lesen wir: „Es wäre gut, es nicht sofort zu veröffentlichen. Meinem Vater ein wenig Lauf zu lassen, einen Vorsprung, vielleicht verlieben sich noch andere in ihn, sie sollen ihn noch in aller Welt ein bisschen lieben, bedauern, beweinen, achten. Er soll noch ein wenig Zeit haben. Und dann erst sollen sie ausspucken.” Diese Zeit dürften die Leser seinem Vater von Herzen gern gegeben haben.
IJOMA MANGOLD
Péter Esterházy
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Eure Exzellenz, ich würde sagen, es ist angerichtet
Péter Esterhazy schildert die ungarische Rätezeit als Generalprobe für den Weltbürgerkrieg / Von Lorenz Jäger

Was tun angesichts einer Überfülle? Da ist die kleine Kommode aus Frankreich. Die englische Ausgabe von Tausendundeine Nacht. Vergilbte Fotos der Großmutter. Und nicht nur die Fotos, sondern die Namen der Ateliers, in denen sie aufgenommen wurden. Dazu Vasen, Kunstwerke, Gedenkbücher, Grabsteine. Da sind Schlösser und später, Jahrhunderte später, die kargen Wohnungen des ungarischen Kommunismus. Péter Esterhazy will von dieser Überfülle erzählen. An jedes Ding, das einmal seiner Familie gehört hat, knüpft sich zumindest eine Anekdote. Ein Roman als aufgeblättertes Familienalbum und als Inventarbeschreibung - das erinnert an Walter Benjamins Dingphysiognomik in der "Berliner Kindheit".

Und die Familie Esterhazy hat es in sich, was Aufstieg und Niedergang betrifft. Ihre Geschichte ist für die Geschichte Ungarns in den letzten Jahrhunderten repräsentativ wie keine andere, wenn sie nicht gar mit der Geschichte des Landes identisch ist. Das Adelsgeschlecht der Esterhazy stellte Politiker, Diplomaten, Ministerpräsidenten, es war weitläufig europäisch verbunden wie sonst nur die Rothschilds. In dieser Familie erblickt man Ungarns schönsten Glanz. Nicht das Licht und die Souveränität selbst, aber den Schimmer nahe bei ihnen, den Zeiger ihres Auf- und Untergangs. Denn der Familienname leitet sich ab von "esthanjal", der Venus, dem Abend- und Morgenstern. "Der Mensch des Abendsterns", schreibt Esterhazy, "ist ein sehr weicher Mensch, zweifelt in der Hauptsache, zweifelt, wo er nicht sollte, sägt an dem Ast, auf dem er sitzt."

Sein Roman war in Ungarn ein großer Verkaufserfolg, mit gutem Grund. Gegen das Programm zur Löschung der Erinnerung, das der Kommunismus und die sowjetische Oberherrschaft dem Land auferlegt hatten, findet man hier eine große Selbstbehauptung der einer jahrhundertealten Nationalgeschichte: liebevoll, wie es sich für einen Sohn gehört, aber nicht triumphal, nicht heroisierend, sondern detailliert, grotesk bis zum Irrwitz und ebenso oft herzzerreißend traurig.

Péter Esterhazy hat, bevor er Schriftsteller wurde, Mathematik studiert und als Systemorganisator am Institut für Datenverarbeitung in einem ungarischen Ministerium gearbeitet. Sein Roman nimmt sich das denkbar komplizierteste aller Systeme vor: das seiner eigenen Familie. Eheschließungen und Skandale, Geburten und Todesfälle vollziehen sich als Parallelaktionen zur politischen Geschichte Mitteleuropas. Und Esterhazy vereinfacht das Familiensystem. "Mein Vater" ist immer der jeweilige Vater, ob im siebzehnten, achtzehnten oder einem späteren Jahrhundert. Immer wieder blitzen historische Namen auf: Der junge Goethe, den ein Vorfahr am Frankfurter Roßmarkt trifft, der unglückliche Herzog von Reichstadt (er war Napoleons Sohn), der junge Churchill, der Hauptmann Dreyfus. Allerdings hat es mit der Erwähnung der Konnexionen meist sein Bewenden. Die Namen geben das Kolorit, ausgeführt ist dabei wenig. Was sich über den Leser ergießt, ist ein überreicher Anekdotenstrom.

Auf die Frage einer Wochenzeitung, welchen Traum er sich noch erfüllen wolle, hat Péter Esterhazy einmal geantwortet: "Kochen lernen." Vielleicht liegt hier das Problem. Sein neuer Roman jedenfalls ähnelt einem Gericht, bei dem Zutaten und Gewürze nach dem einzigen Maß der Fülle in den Topf kommen. Einmal werfen die Kinder eine Katze über den Zaun. Die Großmutter untersagt es ihnen: Auch die Katze ist ein Geschöpf Gottes. Esterhazy beläßt es nicht bei dem schlichten Sachverhalt: Der Zaun, so erfährt man, ist in Wahrheit aus Steinen. Diese stammen von den Ruinen in der Nähe. Dann folgt eine ausgedehnte Reflexion über die Frage, ob Katzen immer auf die Füße fallen. Und dann wird die ganze Szene noch einmal abgeschmeckt: "Aber man konnte aufregende Wetten dahingehend abschließen, wie lange dieses ungeflügelte Geschöpf in der Luft verbleiben würde, denn den heiligen Augenblick, in dem es wieder die Erde berührte, konnte man trotz allem feststellen, mit geschlossenen Augen, inbrünstig, versunken mitzählend wie die Artilleristen am Minenwerfer, eins, zwei, drei, bumm beziehungsweise: pladauz."

Irgendwann kommt auf den mehr als neunhundert Seiten auch für den Gutwilligsten der Moment, wo er andere Sätze lesen möchte. Etwa: "Als Kind habe ich einmal unsere Katze über den Zaun geworfen." Aber das wäre nicht mehr die Literatur, die der Betrieb prämiert. An seinem Umfang, vor allem aber an seinem Anspruch hat Esterhazys Roman schwer zu tragen. Er ähnelt sich der Erwartung an, die Literaturpreis-Komitees an einen Kunstroman stellen; man könnte von der Gattung der "Aha: Literatur"-Literatur sprechen, die hier ein vollendetes Muster gefunden hat.

Zu den großen Partien des Romans gehören indes die Erzählungen über die ungarische Räteregierung unter Béla Kun, die sich nach dem Ersten Weltkrieg für einige Monate halten konnte. Jede Darstellung dieser kurzen Epoche begibt sich auf ein Minenfeld. Unter den Kommunisten waren nicht wenige Juden - zu den bekanntesten gehörte der Philosoph Georg Lukàcs -, auf der anderen Seite, bei den Gegenrevolutionären, waren Antikommunismus und Antisemitismus oft kaum unterscheidbar: Für den Großvater ist die kommunistische Episode schlicht die "Judenwirtschaft".

Esterhazy hat diese Geschichte zum Sprechen gebracht und dabei der Verdrängung auf beiden Seiten keine Konzessionen gemacht. Herrlich ist schon die Ankündigung des Dieners: "Eure Exzellenz, ich würde es so sagen, bitte schön, die Kommunisten sind hier." In Budapest hat die Revolution gesiegt, eine örtliche Delegation stellt sich ein, die - Befehl von Georg Lukács - den Kunstbesitz der Familie Esterhazy beschlagnahmen soll. Noch scheint alles durch das ewige Hilfsmittel der Korruption lösbar zu sein: "Alle ihre Befehle lauteten bei Todesstrafe, welche Drohung mit Geldabgaben in schwindelnder Höhe gleichbedeutend war." Aber bald meldet sich die Ahnung, daß etwas anderes begonnen hat, daß in die dörflichen Verhältnisse um das Schloß Csákvár eine Zukunft einkehrt, von der man keinen Begriff hatte. Als der Besitz konfisziert wird, nimmt er ein anderes Gesicht an. Die Dinge liegen aufgestapelt da, wie ein Haufen Kohle. "Da also sah ich das erste Mal, wie das Viele ekelerregend sein kann, wenn das Viele kein blendender Reichtum ist, sondern dieses widerwärtige Gespei in der Mitte meines Schlosses." Der Großvater, der das neue Regime beobachtet, ist ein Reaktionär, und keine seiner Äußerungen wird beschönigt. Für ihn ist der Kommunist kein Mensch - wie später für den Enkel, der sich mit leisem Schrecken seiner Gedanken beim Schulbesuch erinnert: "Keiner wie wir, ein krimineller Verbrecher, ein liederlicher Verräter, es lohnt sich gar nicht, sich mit ihm zu beschäftigen oder, wenn doch, dann nur deshalb, weil er sich seinerseits mit uns beschäftigt, er will uns vertilgen, also muß man doch auf der Hut vor ihm sein wie vor einem tollwütigen Fuchs oder einer Ratte oder Läusen."

So wird die ungarische Rätezeit zur Generalprobe für den Weltbürgerkrieg. In den Gesprächen des Großvaters mit dem jüdischen Kommunisten Sterk nimmt er eine erste, fast noch zivile Gestalt an. Sterk ist ein gebildeter Mann, der zu argumentieren weiß. Als der Großvater ihm vorhält, die Kommunisten dächten nur in Quantitäten und sähen nicht den Unterschied zwischen einem Diner und einem Freßgelage, antwortet er: "Gewiß, Exzellenz. Jedoch wird dieser Gedanke durch den Hunger nuanciert." Und beiläufig gibt er zu bedenken: "Möglich, daß ich auch nur ein Mensch bin, wie auch Sie vor Jahves Angesicht nichts anderes sind, Herr Graf, ein Mensch . . . ein Mensch . . ." Das erinnert an den großen Monolog von Shylock: "Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?" Aber der alte Esterhazy versteht nicht und will es wohl auch nicht, der Reaktionär sieht in Sterks Rede nur die "sentimentale Todesangst". Und er erregt sich: "Heutzutage von umfassenden Pogromen zu sprechen oder sie auch nur anzudeuten ist einfach eine Lüge! Wir befinden uns im zwanzigsten Jahrhundert!" Dann bricht die Räteherschaft zusammen. Kalt-lakonisch erinnert sich der Graf an seinen Widersacher: "Er ließ sich nach dem Scheitern der Kommune bei mir anmelden, aber ich besiegte meine Neugier und empfing ihn nicht. Er floh nach Wien, erzählte man sich im Dorf, dann nach Moskau, dann wieder zurück nach Wien, wo er unter obskuren Umständen verstarb." Esterhazys Darstellung der Räteherrschaft ist es, die am Ende für manchen erzählerischen Leerlauf in diesem Roman entschädigt. Ihre Gerechtigkeit ist neu, und sie weist in die Zukunft.

Péter Esterhazy: "Harmonia Caelestis". Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Terézia Mora. Berlin Verlag, Berlin 2001. 921 S., geb., 68,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Überaus ausführlich und sehr kritisch widmet sich Andreas Breitenstein der Familiengeschichte Esterhazys, die nun in einer hervorragenden Übersetzung von Terezia Mora vorliegt. Die in Ungarn hoch gelobte Geschichte des ungarischen Adelsgeschlechts sei vom ästhetischen Standpunkt her keinesfalls leichte Kost, befindet der Rezensent, und er meint dies durchaus nicht positiv. Dem Leser sei es unmöglich, in diesem monumentalen Werk Chronologie oder deutlich erkennbare Erzählstränge herauszulesen. Eine furiose Mischung von Elementen der verschiedensten literarischen Gattungen und von Sprach- und Stilebenen erschwere zudem das Verständnis in einem unnötigen Ausmaß. Der Rezensent kritisiert, dass die postmoderne Ironie in einem derartigen Übermaß dem Inhalt des Buches nicht mehr gerecht werden kann und dass der Leser nach den ständigen Witzeleien nicht mehr zum angemessenen Ernst zurückfinden könne. Breitensteins Fazit ist daher negativ: "Peter Esterhazy zerredet (s)eine Familiengeschichte."

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