Peter Esterhazy ist der große Erneuerer der ungarischen Literatur, und sein Familienroman wurde schon kurz nach Erscheinen in Ungarn als "Nationalepos" begrüßt. Das Buch hat zwei Teile. Der erste Teil trägt den Untertitel "Numerierte Sätze aus dem Leben der Familie Esterhazy" und ist ein Textmosaik aus Einzelgeschichten, Mythen und Legenden. Der zweite Teil "Die Bekenntnisse einer Familie Esterhazy" erzählt die Geschichte der Aristokratenfamilie im 19. und 20. Jahrhundert. Das Historische ist dem Autor eine Goldgrube der Sprache und Bilderwelt, der glorreichen und komischen Anekdoten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.01.2005Wie man elegant einen Apfel verspeist
Über die Tücken der Dissidenz, der Literatur und der Restaurantkritik: Ein Besuch bei Péter Esterházy in Budapest
„Die weltliche Anerkennung”, sagt Péter Esterházy, während er den Telefonhörer einhängt, „ist doch etwas Schönes. Besonders dann, wenn man auch noch kurzfristig in seinem Lieblingsrestaurant einen Tisch bekommt.” Péter Esterházy isst gerne. So gerne, dass er mit Blick auf ein gutes Essen einen pragmatischen Zugang zur Vorstellungswelt des Ruhms gewinnen kann. Ruhm ist, denkt man sich, Esterházys Fröhlichkeit nach der erfolgreichen Platzreservierung vor Augen, wenn sich der Koch eines guten Restaurants freut, für einen kochen zu dürfen.
Dabei ist ein Wort wie Ruhm eigentlich zu klobig für einen Leichtigkeitsvirtuosen wie Esterházy. Obwohl andererseits die großen und auch die schweren Worte und Vorstellungswelten bei ihm durchaus eine Rolle spielen. Aber eben keine gewichtige. Sie haben in seinem Werk einen guten Auftritt, weil sie unter seiner Hand plötzlich tänzerisch werden, als hätten sie ihr althergebrachtes Gewicht, ihre traditionellen Epauletten sozusagen, abgelegt. Worte wie Männlichkeit, Stolz, Herr-Sein, Freiheit oder Niederlage, Feigheit, Demütigung und Verrat. Wollte man Péter Esterházy einen Satiriker nennen, so müsste man hinzufügen, dass er über die paradoxe Kunst verfügt, das Parodierte nicht abzustrafen und herunterzuziehen, sondern es im Gegenteil im Leichtigkeitsauftrieb seiner Ironie zu erhöhen.
Die Brille auf der Nase
Das gilt nicht nur für seine Bücher, sein ganzes Wesen besteht aus dieser adelnden Ironie, bei der Schalk und seelische Delikatesse zwei Seiten der selben Medaille sind. Als Péter Esterházy im vergangenen Herbst den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, hat er mit einer Handbewegung ein vollkommenes Bild seiner eigenen Person abgeliefert. Und dank des intuitiven Gespürs der Fotografen war er dann am nächsten Tag auch genau in dieser Pose in den meisten Zeitungen zu sehen.
Es war noch vor seiner Dankesrede, als der Vorsteher des Deutschen Börsenvereins, auf den in Sachen Gravitas und Pomp stets Verlass ist, mit staatsmännischem Aplomb die Preisurkunde zwischen sich und Esterházy in Stellung brachte und mit getragener Feierlichkeit den Blick des Schriftstellers suchte: Da schaute Esterházy, die Mundwinkel wie zu einem lautlosen Clowns-Oh verzogen, mit großen Augen zurück und rückte dabei seine leicht auf dem Nasenrücken nach vorne gerutschte Brille mit dem Zeigefinger wieder nach oben. „Hab ich irgendwas getan”, schien Esterházys Blick zu sagen - dabei verflog die steife Atmosphäre für alle spürbar auf einen Schlag, der in Wahrheit bloß ein leichtes Brillehochrücken gewesen war, und ein erleichtertes Lachen ging durch den Saal.
Esterházy zu beobachten, heißt, sich an der Kunst der Nuance zu erfreuen. Er beherrscht eine Form der Distanzierung, die nie respektlos ist. Dieser späteste Sprössling eines der ältesten Adelsgeschlechter Europas, dem einst halb Ungarn gehörte und das so manchen hochfahrenden Grafen hervorgebracht hat, hätte sein opus magnum, das Familienepos „Harmonia Caelestis”, das 400 Jahre Esterházy-Geschichte umfasst, nicht als diese beschwingte Liebeserklärung an seine Vorfahren schreiben können ohne eben diese Gabe der erhöhende Ironie.
In Péter Esterházys Haus in Buda hängen mancherlei Bilder aus der Ahnengalerie. Das frappierendste, weil einschüchterndste, ist fraglos eine Schwarzweißfotografie seines Großvaters Móricz, der zeitweilig ungarischer Ministerpräsident war. Der außenstehende Betrachter mag sich, besonders durch die Partie um die grimmigen Augenbrauen, an ein Porträt Wallensteins erinnert fühlen. So herrisch, gebieterisch und von unglaublichem Schneid geprägt ist der Anblick, dass man unwillkürlich an Jacob Burckhardts Formulierung von „unserem Knirpstum” denkt: „Größe ist, was wir nicht sind.” Aber das wäre die pathetisch-depressive Perspektive. In „Harmonia Caelestis” heißt es dagegen: „Mein Vater schaute auf niemanden herab, das war seine Art, ein Aristokrat zu sein. Großpapa schaute auf alle herab, das war seine. Und ich blinzle nur.”
Dieses Blinzeln ist die zugleich bewahrendste und freieste Form, sich gegenüber einem solchen Stammbaum zu verhalten. Und es ist dieses Blinzeln, das lebenspragmatisch die vier Esterházy-Brüder (einer davon übrigens ein Fußballer der ungarischen Nationalmannschaft) dazu bestimmte, nach 1989 von allen Restitutionsansprüchen auf ihre enteigneten Ländereien und Schlösser abzusehen. Ästhetisch ist es die Voraussetzung für eine poetische Aneignung der Familiengeschichte, die nichts von Gotha und Familiendünkel hat.
In einem weiteren Sinn betrifft dieses Blinzeln aber nicht nur Péter Esterházys Verhältnis zu seiner Familiengeschichte, sondern auch seine Rolle im sogenannten Gulaschkommunismus. 1950 geboren, studierter Mathematiker, hat man Esterházy seit seinem literarischen Debut „Fancsikó und Pinta” von 1976 einen Vertreter der Postmoderne genannt. Das leuchtet in gewisser Weise ein. Es handelt sich aber um eine spezifisch osteuropäische Postmoderne unter den Bedingungen einer kommunistischen Diktatur. Sie war wesentlich politischer als ihr westliches Pedant, und ihr sprachlicher Spielcharakter war voll existentiellen Ernstes, weil das ästhetische Virtuosentum ein riskanter antiideologischer Gestus war: Heiterkeit als Mittel, sich der Verfügbarkeit zu entziehen.
Was Esterházy in der Zeit des Eisernen Vorhangs entwickelte, war eine Form der Dissidenz, die weniger auf den moralischen Appell und mehr auf die ästhetische Alertheit setzte. Das unterschied ihn - und unterscheidet ihn bis heute - deutlich von jenem anderen mitteleuropäischen Dissidententypus der Václav Havels und György Konráds, die sich mehr durch die Getragenheit ihres Timbres zu erkennen gaben.
Wenigem misstraut Esterházy vermutlich mehr als der moralisch-normativen Rhetorik. Deren traditionelle Heimstatt ist die alljährliche Verleihung des Friedenspreises in der Frankfurter Paulskirche. Václav Havel und György Konrád haben ihn beide längst bekommen. Aber Péter Esterházy? Wie sollte das gehen, ohne schief zu klingen? Aber auch hier rettete ihn sein Blinzeln, sein postmoderner, zitierender Umgang mit den Worten. In diesem Falle denen der Verleihungsurkunde. „Deutsche Preisverleihungen”, sprach er, „führen die Preisträger in Versuchung, sich selbst so zu sehen, wie sie in der Preisbegründung beschrieben werden. Sag nur, mein lieber guter Vater, sagt mir neulich mein 17-jähriger Sohn, na so was!, hast du wirklich nicht nur deine Heimat (Ungarn) in der Mitte Europas, sondern Europa in der Mitte der Literatur neu situiert? Er spricht mit mir wie ein strenger Vater. Schon gut, sagt er, aber das soll nicht noch einmal vorkommen, ich will nicht wieder hören, dass du der europäischen Depression einen Kontrapunkt gesetzt hast.”
Während wir in einem Taxi durch das winterliche Budapest zu seinem Lieblingsrestaurant fahren, sagt Esterházy: „Ich bin sehr weit von Havel entfernt. Natürlich habe ich für ihn unterschrieben. Aber ich hatte immer gehofft, dass er vom Hradschin zum Schreibtisch zurückkehrt. Er ist nie zurückgekommen. Nun, auch kein Drama.” Und dann erzählt er von den Jahren vor 1989. Es war, sagt er, alles Lüge, das schon, aber die gefährlichste Versuchung sei gewesen, sich irgendwann mitten in dieser Lüge als Gral, als einzig rein und wahr, zu sehen. Doch das gibt es nicht.
Die Diktatur, sagt er, sei ja selbst schon eine postmoderne Fiktion gewesen: „Wie oft war ich in einer Situation, wo ich mir sagte: Wenn ich ein normaler Mensch wäre, würde ich jetzt brüllen. Und was machte ich darauf? Ich brüllte, klar. Aber so ist nicht Brüllen. Es gibt kein reflexives Brüllen. Entweder man brüllt oder man brüllt nicht.” In einem seiner Bücher, in denen die Bespitzelung ein wichtiges Motiv ist, heißt es: „Die osteuropäische Paranoia ist, dass jemand unter Verfolgungswahn leidet, weil man ihn verfolgt.” Da erscheint rechts, auf der anderen Seite der Donau, aus dem dunklen Nachthimmel plötzlich die hellerleuchtete Burg, ein hinreißender Anblick, und Esterházy wirft entzückt die Arme in die Luft. Und fügt dem Gesagten hinzu: „Wer sich vor 1989 zu sehr auf die Dissidentenrolle festgelegt hatte, für den ging mit dem Fall des Eisernen Vorhangs etwas zu Ende. Das war nicht immer einfach. Mir erscheint mein Leben aber immer eher als Einheit.”
Der wackere Schwaben
Schließlich erreichen wir das Restaurant. Unter sehr würdevollen Herzereien geleitet uns der Kellner zum Tisch und serviert erstmal zwei sehr scharfe Schnäpse - eine ungarische Eigenart, die wohl von der optimistischen Annahme ausgeht, dass sich die Geschmacksnerven rasch genug erholen werden, um die bevorstehenden Leckereien weiter würdigen zu können. Esterházy redet gerne über Essen. Und es ist ein nicht geringeres Vergnügen, ihn essen zu sehen.
Er hat in den neunziger Jahren längere Zeit - zum Vergnügen, aber mit großer Ernsthaftigkeit - als Restaurantkritiker gearbeitet. Aber es ist nicht nur die rein kulinarische Seite, die ihn mit Wohlgefallen erfüllt. Mindestens genauso fasziniert ihn das Theaterhafte, das jedes gepflegte Essen auszeichnet, die feine Balance zwischen Ritual und Ausgelassenheit: das Speisen im Restaurant gewissermaßen als Musterfall gelingender Gesellschaftlichkeit. Schon als Knabe hatte er immer ein wenig Geld zur Seite gelegt, um gelegentlich in ein vornehmes Restaurant zu gehen. Seine erste Lektion war damals der delikate Zusammenhang zwischen Regel und Freiheit. Als der Kellner ihm zum Nachtisch einen Apfel auf einem Teller mit Messer und Gabel servierte, nahm der junge Esterházy den Apfel in die Hand und biss zu: Solange man glaubwürdig ausstrahlt, man wisse um die Benimmregeln, darf man sie gerne und ohne Ansehensverlust missachten.
In „Harmonia Caelestis” heißt es: „Mein Name hat sich nicht (besonders) in mein Leben eingemischt. Er hat mich zwar ab und an berührt, aber er brachte mich nicht ins Stolpern und blendete mich auch nicht. Am ehesten gab er noch zu Anekdoten Anlass.” Nach der Vorspeise nähert sich uns ein älterer Herr. Mit stark schwäbischer Färbung bittet er um Entschuldigung. Er trägt eine kuriose Joppe mit einem schwarz-weiß karierten Hemd darunter, die ihm halb wie einen vornehmen Clowns, halb wie einen leicht geckenhaften Kirchenratsvorsitzenden aussehen lässt. Seit seinem 17. Lebensjahr, hebt er darauf an, sei er ein glühender Bewunderer - nun, nicht von Péter Esterházy, sondern von Joseph Haydn. „Er war damals der größte für mich”, sagt er. Und jetzt also einem echten Esterházy gegenüberzustehen („meine Frau hat sie erkannt”), das sei nun doch außerordentlich bewegend. Und es ist komischerweise, als sei die mäzenatische Generosität des Fürsten Esterházy selig für ihn, den wackeren Schwaben, noch heute fast bewunderungswürdiger als die musikalischen Werke selbst.
In „Harmonia Caelestis” gibt es eine Szene, in der der junge Erzähler während seiner Militärzeit beim Fußballspiel schikaniert wird, weil er sich angeblich zu fein ist, richtig hinzulangen. Man fragt ihn im Kommandoton: „Name?” Und der Ezähler gesteht, zum ersten Mal in seinem Leben das Bedürfnis gehabt zu haben, lieber anders zu heißen: „Kovács, Eich, sogar Zichy oder Schwarzenberg wäre angenehmer gewesen; es war ein merkwürdiges Gefühl, der Odem des Verrats streifte mich.”
Es ist kein Zufall, dass das Wort Verrat im Kontext des Namens des Vaters fällt. Als Péter Esterházy diese Szene schrieb, war die Welt noch in Ordnung. Der zweite Teil der „Harmonia Caelestis” ist eine wunderbare Hommage an seinen Vater, Mátyás Esterházy. Als der Sohn nach fast einem Jahrzehnt die Arbeit an „Harmonia Caelestis” abschließt, kommt für ihn, den Heiteren, der so viel Kraft aus der poetischen wie der realen Geborgenheit in seiner Familiengeschichte gezogen hatte, der wohl schwerste Schlag seines Lebens. Im Jahr 2000 gewährt ihm das „Amt für Geschichte”, die ungarische Gauck-Behörde, wenn man so will, Akteneinsicht: Esterházy will schauen, was für Dossiers die Staatssicherheit über ihn geführt hat. Doch er muss etwas anderes entdecken: „Ich wusste sofort, worum es sich handelte. Was ich sah, konnte ich nicht glauben. Ich legte rasch meine Hand auf den Tisch, weil sie zu zittern begann. Als ich das Dossier aufschlug, hatte ich die Handschrift meines Vaters erkannt.”
Fast drei Jahrzehnte hatte Mátyás Esterházy für die berüchtigte „Abteilung III/III” des ungarischen Geheimdienstes Spitzeldienste geleistet. Es gibt da wenig schön zu reden, niedrig und widerlich waren seine Berichte auch da, wo sie unbeholfen und wenig effektiv waren. Der geliebte Vater, dem der Sohn gerade ein literarisches Monument ohnegleichen errichtet hatte. Was war in dieser Situation zu tun? „Harmonia Caelestis” überarbeiten? Die Spitzeltätigkeit ins Werk aufnehmen? Aber es war doch ein Roman, der sich, wie Esterházy sagt, wenig um reale Väter kümmert! „Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt”, heißt der berühmte erste Satz des Buches. Esterházy beschloss, dass Buch, das Literatur ist, zu lassen, wie es war. Statt dessen schrieb er die „Verbesserte Ausgabe”, die auf herzzusammenziehende Weise von der schmerzhaften Lektüre der Spitzeldossiers seines Vaters erzählt. In diesen Notizen lesen wir: „Es wäre gut, es nicht sofort zu veröffentlichen. Meinem Vater ein wenig Lauf zu lassen, einen Vorsprung, vielleicht verlieben sich noch andere in ihn, sie sollen ihn noch in aller Welt ein bisschen lieben, bedauern, beweinen, achten. Er soll noch ein wenig Zeit haben. Und dann erst sollen sie ausspucken.” Diese Zeit dürften die Leser seinem Vater von Herzen gern gegeben haben.
IJOMA MANGOLD
Péter Esterházy
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Über die Tücken der Dissidenz, der Literatur und der Restaurantkritik: Ein Besuch bei Péter Esterházy in Budapest
„Die weltliche Anerkennung”, sagt Péter Esterházy, während er den Telefonhörer einhängt, „ist doch etwas Schönes. Besonders dann, wenn man auch noch kurzfristig in seinem Lieblingsrestaurant einen Tisch bekommt.” Péter Esterházy isst gerne. So gerne, dass er mit Blick auf ein gutes Essen einen pragmatischen Zugang zur Vorstellungswelt des Ruhms gewinnen kann. Ruhm ist, denkt man sich, Esterházys Fröhlichkeit nach der erfolgreichen Platzreservierung vor Augen, wenn sich der Koch eines guten Restaurants freut, für einen kochen zu dürfen.
Dabei ist ein Wort wie Ruhm eigentlich zu klobig für einen Leichtigkeitsvirtuosen wie Esterházy. Obwohl andererseits die großen und auch die schweren Worte und Vorstellungswelten bei ihm durchaus eine Rolle spielen. Aber eben keine gewichtige. Sie haben in seinem Werk einen guten Auftritt, weil sie unter seiner Hand plötzlich tänzerisch werden, als hätten sie ihr althergebrachtes Gewicht, ihre traditionellen Epauletten sozusagen, abgelegt. Worte wie Männlichkeit, Stolz, Herr-Sein, Freiheit oder Niederlage, Feigheit, Demütigung und Verrat. Wollte man Péter Esterházy einen Satiriker nennen, so müsste man hinzufügen, dass er über die paradoxe Kunst verfügt, das Parodierte nicht abzustrafen und herunterzuziehen, sondern es im Gegenteil im Leichtigkeitsauftrieb seiner Ironie zu erhöhen.
Die Brille auf der Nase
Das gilt nicht nur für seine Bücher, sein ganzes Wesen besteht aus dieser adelnden Ironie, bei der Schalk und seelische Delikatesse zwei Seiten der selben Medaille sind. Als Péter Esterházy im vergangenen Herbst den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, hat er mit einer Handbewegung ein vollkommenes Bild seiner eigenen Person abgeliefert. Und dank des intuitiven Gespürs der Fotografen war er dann am nächsten Tag auch genau in dieser Pose in den meisten Zeitungen zu sehen.
Es war noch vor seiner Dankesrede, als der Vorsteher des Deutschen Börsenvereins, auf den in Sachen Gravitas und Pomp stets Verlass ist, mit staatsmännischem Aplomb die Preisurkunde zwischen sich und Esterházy in Stellung brachte und mit getragener Feierlichkeit den Blick des Schriftstellers suchte: Da schaute Esterházy, die Mundwinkel wie zu einem lautlosen Clowns-Oh verzogen, mit großen Augen zurück und rückte dabei seine leicht auf dem Nasenrücken nach vorne gerutschte Brille mit dem Zeigefinger wieder nach oben. „Hab ich irgendwas getan”, schien Esterházys Blick zu sagen - dabei verflog die steife Atmosphäre für alle spürbar auf einen Schlag, der in Wahrheit bloß ein leichtes Brillehochrücken gewesen war, und ein erleichtertes Lachen ging durch den Saal.
Esterházy zu beobachten, heißt, sich an der Kunst der Nuance zu erfreuen. Er beherrscht eine Form der Distanzierung, die nie respektlos ist. Dieser späteste Sprössling eines der ältesten Adelsgeschlechter Europas, dem einst halb Ungarn gehörte und das so manchen hochfahrenden Grafen hervorgebracht hat, hätte sein opus magnum, das Familienepos „Harmonia Caelestis”, das 400 Jahre Esterházy-Geschichte umfasst, nicht als diese beschwingte Liebeserklärung an seine Vorfahren schreiben können ohne eben diese Gabe der erhöhende Ironie.
In Péter Esterházys Haus in Buda hängen mancherlei Bilder aus der Ahnengalerie. Das frappierendste, weil einschüchterndste, ist fraglos eine Schwarzweißfotografie seines Großvaters Móricz, der zeitweilig ungarischer Ministerpräsident war. Der außenstehende Betrachter mag sich, besonders durch die Partie um die grimmigen Augenbrauen, an ein Porträt Wallensteins erinnert fühlen. So herrisch, gebieterisch und von unglaublichem Schneid geprägt ist der Anblick, dass man unwillkürlich an Jacob Burckhardts Formulierung von „unserem Knirpstum” denkt: „Größe ist, was wir nicht sind.” Aber das wäre die pathetisch-depressive Perspektive. In „Harmonia Caelestis” heißt es dagegen: „Mein Vater schaute auf niemanden herab, das war seine Art, ein Aristokrat zu sein. Großpapa schaute auf alle herab, das war seine. Und ich blinzle nur.”
Dieses Blinzeln ist die zugleich bewahrendste und freieste Form, sich gegenüber einem solchen Stammbaum zu verhalten. Und es ist dieses Blinzeln, das lebenspragmatisch die vier Esterházy-Brüder (einer davon übrigens ein Fußballer der ungarischen Nationalmannschaft) dazu bestimmte, nach 1989 von allen Restitutionsansprüchen auf ihre enteigneten Ländereien und Schlösser abzusehen. Ästhetisch ist es die Voraussetzung für eine poetische Aneignung der Familiengeschichte, die nichts von Gotha und Familiendünkel hat.
In einem weiteren Sinn betrifft dieses Blinzeln aber nicht nur Péter Esterházys Verhältnis zu seiner Familiengeschichte, sondern auch seine Rolle im sogenannten Gulaschkommunismus. 1950 geboren, studierter Mathematiker, hat man Esterházy seit seinem literarischen Debut „Fancsikó und Pinta” von 1976 einen Vertreter der Postmoderne genannt. Das leuchtet in gewisser Weise ein. Es handelt sich aber um eine spezifisch osteuropäische Postmoderne unter den Bedingungen einer kommunistischen Diktatur. Sie war wesentlich politischer als ihr westliches Pedant, und ihr sprachlicher Spielcharakter war voll existentiellen Ernstes, weil das ästhetische Virtuosentum ein riskanter antiideologischer Gestus war: Heiterkeit als Mittel, sich der Verfügbarkeit zu entziehen.
Was Esterházy in der Zeit des Eisernen Vorhangs entwickelte, war eine Form der Dissidenz, die weniger auf den moralischen Appell und mehr auf die ästhetische Alertheit setzte. Das unterschied ihn - und unterscheidet ihn bis heute - deutlich von jenem anderen mitteleuropäischen Dissidententypus der Václav Havels und György Konráds, die sich mehr durch die Getragenheit ihres Timbres zu erkennen gaben.
Wenigem misstraut Esterházy vermutlich mehr als der moralisch-normativen Rhetorik. Deren traditionelle Heimstatt ist die alljährliche Verleihung des Friedenspreises in der Frankfurter Paulskirche. Václav Havel und György Konrád haben ihn beide längst bekommen. Aber Péter Esterházy? Wie sollte das gehen, ohne schief zu klingen? Aber auch hier rettete ihn sein Blinzeln, sein postmoderner, zitierender Umgang mit den Worten. In diesem Falle denen der Verleihungsurkunde. „Deutsche Preisverleihungen”, sprach er, „führen die Preisträger in Versuchung, sich selbst so zu sehen, wie sie in der Preisbegründung beschrieben werden. Sag nur, mein lieber guter Vater, sagt mir neulich mein 17-jähriger Sohn, na so was!, hast du wirklich nicht nur deine Heimat (Ungarn) in der Mitte Europas, sondern Europa in der Mitte der Literatur neu situiert? Er spricht mit mir wie ein strenger Vater. Schon gut, sagt er, aber das soll nicht noch einmal vorkommen, ich will nicht wieder hören, dass du der europäischen Depression einen Kontrapunkt gesetzt hast.”
Während wir in einem Taxi durch das winterliche Budapest zu seinem Lieblingsrestaurant fahren, sagt Esterházy: „Ich bin sehr weit von Havel entfernt. Natürlich habe ich für ihn unterschrieben. Aber ich hatte immer gehofft, dass er vom Hradschin zum Schreibtisch zurückkehrt. Er ist nie zurückgekommen. Nun, auch kein Drama.” Und dann erzählt er von den Jahren vor 1989. Es war, sagt er, alles Lüge, das schon, aber die gefährlichste Versuchung sei gewesen, sich irgendwann mitten in dieser Lüge als Gral, als einzig rein und wahr, zu sehen. Doch das gibt es nicht.
Die Diktatur, sagt er, sei ja selbst schon eine postmoderne Fiktion gewesen: „Wie oft war ich in einer Situation, wo ich mir sagte: Wenn ich ein normaler Mensch wäre, würde ich jetzt brüllen. Und was machte ich darauf? Ich brüllte, klar. Aber so ist nicht Brüllen. Es gibt kein reflexives Brüllen. Entweder man brüllt oder man brüllt nicht.” In einem seiner Bücher, in denen die Bespitzelung ein wichtiges Motiv ist, heißt es: „Die osteuropäische Paranoia ist, dass jemand unter Verfolgungswahn leidet, weil man ihn verfolgt.” Da erscheint rechts, auf der anderen Seite der Donau, aus dem dunklen Nachthimmel plötzlich die hellerleuchtete Burg, ein hinreißender Anblick, und Esterházy wirft entzückt die Arme in die Luft. Und fügt dem Gesagten hinzu: „Wer sich vor 1989 zu sehr auf die Dissidentenrolle festgelegt hatte, für den ging mit dem Fall des Eisernen Vorhangs etwas zu Ende. Das war nicht immer einfach. Mir erscheint mein Leben aber immer eher als Einheit.”
Der wackere Schwaben
Schließlich erreichen wir das Restaurant. Unter sehr würdevollen Herzereien geleitet uns der Kellner zum Tisch und serviert erstmal zwei sehr scharfe Schnäpse - eine ungarische Eigenart, die wohl von der optimistischen Annahme ausgeht, dass sich die Geschmacksnerven rasch genug erholen werden, um die bevorstehenden Leckereien weiter würdigen zu können. Esterházy redet gerne über Essen. Und es ist ein nicht geringeres Vergnügen, ihn essen zu sehen.
Er hat in den neunziger Jahren längere Zeit - zum Vergnügen, aber mit großer Ernsthaftigkeit - als Restaurantkritiker gearbeitet. Aber es ist nicht nur die rein kulinarische Seite, die ihn mit Wohlgefallen erfüllt. Mindestens genauso fasziniert ihn das Theaterhafte, das jedes gepflegte Essen auszeichnet, die feine Balance zwischen Ritual und Ausgelassenheit: das Speisen im Restaurant gewissermaßen als Musterfall gelingender Gesellschaftlichkeit. Schon als Knabe hatte er immer ein wenig Geld zur Seite gelegt, um gelegentlich in ein vornehmes Restaurant zu gehen. Seine erste Lektion war damals der delikate Zusammenhang zwischen Regel und Freiheit. Als der Kellner ihm zum Nachtisch einen Apfel auf einem Teller mit Messer und Gabel servierte, nahm der junge Esterházy den Apfel in die Hand und biss zu: Solange man glaubwürdig ausstrahlt, man wisse um die Benimmregeln, darf man sie gerne und ohne Ansehensverlust missachten.
In „Harmonia Caelestis” heißt es: „Mein Name hat sich nicht (besonders) in mein Leben eingemischt. Er hat mich zwar ab und an berührt, aber er brachte mich nicht ins Stolpern und blendete mich auch nicht. Am ehesten gab er noch zu Anekdoten Anlass.” Nach der Vorspeise nähert sich uns ein älterer Herr. Mit stark schwäbischer Färbung bittet er um Entschuldigung. Er trägt eine kuriose Joppe mit einem schwarz-weiß karierten Hemd darunter, die ihm halb wie einen vornehmen Clowns, halb wie einen leicht geckenhaften Kirchenratsvorsitzenden aussehen lässt. Seit seinem 17. Lebensjahr, hebt er darauf an, sei er ein glühender Bewunderer - nun, nicht von Péter Esterházy, sondern von Joseph Haydn. „Er war damals der größte für mich”, sagt er. Und jetzt also einem echten Esterházy gegenüberzustehen („meine Frau hat sie erkannt”), das sei nun doch außerordentlich bewegend. Und es ist komischerweise, als sei die mäzenatische Generosität des Fürsten Esterházy selig für ihn, den wackeren Schwaben, noch heute fast bewunderungswürdiger als die musikalischen Werke selbst.
In „Harmonia Caelestis” gibt es eine Szene, in der der junge Erzähler während seiner Militärzeit beim Fußballspiel schikaniert wird, weil er sich angeblich zu fein ist, richtig hinzulangen. Man fragt ihn im Kommandoton: „Name?” Und der Ezähler gesteht, zum ersten Mal in seinem Leben das Bedürfnis gehabt zu haben, lieber anders zu heißen: „Kovács, Eich, sogar Zichy oder Schwarzenberg wäre angenehmer gewesen; es war ein merkwürdiges Gefühl, der Odem des Verrats streifte mich.”
Es ist kein Zufall, dass das Wort Verrat im Kontext des Namens des Vaters fällt. Als Péter Esterházy diese Szene schrieb, war die Welt noch in Ordnung. Der zweite Teil der „Harmonia Caelestis” ist eine wunderbare Hommage an seinen Vater, Mátyás Esterházy. Als der Sohn nach fast einem Jahrzehnt die Arbeit an „Harmonia Caelestis” abschließt, kommt für ihn, den Heiteren, der so viel Kraft aus der poetischen wie der realen Geborgenheit in seiner Familiengeschichte gezogen hatte, der wohl schwerste Schlag seines Lebens. Im Jahr 2000 gewährt ihm das „Amt für Geschichte”, die ungarische Gauck-Behörde, wenn man so will, Akteneinsicht: Esterházy will schauen, was für Dossiers die Staatssicherheit über ihn geführt hat. Doch er muss etwas anderes entdecken: „Ich wusste sofort, worum es sich handelte. Was ich sah, konnte ich nicht glauben. Ich legte rasch meine Hand auf den Tisch, weil sie zu zittern begann. Als ich das Dossier aufschlug, hatte ich die Handschrift meines Vaters erkannt.”
Fast drei Jahrzehnte hatte Mátyás Esterházy für die berüchtigte „Abteilung III/III” des ungarischen Geheimdienstes Spitzeldienste geleistet. Es gibt da wenig schön zu reden, niedrig und widerlich waren seine Berichte auch da, wo sie unbeholfen und wenig effektiv waren. Der geliebte Vater, dem der Sohn gerade ein literarisches Monument ohnegleichen errichtet hatte. Was war in dieser Situation zu tun? „Harmonia Caelestis” überarbeiten? Die Spitzeltätigkeit ins Werk aufnehmen? Aber es war doch ein Roman, der sich, wie Esterházy sagt, wenig um reale Väter kümmert! „Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt”, heißt der berühmte erste Satz des Buches. Esterházy beschloss, dass Buch, das Literatur ist, zu lassen, wie es war. Statt dessen schrieb er die „Verbesserte Ausgabe”, die auf herzzusammenziehende Weise von der schmerzhaften Lektüre der Spitzeldossiers seines Vaters erzählt. In diesen Notizen lesen wir: „Es wäre gut, es nicht sofort zu veröffentlichen. Meinem Vater ein wenig Lauf zu lassen, einen Vorsprung, vielleicht verlieben sich noch andere in ihn, sie sollen ihn noch in aller Welt ein bisschen lieben, bedauern, beweinen, achten. Er soll noch ein wenig Zeit haben. Und dann erst sollen sie ausspucken.” Diese Zeit dürften die Leser seinem Vater von Herzen gern gegeben haben.
IJOMA MANGOLD
Péter Esterházy
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Wie man elegant einen Apfel verspeist
Über die Tücken der Dissidenz, der Literatur und der Restaurantkritik: Ein Besuch bei Péter Esterházy in Budapest
„Die weltliche Anerkennung”, sagt Péter Esterházy, während er den Telefonhörer einhängt, „ist doch etwas Schönes. Besonders dann, wenn man auch noch kurzfristig in seinem Lieblingsrestaurant einen Tisch bekommt.” Péter Esterházy isst gerne. So gerne, dass er mit Blick auf ein gutes Essen einen pragmatischen Zugang zur Vorstellungswelt des Ruhms gewinnen kann. Ruhm ist, denkt man sich, Esterházys Fröhlichkeit nach der erfolgreichen Platzreservierung vor Augen, wenn sich der Koch eines guten Restaurants freut, für einen kochen zu dürfen.
Dabei ist ein Wort wie Ruhm eigentlich zu klobig für einen Leichtigkeitsvirtuosen wie Esterházy. Obwohl andererseits die großen und auch die schweren Worte und Vorstellungswelten bei ihm durchaus eine Rolle spielen. Aber eben keine gewichtige. Sie haben in seinem Werk einen guten Auftritt, weil sie unter seiner Hand plötzlich tänzerisch werden, als hätten sie ihr althergebrachtes Gewicht, ihre traditionellen Epauletten sozusagen, abgelegt. Worte wie Männlichkeit, Stolz, Herr-Sein, Freiheit oder Niederlage, Feigheit, Demütigung und Verrat. Wollte man Péter Esterházy einen Satiriker nennen, so müsste man hinzufügen, dass er über die paradoxe Kunst verfügt, das Parodierte nicht abzustrafen und herunterzuziehen, sondern es im Gegenteil im Leichtigkeitsauftrieb seiner Ironie zu erhöhen.
Die Brille auf der Nase
Das gilt nicht nur für seine Bücher, sein ganzes Wesen besteht aus dieser adelnden Ironie, bei der Schalk und seelische Delikatesse zwei Seiten der selben Medaille sind. Als Péter Esterházy im vergangenen Herbst den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, hat er mit einer Handbewegung ein vollkommenes Bild seiner eigenen Person abgeliefert. Und dank des intuitiven Gespürs der Fotografen war er dann am nächsten Tag auch genau in dieser Pose in den meisten Zeitungen zu sehen.
Es war noch vor seiner Dankesrede, als der Vorsteher des Deutschen Börsenvereins, auf den in Sachen Gravitas und Pomp stets Verlass ist, mit staatsmännischem Aplomb die Preisurkunde zwischen sich und Esterházy in Stellung brachte und mit getragener Feierlichkeit den Blick des Schriftstellers suchte: Da schaute Esterházy, die Mundwinkel wie zu einem lautlosen Clowns-Oh verzogen, mit großen Augen zurück und rückte dabei seine leicht auf dem Nasenrücken nach vorne gerutschte Brille mit dem Zeigefinger wieder nach oben. „Hab ich irgendwas getan”, schien Esterházys Blick zu sagen - dabei verflog die steife Atmosphäre für alle spürbar auf einen Schlag, der in Wahrheit bloß ein leichtes Brillehochrücken gewesen war, und ein erleichtertes Lachen ging durch den Saal.
Esterházy zu beobachten, heißt, sich an der Kunst der Nuance zu erfreuen. Er beherrscht eine Form der Distanzierung, die nie respektlos ist. Dieser späteste Sprössling eines der ältesten Adelsgeschlechter Europas, dem einst halb Ungarn gehörte und das so manchen hochfahrenden Grafen hervorgebracht hat, hätte sein opus magnum, das Familienepos „Harmonia Caelestis”, das 400 Jahre Esterházy-Geschichte umfasst, nicht als diese beschwingte Liebeserklärung an seine Vorfahren schreiben können ohne eben diese Gabe der erhöhende Ironie.
In Péter Esterházys Haus in Buda hängen mancherlei Bilder aus der Ahnengalerie. Das frappierendste, weil einschüchterndste, ist fraglos eine Schwarzweißfotografie seines Großvaters Móricz, der zeitweilig ungarischer Ministerpräsident war. Der außenstehende Betrachter mag sich, besonders durch die Partie um die grimmigen Augenbrauen, an ein Porträt Wallensteins erinnert fühlen. So herrisch, gebieterisch und von unglaublichem Schneid geprägt ist der Anblick, dass man unwillkürlich an Jacob Burckhardts Formulierung von „unserem Knirpstum” denkt: „Größe ist, was wir nicht sind.” Aber das wäre die pathetisch-depressive Perspektive. In „Harmonia Caelestis” heißt es dagegen: „Mein Vater schaute auf niemanden herab, das war seine Art, ein Aristokrat zu sein. Großpapa schaute auf alle herab, das war seine. Und ich blinzle nur.”
Dieses Blinzeln ist die zugleich bewahrendste und freieste Form, sich gegenüber einem solchen Stammbaum zu verhalten. Und es ist dieses Blinzeln, das lebenspragmatisch die vier Esterházy-Brüder (einer davon übrigens ein Fußballer der ungarischen Nationalmannschaft) dazu bestimmte, nach 1989 von allen Restitutionsansprüchen auf ihre enteigneten Ländereien und Schlösser abzusehen. Ästhetisch ist es die Voraussetzung für eine poetische Aneignung der Familiengeschichte, die nichts von Gotha und Familiendünkel hat.
In einem weiteren Sinn betrifft dieses Blinzeln aber nicht nur Péter Esterházys Verhältnis zu seiner Familiengeschichte, sondern auch seine Rolle im sogenannten Gulaschkommunismus. 1950 geboren, studierter Mathematiker, hat man Esterházy seit seinem literarischen Debut „Fancsikó und Pinta” von 1976 einen Vertreter der Postmoderne genannt. Das leuchtet in gewisser Weise ein. Es handelt sich aber um eine spezifisch osteuropäische Postmoderne unter den Bedingungen einer kommunistischen Diktatur. Sie war wesentlich politischer als ihr westliches Pedant, und ihr sprachlicher Spielcharakter war voll existentiellen Ernstes, weil das ästhetische Virtuosentum ein riskanter antiideologischer Gestus war: Heiterkeit als Mittel, sich der Verfügbarkeit zu entziehen.
Was Esterházy in der Zeit des Eisernen Vorhangs entwickelte, war eine Form der Dissidenz, die weniger auf den moralischen Appell und mehr auf die ästhetische Alertheit setzte. Das unterschied ihn - und unterscheidet ihn bis heute - deutlich von jenem anderen mitteleuropäischen Dissidententypus der Václav Havels und György Konráds, die sich mehr durch die Getragenheit ihres Timbres zu erkennen gaben.
Wenigem misstraut Esterházy vermutlich mehr als der moralisch-normativen Rhetorik. Deren traditionelle Heimstatt ist die alljährliche Verleihung des Friedenspreises in der Frankfurter Paulskirche. Václav Havel und György Konrád haben ihn beide längst bekommen. Aber Péter Esterházy? Wie sollte das gehen, ohne schief zu klingen? Aber auch hier rettete ihn sein Blinzeln, sein postmoderner, zitierender Umgang mit den Worten. In diesem Falle denen der Verleihungsurkunde. „Deutsche Preisverleihungen”, sprach er, „führen die Preisträger in Versuchung, sich selbst so zu sehen, wie sie in der Preisbegründung beschrieben werden. Sag nur, mein lieber guter Vater, sagt mir neulich mein 17-jähriger Sohn, na so was!, hast du wirklich nicht nur deine Heimat (Ungarn) in der Mitte Europas, sondern Europa in der Mitte der Literatur neu situiert? Er spricht mit mir wie ein strenger Vater. Schon gut, sagt er, aber das soll nicht noch einmal vorkommen, ich will nicht wieder hören, dass du der europäischen Depression einen Kontrapunkt gesetzt hast.”
Während wir in einem Taxi durch das winterliche Budapest zu seinem Lieblingsrestaurant fahren, sagt Esterházy: „Ich bin sehr weit von Havel entfernt. Natürlich habe ich für ihn unterschrieben. Aber ich hatte immer gehofft, dass er vom Hradschin zum Schreibtisch zurückkehrt. Er ist nie zurückgekommen. Nun, auch kein Drama.” Und dann erzählt er von den Jahren vor 1989. Es war, sagt er, alles Lüge, das schon, aber die gefährlichste Versuchung sei gewesen, sich irgendwann mitten in dieser Lüge als Gral, als einzig rein und wahr, zu sehen. Doch das gibt es nicht.
Die Diktatur, sagt er, sei ja selbst schon eine postmoderne Fiktion gewesen: „Wie oft war ich in einer Situation, wo ich mir sagte: Wenn ich ein normaler Mensch wäre, würde ich jetzt brüllen. Und was machte ich darauf? Ich brüllte, klar. Aber so ist nicht Brüllen. Es gibt kein reflexives Brüllen. Entweder man brüllt oder man brüllt nicht.” In einem seiner Bücher, in denen die Bespitzelung ein wichtiges Motiv ist, heißt es: „Die osteuropäische Paranoia ist, dass jemand unter Verfolgungswahn leidet, weil man ihn verfolgt.” Da erscheint rechts, auf der anderen Seite der Donau, aus dem dunklen Nachthimmel plötzlich die hellerleuchtete Burg, ein hinreißender Anblick, und Esterházy wirft entzückt die Arme in die Luft. Und fügt dem Gesagten hinzu: „Wer sich vor 1989 zu sehr auf die Dissidentenrolle festgelegt hatte, für den ging mit dem Fall des Eisernen Vorhangs etwas zu Ende. Das war nicht immer einfach. Mir erscheint mein Leben aber immer eher als Einheit.”
Der wackere Schwaben
Schließlich erreichen wir das Restaurant. Unter sehr würdevollen Herzereien geleitet uns der Kellner zum Tisch und serviert erstmal zwei sehr scharfe Schnäpse - eine ungarische Eigenart, die wohl von der optimistischen Annahme ausgeht, dass sich die Geschmacksnerven rasch genug erholen werden, um die bevorstehenden Leckereien weiter würdigen zu können. Esterházy redet gerne über Essen. Und es ist ein nicht geringeres Vergnügen, ihn essen zu sehen.
Er hat in den neunziger Jahren längere Zeit - zum Vergnügen, aber mit großer Ernsthaftigkeit - als Restaurantkritiker gearbeitet. Aber es ist nicht nur die rein kulinarische Seite, die ihn mit Wohlgefallen erfüllt. Mindestens genauso fasziniert ihn das Theaterhafte, das jedes gepflegte Essen auszeichnet, die feine Balance zwischen Ritual und Ausgelassenheit: das Speisen im Restaurant gewissermaßen als Musterfall gelingender Gesellschaftlichkeit. Schon als Knabe hatte er immer ein wenig Geld zur Seite gelegt, um gelegentlich in ein vornehmes Restaurant zu gehen. Seine erste Lektion war damals der delikate Zusammenhang zwischen Regel und Freiheit. Als der Kellner ihm zum Nachtisch einen Apfel auf einem Teller mit Messer und Gabel servierte, nahm der junge Esterházy den Apfel in die Hand und biss zu: Solange man glaubwürdig ausstrahlt, man wisse um die Benimmregeln, darf man sie gerne und ohne Ansehensverlust missachten.
In „Harmonia Caelestis” heißt es: „Mein Name hat sich nicht (besonders) in mein Leben eingemischt. Er hat mich zwar ab und an berührt, aber er brachte mich nicht ins Stolpern und blendete mich auch nicht. Am ehesten gab er noch zu Anekdoten Anlass.” Nach der Vorspeise nähert sich uns ein älterer Herr. Mit stark schwäbischer Färbung bittet er um Entschuldigung. Er trägt eine kuriose Joppe mit einem schwarz-weiß karierten Hemd darunter, die ihm halb wie einen vornehmen Clowns, halb wie einen leicht geckenhaften Kirchenratsvorsitzenden aussehen lässt. Seit seinem 17. Lebensjahr, hebt er darauf an, sei er ein glühender Bewunderer - nun, nicht von Péter Esterházy, sondern von Joseph Haydn. „Er war damals der größte für mich”, sagt er. Und jetzt also einem echten Esterházy gegenüberzustehen („meine Frau hat sie erkannt”), das sei nun doch außerordentlich bewegend. Und es ist komischerweise, als sei die mäzenatische Generosität des Fürsten Esterházy selig für ihn, den wackeren Schwaben, noch heute fast bewunderungswürdiger als die musikalischen Werke selbst.
In „Harmonia Caelestis” gibt es eine Szene, in der der junge Erzähler während seiner Militärzeit beim Fußballspiel schikaniert wird, weil er sich angeblich zu fein ist, richtig hinzulangen. Man fragt ihn im Kommandoton: „Name?” Und der Ezähler gesteht, zum ersten Mal in seinem Leben das Bedürfnis gehabt zu haben, lieber anders zu heißen: „Kovács, Eich, sogar Zichy oder Schwarzenberg wäre angenehmer gewesen; es war ein merkwürdiges Gefühl, der Odem des Verrats streifte mich.”
Es ist kein Zufall, dass das Wort Verrat im Kontext des Namens des Vaters fällt. Als Péter Esterházy diese Szene schrieb, war die Welt noch in Ordnung. Der zweite Teil der „Harmonia Caelestis” ist eine wunderbare Hommage an seinen Vater, Mátyás Esterházy. Als der Sohn nach fast einem Jahrzehnt die Arbeit an „Harmonia Caelestis” abschließt, kommt für ihn, den Heiteren, der so viel Kraft aus der poetischen wie der realen Geborgenheit in seiner Familiengeschichte gezogen hatte, der wohl schwerste Schlag seines Lebens. Im Jahr 2000 gewährt ihm das „Amt für Geschichte”, die ungarische Gauck-Behörde, wenn man so will, Akteneinsicht: Esterházy will schauen, was für Dossiers die Staatssicherheit über ihn geführt hat. Doch er muss etwas anderes entdecken: „Ich wusste sofort, worum es sich handelte. Was ich sah, konnte ich nicht glauben. Ich legte rasch meine Hand auf den Tisch, weil sie zu zittern begann. Als ich das Dossier aufschlug, hatte ich die Handschrift meines Vaters erkannt.”
Fast drei Jahrzehnte hatte Mátyás Esterházy für die berüchtigte „Abteilung III/III” des ungarischen Geheimdienstes Spitzeldienste geleistet. Es gibt da wenig schön zu reden, niedrig und widerlich waren seine Berichte auch da, wo sie unbeholfen und wenig effektiv waren. Der geliebte Vater, dem der Sohn gerade ein literarisches Monument ohnegleichen errichtet hatte. Was war in dieser Situation zu tun? „Harmonia Caelestis” überarbeiten? Die Spitzeltätigkeit ins Werk aufnehmen? Aber es war doch ein Roman, der sich, wie Esterházy sagt, wenig um reale Väter kümmert! „Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt”, heißt der berühmte erste Satz des Buches. Esterházy beschloss, dass Buch, das Literatur ist, zu lassen, wie es war. Statt dessen schrieb er die „Verbesserte Ausgabe”, die auf herzzusammenziehende Weise von der schmerzhaften Lektüre der Spitzeldossiers seines Vaters erzählt. In diesen Notizen lesen wir: „Es wäre gut, es nicht sofort zu veröffentlichen. Meinem Vater ein wenig Lauf zu lassen, einen Vorsprung, vielleicht verlieben sich noch andere in ihn, sie sollen ihn noch in aller Welt ein bisschen lieben, bedauern, beweinen, achten. Er soll noch ein wenig Zeit haben. Und dann erst sollen sie ausspucken.” Diese Zeit dürften die Leser seinem Vater von Herzen gern gegeben haben.
IJOMA MANGOLD
Péter Esterházy
Foto: Regina Schmeken
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Über die Tücken der Dissidenz, der Literatur und der Restaurantkritik: Ein Besuch bei Péter Esterházy in Budapest
„Die weltliche Anerkennung”, sagt Péter Esterházy, während er den Telefonhörer einhängt, „ist doch etwas Schönes. Besonders dann, wenn man auch noch kurzfristig in seinem Lieblingsrestaurant einen Tisch bekommt.” Péter Esterházy isst gerne. So gerne, dass er mit Blick auf ein gutes Essen einen pragmatischen Zugang zur Vorstellungswelt des Ruhms gewinnen kann. Ruhm ist, denkt man sich, Esterházys Fröhlichkeit nach der erfolgreichen Platzreservierung vor Augen, wenn sich der Koch eines guten Restaurants freut, für einen kochen zu dürfen.
Dabei ist ein Wort wie Ruhm eigentlich zu klobig für einen Leichtigkeitsvirtuosen wie Esterházy. Obwohl andererseits die großen und auch die schweren Worte und Vorstellungswelten bei ihm durchaus eine Rolle spielen. Aber eben keine gewichtige. Sie haben in seinem Werk einen guten Auftritt, weil sie unter seiner Hand plötzlich tänzerisch werden, als hätten sie ihr althergebrachtes Gewicht, ihre traditionellen Epauletten sozusagen, abgelegt. Worte wie Männlichkeit, Stolz, Herr-Sein, Freiheit oder Niederlage, Feigheit, Demütigung und Verrat. Wollte man Péter Esterházy einen Satiriker nennen, so müsste man hinzufügen, dass er über die paradoxe Kunst verfügt, das Parodierte nicht abzustrafen und herunterzuziehen, sondern es im Gegenteil im Leichtigkeitsauftrieb seiner Ironie zu erhöhen.
Die Brille auf der Nase
Das gilt nicht nur für seine Bücher, sein ganzes Wesen besteht aus dieser adelnden Ironie, bei der Schalk und seelische Delikatesse zwei Seiten der selben Medaille sind. Als Péter Esterházy im vergangenen Herbst den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, hat er mit einer Handbewegung ein vollkommenes Bild seiner eigenen Person abgeliefert. Und dank des intuitiven Gespürs der Fotografen war er dann am nächsten Tag auch genau in dieser Pose in den meisten Zeitungen zu sehen.
Es war noch vor seiner Dankesrede, als der Vorsteher des Deutschen Börsenvereins, auf den in Sachen Gravitas und Pomp stets Verlass ist, mit staatsmännischem Aplomb die Preisurkunde zwischen sich und Esterházy in Stellung brachte und mit getragener Feierlichkeit den Blick des Schriftstellers suchte: Da schaute Esterházy, die Mundwinkel wie zu einem lautlosen Clowns-Oh verzogen, mit großen Augen zurück und rückte dabei seine leicht auf dem Nasenrücken nach vorne gerutschte Brille mit dem Zeigefinger wieder nach oben. „Hab ich irgendwas getan”, schien Esterházys Blick zu sagen - dabei verflog die steife Atmosphäre für alle spürbar auf einen Schlag, der in Wahrheit bloß ein leichtes Brillehochrücken gewesen war, und ein erleichtertes Lachen ging durch den Saal.
Esterházy zu beobachten, heißt, sich an der Kunst der Nuance zu erfreuen. Er beherrscht eine Form der Distanzierung, die nie respektlos ist. Dieser späteste Sprössling eines der ältesten Adelsgeschlechter Europas, dem einst halb Ungarn gehörte und das so manchen hochfahrenden Grafen hervorgebracht hat, hätte sein opus magnum, das Familienepos „Harmonia Caelestis”, das 400 Jahre Esterházy-Geschichte umfasst, nicht als diese beschwingte Liebeserklärung an seine Vorfahren schreiben können ohne eben diese Gabe der erhöhende Ironie.
In Péter Esterházys Haus in Buda hängen mancherlei Bilder aus der Ahnengalerie. Das frappierendste, weil einschüchterndste, ist fraglos eine Schwarzweißfotografie seines Großvaters Móricz, der zeitweilig ungarischer Ministerpräsident war. Der außenstehende Betrachter mag sich, besonders durch die Partie um die grimmigen Augenbrauen, an ein Porträt Wallensteins erinnert fühlen. So herrisch, gebieterisch und von unglaublichem Schneid geprägt ist der Anblick, dass man unwillkürlich an Jacob Burckhardts Formulierung von „unserem Knirpstum” denkt: „Größe ist, was wir nicht sind.” Aber das wäre die pathetisch-depressive Perspektive. In „Harmonia Caelestis” heißt es dagegen: „Mein Vater schaute auf niemanden herab, das war seine Art, ein Aristokrat zu sein. Großpapa schaute auf alle herab, das war seine. Und ich blinzle nur.”
Dieses Blinzeln ist die zugleich bewahrendste und freieste Form, sich gegenüber einem solchen Stammbaum zu verhalten. Und es ist dieses Blinzeln, das lebenspragmatisch die vier Esterházy-Brüder (einer davon übrigens ein Fußballer der ungarischen Nationalmannschaft) dazu bestimmte, nach 1989 von allen Restitutionsansprüchen auf ihre enteigneten Ländereien und Schlösser abzusehen. Ästhetisch ist es die Voraussetzung für eine poetische Aneignung der Familiengeschichte, die nichts von Gotha und Familiendünkel hat.
In einem weiteren Sinn betrifft dieses Blinzeln aber nicht nur Péter Esterházys Verhältnis zu seiner Familiengeschichte, sondern auch seine Rolle im sogenannten Gulaschkommunismus. 1950 geboren, studierter Mathematiker, hat man Esterházy seit seinem literarischen Debut „Fancsikó und Pinta” von 1976 einen Vertreter der Postmoderne genannt. Das leuchtet in gewisser Weise ein. Es handelt sich aber um eine spezifisch osteuropäische Postmoderne unter den Bedingungen einer kommunistischen Diktatur. Sie war wesentlich politischer als ihr westliches Pedant, und ihr sprachlicher Spielcharakter war voll existentiellen Ernstes, weil das ästhetische Virtuosentum ein riskanter antiideologischer Gestus war: Heiterkeit als Mittel, sich der Verfügbarkeit zu entziehen.
Was Esterházy in der Zeit des Eisernen Vorhangs entwickelte, war eine Form der Dissidenz, die weniger auf den moralischen Appell und mehr auf die ästhetische Alertheit setzte. Das unterschied ihn - und unterscheidet ihn bis heute - deutlich von jenem anderen mitteleuropäischen Dissidententypus der Václav Havels und György Konráds, die sich mehr durch die Getragenheit ihres Timbres zu erkennen gaben.
Wenigem misstraut Esterházy vermutlich mehr als der moralisch-normativen Rhetorik. Deren traditionelle Heimstatt ist die alljährliche Verleihung des Friedenspreises in der Frankfurter Paulskirche. Václav Havel und György Konrád haben ihn beide längst bekommen. Aber Péter Esterházy? Wie sollte das gehen, ohne schief zu klingen? Aber auch hier rettete ihn sein Blinzeln, sein postmoderner, zitierender Umgang mit den Worten. In diesem Falle denen der Verleihungsurkunde. „Deutsche Preisverleihungen”, sprach er, „führen die Preisträger in Versuchung, sich selbst so zu sehen, wie sie in der Preisbegründung beschrieben werden. Sag nur, mein lieber guter Vater, sagt mir neulich mein 17-jähriger Sohn, na so was!, hast du wirklich nicht nur deine Heimat (Ungarn) in der Mitte Europas, sondern Europa in der Mitte der Literatur neu situiert? Er spricht mit mir wie ein strenger Vater. Schon gut, sagt er, aber das soll nicht noch einmal vorkommen, ich will nicht wieder hören, dass du der europäischen Depression einen Kontrapunkt gesetzt hast.”
Während wir in einem Taxi durch das winterliche Budapest zu seinem Lieblingsrestaurant fahren, sagt Esterházy: „Ich bin sehr weit von Havel entfernt. Natürlich habe ich für ihn unterschrieben. Aber ich hatte immer gehofft, dass er vom Hradschin zum Schreibtisch zurückkehrt. Er ist nie zurückgekommen. Nun, auch kein Drama.” Und dann erzählt er von den Jahren vor 1989. Es war, sagt er, alles Lüge, das schon, aber die gefährlichste Versuchung sei gewesen, sich irgendwann mitten in dieser Lüge als Gral, als einzig rein und wahr, zu sehen. Doch das gibt es nicht.
Die Diktatur, sagt er, sei ja selbst schon eine postmoderne Fiktion gewesen: „Wie oft war ich in einer Situation, wo ich mir sagte: Wenn ich ein normaler Mensch wäre, würde ich jetzt brüllen. Und was machte ich darauf? Ich brüllte, klar. Aber so ist nicht Brüllen. Es gibt kein reflexives Brüllen. Entweder man brüllt oder man brüllt nicht.” In einem seiner Bücher, in denen die Bespitzelung ein wichtiges Motiv ist, heißt es: „Die osteuropäische Paranoia ist, dass jemand unter Verfolgungswahn leidet, weil man ihn verfolgt.” Da erscheint rechts, auf der anderen Seite der Donau, aus dem dunklen Nachthimmel plötzlich die hellerleuchtete Burg, ein hinreißender Anblick, und Esterházy wirft entzückt die Arme in die Luft. Und fügt dem Gesagten hinzu: „Wer sich vor 1989 zu sehr auf die Dissidentenrolle festgelegt hatte, für den ging mit dem Fall des Eisernen Vorhangs etwas zu Ende. Das war nicht immer einfach. Mir erscheint mein Leben aber immer eher als Einheit.”
Der wackere Schwaben
Schließlich erreichen wir das Restaurant. Unter sehr würdevollen Herzereien geleitet uns der Kellner zum Tisch und serviert erstmal zwei sehr scharfe Schnäpse - eine ungarische Eigenart, die wohl von der optimistischen Annahme ausgeht, dass sich die Geschmacksnerven rasch genug erholen werden, um die bevorstehenden Leckereien weiter würdigen zu können. Esterházy redet gerne über Essen. Und es ist ein nicht geringeres Vergnügen, ihn essen zu sehen.
Er hat in den neunziger Jahren längere Zeit - zum Vergnügen, aber mit großer Ernsthaftigkeit - als Restaurantkritiker gearbeitet. Aber es ist nicht nur die rein kulinarische Seite, die ihn mit Wohlgefallen erfüllt. Mindestens genauso fasziniert ihn das Theaterhafte, das jedes gepflegte Essen auszeichnet, die feine Balance zwischen Ritual und Ausgelassenheit: das Speisen im Restaurant gewissermaßen als Musterfall gelingender Gesellschaftlichkeit. Schon als Knabe hatte er immer ein wenig Geld zur Seite gelegt, um gelegentlich in ein vornehmes Restaurant zu gehen. Seine erste Lektion war damals der delikate Zusammenhang zwischen Regel und Freiheit. Als der Kellner ihm zum Nachtisch einen Apfel auf einem Teller mit Messer und Gabel servierte, nahm der junge Esterházy den Apfel in die Hand und biss zu: Solange man glaubwürdig ausstrahlt, man wisse um die Benimmregeln, darf man sie gerne und ohne Ansehensverlust missachten.
In „Harmonia Caelestis” heißt es: „Mein Name hat sich nicht (besonders) in mein Leben eingemischt. Er hat mich zwar ab und an berührt, aber er brachte mich nicht ins Stolpern und blendete mich auch nicht. Am ehesten gab er noch zu Anekdoten Anlass.” Nach der Vorspeise nähert sich uns ein älterer Herr. Mit stark schwäbischer Färbung bittet er um Entschuldigung. Er trägt eine kuriose Joppe mit einem schwarz-weiß karierten Hemd darunter, die ihm halb wie einen vornehmen Clowns, halb wie einen leicht geckenhaften Kirchenratsvorsitzenden aussehen lässt. Seit seinem 17. Lebensjahr, hebt er darauf an, sei er ein glühender Bewunderer - nun, nicht von Péter Esterházy, sondern von Joseph Haydn. „Er war damals der größte für mich”, sagt er. Und jetzt also einem echten Esterházy gegenüberzustehen („meine Frau hat sie erkannt”), das sei nun doch außerordentlich bewegend. Und es ist komischerweise, als sei die mäzenatische Generosität des Fürsten Esterházy selig für ihn, den wackeren Schwaben, noch heute fast bewunderungswürdiger als die musikalischen Werke selbst.
In „Harmonia Caelestis” gibt es eine Szene, in der der junge Erzähler während seiner Militärzeit beim Fußballspiel schikaniert wird, weil er sich angeblich zu fein ist, richtig hinzulangen. Man fragt ihn im Kommandoton: „Name?” Und der Ezähler gesteht, zum ersten Mal in seinem Leben das Bedürfnis gehabt zu haben, lieber anders zu heißen: „Kovács, Eich, sogar Zichy oder Schwarzenberg wäre angenehmer gewesen; es war ein merkwürdiges Gefühl, der Odem des Verrats streifte mich.”
Es ist kein Zufall, dass das Wort Verrat im Kontext des Namens des Vaters fällt. Als Péter Esterházy diese Szene schrieb, war die Welt noch in Ordnung. Der zweite Teil der „Harmonia Caelestis” ist eine wunderbare Hommage an seinen Vater, Mátyás Esterházy. Als der Sohn nach fast einem Jahrzehnt die Arbeit an „Harmonia Caelestis” abschließt, kommt für ihn, den Heiteren, der so viel Kraft aus der poetischen wie der realen Geborgenheit in seiner Familiengeschichte gezogen hatte, der wohl schwerste Schlag seines Lebens. Im Jahr 2000 gewährt ihm das „Amt für Geschichte”, die ungarische Gauck-Behörde, wenn man so will, Akteneinsicht: Esterházy will schauen, was für Dossiers die Staatssicherheit über ihn geführt hat. Doch er muss etwas anderes entdecken: „Ich wusste sofort, worum es sich handelte. Was ich sah, konnte ich nicht glauben. Ich legte rasch meine Hand auf den Tisch, weil sie zu zittern begann. Als ich das Dossier aufschlug, hatte ich die Handschrift meines Vaters erkannt.”
Fast drei Jahrzehnte hatte Mátyás Esterházy für die berüchtigte „Abteilung III/III” des ungarischen Geheimdienstes Spitzeldienste geleistet. Es gibt da wenig schön zu reden, niedrig und widerlich waren seine Berichte auch da, wo sie unbeholfen und wenig effektiv waren. Der geliebte Vater, dem der Sohn gerade ein literarisches Monument ohnegleichen errichtet hatte. Was war in dieser Situation zu tun? „Harmonia Caelestis” überarbeiten? Die Spitzeltätigkeit ins Werk aufnehmen? Aber es war doch ein Roman, der sich, wie Esterházy sagt, wenig um reale Väter kümmert! „Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt”, heißt der berühmte erste Satz des Buches. Esterházy beschloss, dass Buch, das Literatur ist, zu lassen, wie es war. Statt dessen schrieb er die „Verbesserte Ausgabe”, die auf herzzusammenziehende Weise von der schmerzhaften Lektüre der Spitzeldossiers seines Vaters erzählt. In diesen Notizen lesen wir: „Es wäre gut, es nicht sofort zu veröffentlichen. Meinem Vater ein wenig Lauf zu lassen, einen Vorsprung, vielleicht verlieben sich noch andere in ihn, sie sollen ihn noch in aller Welt ein bisschen lieben, bedauern, beweinen, achten. Er soll noch ein wenig Zeit haben. Und dann erst sollen sie ausspucken.” Diese Zeit dürften die Leser seinem Vater von Herzen gern gegeben haben.
IJOMA MANGOLD
Péter Esterházy
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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